Serie "Reisen ohne Flug":Durchs Radparadies Niederlande

Fahrrad-Urlaub in den Niederlanden

Immer auf dem Deich entlang: Für Fahrradfahrer bieten die Niederlande paradiesische Bedingungen, wie hier bei Breskens. Und vielerorts finden sich freundliche Gastgeber.

(Foto: imago images / alimdi)

Besser als Airbnb: In den Niederlanden können Urlauber für wenig Geld in mehr als 6000 Privathaushalten übernachten - aber nur, wenn sie mit dem Rad reisen.

Von Astrid Möslinger

In Eindhoven, unserer ersten Großstadt, bestätigen sich die Voraussagen eines Freundes: "Man muss ein bisschen aufpassen. Die Radfahrer kommen aus allen Richtungen. Und sie sind schnell." Tatsächlich schießen die Einheimischen auf den zahlreichen Radwegen an uns vorbei: Grüne Welle. Nein, grüne Wellen! Wir sind erschöpft und noch an das ländliche Tempo der Umgebung gewöhnt. Am späten Nachmittag ist immer noch unklar, wo wir übernachten werden. Sechs erfolglose Anrufe. Wie konnte man bloß auf die blöde Idee kommen, sich auf eine Graswurzelorganisation zu verlassen? Die Hotels hier sind teuer und hässlich. Verzweiflung macht sich breit. Doch dann summt das Handy. Ob wir schon etwas gefunden haben, fragt eine freundliche Stimme. Nein? Ob wir Paella mitessen wollen?

Zwanzig Minuten später stehen wir in einer beige-grauen Reihenhaussiedlung. Ein Vorgarten mit wild wuchernden Pflanzen. Das muss es sein - einer von mehr als 6000 gelben Punkten, mit denen alle Unterkünfte der "Vrienden op de Fiets" (Fahrradfreunde) auf der Hollandkarte markiert sind. Sie finden sich selbst dort, wo es kein Hotel mehr gibt. Und jeder kann Teil dieser Idee werden. Es genügt, vor dem Urlaub zehn Euro zu überweisen, und wenig später kommen der ein Jahr lang gültige Klubausweis und das Adressenverzeichnis ins Haus. Die Investition lohnt sich. Egal, bei welchem Fahrradfreund man übernachtet, zum Abschied zahlt man nie mehr als 22,50 Euro pro Person inklusive Frühstück. Eine Summe, die ein gehobenes Hotel schon für das Frühstücksbüffet verlangt. Die einzige Bedingung: Man muss zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sein.

Ricardo Burke öffnet lächelnd die Tür. Er stammt aus Suriname und spricht deutsch, eine lange Geschichte. Das Innere des Hauses wirkt wie ein Akt stiller Rebellion, ein Kontrast zu den ordentlichen niederländischen Vorstädten. Auf der einen Sofaseite meditiert ein Buddha, auf der anderen faltet eine lebensgroße Madonnenskulptur ihre Hände. Als Sandra Leemans, die Eigentümerin, heimkommt, verteidigt sie den Stilmix: "Das ist meine Villa Kunterbunt." Die Frau ist unkonventionell, das sieht man ihr an. Die Paella wird im Gartendschungel serviert. Beim Wein erzählen wir uns die halben Leben. Ricardo zieht sich in die Gartenlaube zurück, um für den Auftritt seiner Reggae-Band zu üben.

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Serie "Reisen ohne Flug"

Statt voller Flugscham um nicht gemachte Fernreisen zu trauern, stellt die SZ in dieser Serie Alternativen vor. Die Artikel erscheinen in loser Folge auf sz.de/reise sowie im Reiseteil in der Süddeutschen Zeitung, alle veröffentlichten Beiträge finden Sie hier auf der Themenseite.

Hier schimmert er noch durch, der alternative Geist der Achtzigerjahre. Damals schaltete die Gründerin der Fahrradfreunde, Nel de Blécourt, ein Zeitungsinserat: "Wer möchte ein leeres Zimmer einem Radtouristen überlassen?" Spontan meldeten sich fast 100 Menschen. Heute ist das Verzeichnis mit den Adressen und Telefonnummern aller Gastgeber ein dickes Buch. Will man ein Bett für die Nacht reservieren, muss man anrufen. Klingt altmodisch. Hat aber auch Vorteile.

