Süddeutsche Zeitung

Nordsee-Insel Wangerooge:Seepferdchen im Wattenmeer

Lesezeit: 4 min

Ein Tag am Strand der kleinen ostfriesischen Insel Wangerooge ist wunderbar: Das finden manchmal zu viele Leute. Am schönsten und einsamsten ist das Eiland im Osten kurz vor Sonnenuntergang.

Aus der Luft sieht Wangerooge aus wie ein Seepferdchen: Der Kopf ist im Westen, dort legen die Fähren an, der Schwanz im Osten, wo keine Häuser mehr stehen und die Dünenlandschaft fast unberührt ist. Von den sieben bewohnten ostfriesischen Inseln liegt Wangerooge am weitesten im Osten.

Vom westlichsten Punkt bis zum östlichsten sind es nicht einmal zehn Kilometer. Und vom Wattenmeer im Süden bis zum Strand an der Nordseite läuft man zehn Minuten, ohne sich anstrengen zu müssen. Und das soll man auf Wangerooge auch gar nicht.

"Gott schuf die Zeit, von Eile hat er nichts gesagt", ist seit Jahren am Schiffsanleger zu lesen. Autos gibt es auf der Insel in der Nordsee nicht und es vermisst sie auch niemand. Hektisch wird es in der Zedeliusstraße - Wangerooges wichtigster Verkehrsader - allenfalls, wenn sich zu den Stoßzeiten Buggys, Bollerwagen und Badegäste auf dem Weg zum Strand machen.

Im Sommer wird es auf Wangerooge eng: In der Hauptsaison sind sehr viel mehr Touristen als Einwohner hier. Wer den Tag ruhig ausklingen lassen will, bleibt einfach im Strandkorb sitzen. Allerdings ist immer irgendetwas los, für das sich Ruhesuchende wieder aus dem Strandkorb erheben: Im Kleinen Kursaal zum Beispiel, hier werden Filme wie "Abenteuer Inselleben" gezeigt - kein Blockbuster, aber mit Liebe gedreht.

Oder nebenan auf dem "Oberdeck", wo "De Wangeroogers" den Saal rocken, einer von gleich zwei Shanty-Chören der Insel. Ihr Leiter Klaus Brüggerhoff ist ein Tausendsassa, der wenige Tage später auch beim Theater in der Inselschule auf der Bühne steht.

Tagsüber zieht es die meisten Inselgäste an den Strand an der Nordseite. Im Winter spielen ihm Sturmfluten regelmäßig übel mit, im Frühjahr bringt ihn die Kurverwaltung mit Sand aus dem Inselosten wieder in Form. Und im Sommer reiht sich vor der Kurpromenade ein Strandkorb an den anderen.

In der Hauptsaison ist es bei gutem Wetter praktisch aussichtslos, noch einen abzubekommen, ohne reserviert zu haben. Bei entsprechendem Wind kann die Brandung ganz schön kräftig sein - vielen Gästen macht das Baden dann umso mehr Spaß.

Aber wer die ganze Zeit nur am Strand verbringt, verpasst, was Wangerooge noch zu bieten hat. Mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Westturm durchquert man die ungewöhnliche Heidelandschaft hinter dem Inseldorf. Zahlreiche kreisrunde Bombentrichter erinnern daran, dass die kleine Insel kurz vor Kriegsende Ziel eines heftigen Angriffs war, der auch das Dorf schwer getroffen hat.

Ein Radweg führt auf dem Deich entlang mit Blick über die Salzwiesen aufs Wattenmeer. Bei Ebbe sind dort regelmäßig Gruppen unterwegs, die mit Friedrich-Wilhelm Petrus durch den Schlick stapfen. Petrus, weißer Spitzbart im braun gebrannten Gesicht, ist der dienstälteste Wattführer der Insel und kennt jeden Wattwurm zwischen Neuharlingersiel und Wangerooger Fähranleger.

