Norwegen:Die coole Arktis

Spitzbergen war seit seiner Entdeckung ein Ort, an dem vor allem Trapper und Minenarbeiter lebten. Jetzt übernehmen die Touristen.

Von Monika Maier-Albang

Es ist erst ein paar Tage her, dass die Welt sich aus der Dunkelheit erhoben hat, eine Welt, die nun in Pastell neu geboren erscheint. Drei Monate hat der Winter gedauert. Jetzt ist die Sonne zurück, die beschneiten Berge sind blau in vielerlei Schattierungen, unten in Rendalen, im Rentier-Tal, spiegelt sich ein rosafarbener Himmel auf dem Eiswasser und wird zu Lila. Ein kalter Nebel senkt sich ins Tal, bleibt eine Stunde, löst sich dann urplötzlich auf und gibt im weichen arktischen Licht den Blick auf eine Bucht frei, in der runde Eisschollen treiben. "Pfannkucheneis", sagt Kristin Eriksson. Und man versteht in diesem Moment, warum die 22-jährige Schwedin, wie so viele andere junge Leute, beschlossen hat, hier am Ende der Welt in der Kälte zu leben.

Spitzbergen ist, auch wenn das Wort angesichts der momentan zweistelligen Minusgrade dort etwas unpassend erscheinen mag, ein Schmelztiegel. Im Januar hatten sie eine Völkerzählung, die ergab 53 Nationen, allein in der Hauptsiedlung Longyearbyen. 1448 Norweger leben demnach derzeit dort, der Rest - etwa 776 Menschen - kommt von überall her, selbst Iran ist vertreten. Norwegen hat zwar die Souveränität über den Archipel Spitzbergen, doch in das vormals staatenlose Gebiet darf jeder ziehen, der Arbeit findet. Und Arbeit gibt es - wenn auch kaum noch im Kohleabbau, der Spitzbergen seit Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt hatte. Arbeit findet man heute im Tourismusgewerbe und dem, was es mit sich bringt. Zahlreiche Restaurants und Hotels haben sich in den vergangenen Jahren in der nördlichsten Stadt der Welt angesiedelt. Acht Outdoor-Ausstatter gibt es mittlerweile in Longyearbyen; dort freut man sich über Gäste, die ein paar Tage im Ort bleiben - und Geld dalassen. Anders, als es die meisten Kreuzfahrt-Gäste tun, die sich nur für Stunden ins Dorf ergießen und dann weiterziehen.

Für Norweger ist das Leben hier günstig, die Steuern sind nur halb so hoch wie auf dem Festland. Doch das, sagt Kristin Eriksson, sei nicht das, was sie angezogen habe. "Der Ort vibriert." Diese Internationalität, die Leute meist zwischen 20 und 40, alles Outdoor-Freaks. Die einen lieben die Huskies, die sie auch in ihrer Freizeit vor den Schlitten spannen. Die anderen ihre Snowboards, die sie auf die Berge tragen, um dann unverspurte Hänge hinabzugleiten. Mitte Februar, am ersten Tag, an dem die Sonne wieder die Bergspitzen erreichte, sei sie auf einen Gipfel hinauf, erzählt Eriksson. Zuerst mit dem Scooter 800 Meter hoch, dann eine Stunde Aufstieg, mit vier Lagen Unterwäsche. "Anstrengend." Aber dann: "Wir waren gerade fünf Minuten oben, dann kam das Licht. Unbeschreiblich schön."

Im Chor der Kumpel singen jetzt Geologiestudenten, der Koch serviert Wachteleier

Das Leben in Longyearbyen hat sich gewandelt in den vergangenen drei, vier Jahren. Von den sieben Minen rund um die Stadt ist nur noch "Mine 7" in Betrieb. Im Kumpel-Chor der Minenbaugesellschaft Store Norske singen jetzt Mitarbeiter der Telefongesellschaft und Geologiestudenten. Unter denen, die schon länger da sind, sorgen sich nicht wenige, dass die Stadt ihren dörflichen Charakter einbüßt. Wer hier sein Handy verliert, hat gute Chancen, es am nächsten Morgen wiederzubekommen über die "Lost and found"-Facebook-Gruppe der Stadt. Bislang lässt hier auch jeder seine Haustür offen - nicht nur, damit man sich jederzeit vor Eisbären in Sicherheit bringen kann, die ab und zu durch den Ort streifen. Sondern auch, weil es zum Lebensgefühl gehört. Doch die ersten Geschichten kursieren schon von Touristen, die morgens betrunken auf dem Sofa gefunden wurden. Oder von der Gruppe chinesischer Gäste, die eine Frau im Morgenmantel in der Küche überraschte - und erst mal Fotos von ihr gemacht haben soll.

Nur ist das Leben hier für die Jungen halt auch cool. Das Gewehr zu schultern, wenn man mit den Gästen rausgeht, macht sich auf dem Foto für die Familie daheim schon gut - benutzt wird die Waffe ja eh so gut wie nie. Im unwahrscheinlichen Fall, dass die Gruppe einem Eisbären begegnet, sind die Guides gehalten, ihn mit Lärm und Warnfeuer zu vertreiben. Die Kneipen-Dichte ist ausreichend, im Supermarkt gibt's dank fast täglicher Flugverbindungen nach Tromsø frisches Basilikum zu den Tomaten, in den Cafés Joghurt mit Quinoa und im Restaurant der gerade neu eröffneten Funken Lodge serviert der Küchenchef neben arktischer Seespinne und Rentier auch Wagyū-Rind und Wachteleier. Auf Wlan muss ohnehin niemand verzichten. Es ist selbst noch zehn Kilometer außerhalb der Stadt, inmitten einer baumlosen Unendlichkeit, schneller als hinter Traunstein in Oberbayern.