Im Touristenstädtchen Domburg erzählt unsere Zimmerwirtin Boukje van der Hoest, wie sie gerade einen Anrufer abblitzen lassen musste. "Als er damit herausrückte, dass er drei Tage bleiben will, habe ich geantwortet, dass das nicht geht. Da wurde er wütend." Er wäre wohl noch wütender gewesen, wenn er gewusst hätte, was er verpasst. Die Villa mit Holzböden, großen Fenstern und weitläufigen Räumen ist ein Ort der Ruhe und Harmonie. An den Wänden hängt abstrakte Kunst. Die Mittsechzigerin ist selbst Künstlerin und Kuratorin. Sie organisiert ein Festival, zu dem Maler aus ganz Europa kommen, auf der Suche nach dem eisblauen Licht der Walcheren, wie diese Küstenregion heißt. Von der Idee des Übernachtungsnetzwerks ist van der Hoest begeistert. In ein paar Tagen wird sie selbst mit dem Rad unterwegs sein und sich bei einem Gastgeber der Organisation einmieten. "Es ist eine Möglichkeit, völlig unterschiedliche Leute kennenzulernen." Am nächsten Morgen ist das Frühstück auf einem langen Holztisch gedeckt. Im Hintergrund ein leises Klavier.

Auch wenn es so erscheint, mit Airbnb hat das Ganze nichts zu tun. Während die kalifornische Plattform ein touristisches Geschäftsmodell ist, schlagen die Fahrradfreunde kaum Profit aus der Offerte. "Unsere Gastgeber machen das aus Großzügigkeit", heißt es in der Broschüre. Es gehe um einen Freundschaftsdienst für eine klar definierte Zielgruppe. Manchmal, so erzählt ein Vermieter in der Provinz Limburg, kämen Leute in dicken Autos vorgefahren und böten für sein Zimmer das Doppelte. "Aber um Geld geht es nicht", sagt er.

Trotzdem ist der Besucher ein Tourist und nicht jemand, der sich für kurze Zeit im Leben der Einheimischen einnistet. Ob man gemeinsam eine Flasche Wein trinkt oder nur eine Nacht im ausgebauten Dachgeschoss schläft, hängt von der Chemie zwischen Gästen und Gastgebern ab. In Domburg vertraut die Vermieterin uns sogar den Hausschlüssel an. Bei einem Ehepaar in Nederweert ist die Tür offen, bis es dunkel wird. Danach muss man klingeln. Obwohl die Organisation gewisse Standards vorschreibt, gleicht keine Unterkunft der anderen. An einem Tag steht man vor einer edlen Villa, am nächsten findet man sich in einer Etagendusche wieder, die an die Zeit erinnert, als die Küstenstädtchen noch nicht von modernen Ferienhäusern umgeben waren. Auch die Bandbreite der menschlichen Begegnungen ist groß. Wer mit dieser Klubkarte reist, sollte offen sein für Überraschungen.

Das Radwegenetz - wie ein Wunder

Natürlich ist da auch noch das Radfahren. Hinter Domburg beginnt der schönste Teil der 1300 Kilometer langen "Radrunde Niederlande", von der man natürlich auch nur Teilstrecken fahren kann. Der Radweg kurvt um Dünen und streift belebte Seebäder. Am Strand die berühmten Hütten, in Gelb, Türkis, mit rot-weißen Linien. Der Wind föhnt das Dünengras zu grünen Wellen. Dann kommt ein Highlight: die Deltawerke - ein mächtiges Schleusensystem, das die Zeeland-Inseln vor Flutwellen und Hochwasser schützt. Auf eigenen Fahrspuren rollen Radfahrer und Mopeds hinüber zur nächsten Landspitze. Mit Rückenwind übers Meer, fast ohne zu treten.