Eben hat er die Hand lässig auf seine Grabegabel gestützt und lässt den Blick über die Gruppe gleiten, die er zweieinhalb Stunden lang begleitet: 35 Landratten, von denen einige das erste Mal an der Nordsee sind und einen Austernfischer nicht von einem Alpenstrandläufer unterscheiden können. So eine Gelegenheit lässt sich der Inselkenner nicht entgehen und erklärt unterwegs, wie Ebbe und Flut entstehen, wie sich Herzmuscheln verblüffend schnell im Wattboden eingraben, wie der Wattwurm Sand ausscheidet und wie sich Miesmuscheln vor der Strömung schützen.

Auch Führungen über die Insel gibt es regelmäßig, den Dorfbummel zum Beispiel, bei dem alteingesessene Wangerooger ihre liebsten Ecken zeigen, Spülsaumtouren für die ganz kleinen Gäste, solche für Vogelfreaks und für Bunkerfans, für Frühaufsteher und Nachteulen.

Wer Wangerooge ganz anders erleben will, muss sich in den Osten der Insel aufmachen. Die Strandpromenade ist dort lange zu Ende, keine Strandkörbe sind mehr zu sehen, keine Eisverkäufer, keine Volleyballspieler. Spaziergänger sind manchmal ganz für sich allein zwischen den Dünen.

Für manche Besucher ist Wangerooge hier am schönsten, gerade am Abend, wenn es noch ruhiger wird.

Wer sich allein nicht traut, abends das Inseldorf hinter sich zu lassen, kann sich den Mitarbeitern des Nationalparkhauses anschließen. Sie bieten im Sommer regelmäßig Exkursionen an die Ostspitze an, die vier Stunden dauern oder auch mal etwas länger. Dabei geht es mit dem Fahrrad bis zur östlichen Station der Vogelschützer beim "Café Neudeich" und dann zu Fuß weiter auf der Wattseite.

Gleich am Anfang ist eine Sumpfohreule zu sehen, die im Tiefflug über die Salzwiesen gleitet. Diese Wiesen zwischen Küste und Dünen werden regelmäßig vom Nordseewasser überspült - was hier wächst, darf damit keine Probleme haben. So wie der Queller, auch Ostfriesische Salzstange genannt - die grünen Stängel speichern das Salz aus dem Seewasser.

Vor Erreichen der Ostspitze ragen merkwürdige Holzpfähle aus dem Boden. Es sind Überreste des Ostanlegers, der bis Ende der 1950er Jahre genutzt wurde, bevor der Hafen hier versandete. Und eines Schullandheims, das bis dahin problemlos mit dem Schiff zu erreichen war, dann aber abgerissen wurde, nachdem der Anleger in den Westen umziehen musste.

Über den Dünen steht inzwischen ein fast voller, blasser Mond. Es dämmert längst, als die Gruppe die Ostspitze umrundet und auf die Vogelinsel Mellum blickt, die direkt vor Wangerooge liegt. Ein Austernfischerpärchen zetert ein paar Meter entfernt.

In weiterer Entfernung hocken scharenweise Möwen auf dem Boden, vielleicht hundert oder mehr. Bald sind nicht einmal mehr Vögel zu sehen. Nur noch Dünen und Strand und die Nordsee. "Das Meer ist die anschauliche Gegenwart des Unendlichen" hat der Philosoph Karl Jaspers mal formuliert, der aus dem nahen Oldenburg stammt. Klingt nicht verkehrt.

Die rote Sonne versinkt langsam am Horizont, wo Strand und See sich berühren. Man blinzelt einmal - und schon ist sie weg. Die Luft ist noch mild, und eine Zeit lang herrscht Schweigen. "Es gibt Leute, die fahren dafür in die Karibik", sagt jemand. "Ja, stimmt", antwortet ein anderer. "Was für ein Schwachsinn."

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dpa/Andreas Heimann
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