Geschaffen haben diese Infrastruktur all die Minenbaugesellschaften und Forschungseinrichtungen, die auf Spitzbergen siedeln. Bislang war der Tourismus mehr Nutznießer als Motor der Entwicklung. Doch gerade verschiebt sich das Kräfteverhältnis. 2015 hatten die Einwohner des Archipels zum ersten Mal mehr mit Tourismus verdient als mit dem Abbau von Kohle. Eine Armada an Scootern steht in Longyearbyen bereit, 650 Gäste-Hunde soll es mittlerweile geben. Und 923 Gästebetten - Airbnb nicht mitgezählt. Die Zahl der registrierten Übernachtungen stieg von rund 41 000 im Jahr 2008 auf knapp 60 000 im vergangenen Jahr. Immer mehr Bewohner vermieten privat, erzählen die Guides, weshalb es für sie zunehmend schwierig werde, ein Zimmer zu finden. Zumal die Stadt sich anschickt, schick zu werden. In der Funken Lodge, dem früheren Spitsbergen-Hotel, das die Hurtigruten-Gruppe gerade für vier Millionen Euro renovieren hat lassen und in dem früher das mittlere Minen-Management, die "Funktionæren", gewohnt haben, kann man auf dem Sofa vor künstlichem Feuer sitzen und auf die Stadt am Fjord blicken. Von den Wänden blicken Minenarbeiter mit geschwärzten Gesichtern und Kippe in der Hand zurück, Relikte der Vergangenheit, Deko für Arktis-Anfänger.

Wer etwas tiefer in dieses Land einsteigen will, sollte nach Svea fahren. Weil schon die Fahrt dorthin ein Erlebnis ist. Und der Ort noch jene Geschichte erzählt, die Spitzbergen gerade verliert. Svea ist, seit 1917, eine Kohlebergbausiedlung; die Grube Svea Nord war bis zur Schließung 2016 die größte aktive Kohlegrube auf Spitzbergen. 2017 durften hier erstmals Touristen übernachten. Man schläft in den verlassenen Apartments der Arbeiter - ein kleiner Vorraum mit Sofa, ein Bett im Nebenraum, eine Dusche mit Linoleumboden. "Erste Regel: Schuhe aus, Hände waschen!", sagt Mattias Thyberg, einer der jungen Guides, die nun auch in Svea Arbeit gefunden haben. Im Vorjahr hatten Gäste einen fiesen Magen-Darm-Virus eingeschleppt. Vielleicht halten die Arbeiter am Buffet in der Kantine, in der man sein Geschirr selbst abräumt, deshalb Abstand. Freundlich lächelnd allerdings. Der erste Tisch ist für sie reserviert - früher waren die Pausen kurz. Es gibt eine Bar, erbaut aus Paletten, mit Bier und ausgestopftem Eisbären in einer Vitrine. Wer danach zum Zimmer aufbricht, sieht mit etwas Glück ein himmelfüllendes Nordlicht.

Reiseinformationen

Anreise: z. B. mit Lufthansa von München nach Oslo, weiter mit SAS über Tromsø nach Longyearbyen, hin und zurück ca. 400 Euro.

Übernachtung: z. B. in der Funken Lodge, die zur Hurtigruten-Gruppe gehört. Übernachtung im DZ inkl. Frühstück ab 124 Euro pro Person, www.hurtigrutensvalbard.com. Über diese Adresse findet sich auch die zweitägige Exkursion zur Mine Svea (unter Expeditioen); sie ist ohne Guide nicht zu erreichen.

Weitere Auskünfte: Allgemeines zu Spitzbergen über das Portal www.visitnorway.de. Einen Überblick über die Geografie von Spitzbergen bietet www.toposvalbard.npolar.no. Wer wissen möchte, wo mit hoher Wahrscheinlichkeit Nordlichter zu sehen sind, für den empfiehlt sich die Seite www.swpc.noaa.gov.

25 Menschen arbeiten noch in Svea, um die Straßen schneefrei und den Flughafen in Betrieb zu halten. In naher Zukunft sollen alle Häuser abgebaut werden; die Verwaltung von Svalbard, wie die Inselgruppe auf Norwegisch heißt, möchte keine Geisterstätte entstehen lassen, die gibt es hier schon. In Colesbukta, der Kohle-Bucht, auf halber Strecke zwischen Longyearbyen und der russischen Siedlung Barentsburg, stehen nur noch halb verfallene Gebäude. Barentsburg selbst ist noch eine Arbeiter-Stadt, aber auch hier gibt es ein Hotel und russische Gäste, die mit Scootern Ausflüge durchs Schiefertal unternehmen, über den windumtosten Slakbreen-Gletscher, hinauf auf Høganes, mit weitem Blick über Bergspitzen, die die Sonne rosa färbt.

Über den Gletscher am Høganes haben sie eine Steintrasse gebaut. Und da nun links und rechts vom Weg der Gletscher schmilzt, sollte man hier sein Schneemobil gut im Griff haben. Dann fällt die Piste steil ab zur Küste. Über das holprige Packeis kommt man zur Siedlung Svea. Dreieinhalb Stunden dauert die Fahrt, wenn man direkt nach Longyearbyen fährt. Die Arbeiter nehmen den Flieger, dann sind es zwölf Minuten bis in die Stadt, noch einmal zehn mit dem Auto zur Coal Miners' Bar, wo sie Paprika überm Grill rösten. Und den Salat mit Sprossen servieren. Die züchten sie jetzt hier, im Gewächshaus, weil der Mensch macht, was er machen kann.

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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