Das niederländische Radwegenetz ist wie ein Wunder. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es so viele Pfade, die allein für Fahrräder reserviert sind - sogar Kreisverkehre. Diese Infrastruktur wurde von langer Hand geplant. Der erste Radweg entstand schon Anfang des 20. Jahrhunderts. Mit einem Masterplan schob der Staat von 1990 bis 1997 die ökologische Mobilität weiter an. Heute werden 30 Prozent aller Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt, in Deutschland sind es nur elf Prozent. Das Fahrrad ist in den Niederlanden ein nationales Kulturgut. Die Kommunen investieren dafür jedes Jahr rund 33 Euro pro Einwohner und damit laut dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) sechsmal so viel wie in Deutschland. Utrecht bringt es sogar auf 130 Euro. Die Bankenmetropole Frankfurt hingegen liegt bei vier Euro. Bei den meisten Straßenbau-Projekten werden seit 90 Jahren eigene Radspuren eingeplant. Um sich in diesem dichten Netz zurechtzufinden, existiert ein ausgeklügeltes System aus Nummern und Knotenpunkten. Sandra, die Gastgeberin aus Eindhoven, braucht das nicht. "Ich kenne ungefähr meine Richtung und fahre drauflos. Einen Radweg gibt es immer."

Fietsers (Radler) sind selbst dort bestens versorgt, wo es nur noch Äcker und Felder gibt. Wo der Zwiebelanbau bis an den Horizont reicht, es nach Gülle stinkt und auf den Landstraßen riesige Viehtransporter entlangpoltern. Wenn im monotonen Landesinnern zwischen den Nutzpflanzen plötzlich ein Feld mit roten Lilien auftaucht, ist das eine Erlösung. Doch die Mündung der Schelde in die Nordsee versöhnt einen schnell wieder. Auf dem Deich führt der Pfad flach und immer geradeaus zwischen zwei Welten entlang. Hier das Meer mit einer Armada aus Containerschiffen darauf. Dort niedliche Dörfer, Wiesen, Felder. Darüber brauen sich Wolken zusammen. Und an manchen Stellen hat das alte Holland überlebt, das Meister wie Rembrandt, Vermeer oder Jacob van Ruisdael im Goldenen Zeitalter gemalt haben.

Aber auch das gibt es: Im feinen Nieselregen lotst uns die Karte mitten durch den Rotterdamer Hafen. Plötzlich prasseln dicke Tropfen herunter. Ein Wolkenbruch, und nirgendwo ein Unterstand in Sicht. Wohin der Blick auch fällt - Container, Schornsteine, Rauch, Industriehallen und Lastwagen. Plötzlich steht am Rand des Radwegs ein winziges, rechteckiges Schild mit Messer und Gabel darauf. Zwei Minuten später sitzen wir in einer nagelneuen Raststätte für Fernfahrer. Durch die Fensterfront beobachten wir, wie Landschaft und Hafen im Regen verschwinden.

Radfahren in Holland: tagsüber das Abenteuer mit Wind und Wetter, abends die Frage, wie wohl die Gastgeber sind. Nach zwei Wochen kann man sagen, dass dieses System sehr gut funktioniert. Auf den knapp 500 Kilometern sind wir immer freundlich und offen empfangen worden. Zurück zu Hause, schreiben wir allen, bei denen wir übernachten durften, eine Ansichtskarte. Sandra Leemans antwortet mit einer E-Mail. Sie habe sich für das nächste Jahr schon wieder bei den "Vrienden op de Fiets" als Gastgeberin eintragen lassen.

Reiseinformationen

Anreise: Mit der Bahn z. B. über Düsseldorf nach Venlo, Fahrradplatz im IC muss reserviert werden, eine Rad-Tageskarte kostet in den Niederlanden 6,20 Euro, bahn.de

Touren: Bikeline-Radtourenbuch: Radrunde Niederlande, 1300 Kilometer entlang der niederländischen Grenz- und Küstenregionen.

Übernachten: Für zehn Euro Jahresbeitrag wird man Mitglied bei den Vrienden op de Fiets. Der Ausweis berechtigt zum Übernachten bei den Gastgebern. ÜN inklusive Frühstück kostet 22,50 Euro pro Person, für Kinder 12,50 Euro, vriendenopdefiets.nl

Bisher erschienen: Mit dem Fernbus nach Stockholm (19. 9.). Die Serie im Netz: sz.de/thema/Reisen_ohne_Flug

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