Süddeutsche Zeitung

Niederlande:Das andere Amsterdam

Es kommen zu viele Touristen in die Hauptstadt der Niederlande. Die Lösung: Sie sollen ins Umland ausschwärmen. Ist das eine gute Idee?

Von Jochen Temsch

Wenn Jacob Reitsma von dem Gemälde "Het Weerpad" spricht, bekommt er Gänsehaut, was er in seinem ärmellosen Hemd nicht verbergen kann. "Das Bild ist mir ein Rätsel", sagt er. Claude Monet schuf es im Jahr 1871, als er auf dem Weg von London nach Paris einen Zwischenstopp in Zaandam einlegte. Vier Monate lang blieb er in der kleinen Stadt mit den vielen Werften am nördlichen Rand von Amsterdam. Zaandams Windmühlen und Kanäle, die bunten Holzhäuser, das Licht und die typischen Boote mit wenig Tiefgang hatten es dem Künstler angetan. So malte er hier 25 Werke, Impressionen eines ländlich maritimen Hollands am Vorabend der industriellen Revolution, die das Erscheinungsbild der Region in den folgenden Jahren drastisch verändern sollte.

"Het Weerpad" zeigt eine Straße, auf der eine Frau über eine Brücke geht - und natürlich Windmühlen. Von den etwa tausend Exemplaren, die zur Zeit Monets noch in der Polderlandschaft standen, sind gerade mal zwei Dutzend übrig. Aber nicht die Tatsache, dass Monet eine versinkende Welt dokumentierte, verursacht bei Jacob Reitsma Gänsehaut, sondern die Frage, warum der Künstler seine Windmühlen an Stellen platzierte, an denen Reitsmas Wissen nach gar keine gestanden haben können - "und das, obwohl Monet stets im Freien malte und genau das festhielt, was er sah", wie Reitsma erklärt.

Vor neun Jahren hat er zusammen mit anderen Kunstinteressierten die Monet Foundation gegründet. Er will mithilfe des berühmten Malers Touristen nach Zaandam locken. "Als wir anfingen, wusste selbst in Zaandam kaum jemand etwas über ihn", sagt Reitsma. 2021 jährt sich der Aufenthalt zum 150. Mal. Spätestens dann soll die Welt wissen, warum Zaandam als Monet-Stadt der Niederlande gelten muss. Doch bislang hält sich das Interesse noch in Grenzen. "Es finden wenige Touristen zu uns", sagt Reitsma.

Das soll sich auch nach dem Willen der Amsterdamer Stadtverwaltung ändern. Seit März dieses Jahres hat das Amsterdam-Marketing eine neue Direktorin, Geerte Udo, und den neuen Namen Amsterdam & Partners. Damit wird ein Richtungswechsel vollzogen, der schon vor ein paar Jahren begonnen hat: Die Stadt wirbt nicht mehr für sich. "Amsterdam ist bekannt genug", sagt Geerte Udo, "statt auf Marketing setzen wir auf Lenkung und Verteilung der Gäste."

Dies ist Teil des Kampfes gegen die negativen Folgen des eigenen Erfolgs. Pro Jahr kommen 19 Millionen Touristen in die 864 000-Einwohner-Stadt, und es werden immer mehr. Wenn das Wachstum so weitergeht wie bisher, zählt man im Jahr 2030 30 Millionen Besucher. Schon jetzt sind die Gassen des Kanalviertels zu Stoßzeiten überfüllt. Billigflieger, Kreuzfahrten und Buchungsplattformen gelten als Grundübel des Massenansturms. Das libertäre Image Amsterdams als Paradies der Kiffer und Freier hat zu zügellosem Partytourismus geführt. Junggesellen-Horden, die grölend durchs Rotlichtviertel ziehen, nerven die Einheimischen. Airbnb-Unterkünfte verändern das soziale Gefüge der Wohnviertel, weil sie die Preise in die Höhe treiben und die Anwohner nur noch von Fremden umgeben sind.

Die Stadt hat ein hartes Maßnahmenbündel beschlossen: Baustopps für Hotels und Souvenirläden, strenge Regeln für Airbnb, Limits für Führungen, die Sperrung von Straßen und saftige Bußgelder für Alkoholkonsum auf öffentlichen Plätzen (95 Euro), Urinieren (140 Euro) oder die Vermüllung von Parks (140 Euro). Streifenpolizisten kassieren direkt ab, auch bargeldlos.

Männer zwischen 18 und 34 Jahren aus Großbritannien und den Niederlanden sind als schlimmste Besuchergruppe ausgemacht. Auf sie zielt die Kampagne "Enjoy and Respect". Schon wenn die Jungtouristen nach Amsterdam und bestimmten Schlagworten googeln, werden ihnen Banner und Videos mit der Kernbotschaft angezeigt: Amsterdam ist offen für alle, aber die Freiheit hat Grenzen. Die Stadtgrenzen wiederum sind eine Möglichkeit, die Touristenströme zu entzerren. Vom Hauptbahnhof nach Zaandam dauert es nicht einmal zehn Minuten mit dem Zug.

Sitz der Monet Foundation ist ein grünes Holzhäuschen am Fluss Zaan, Monet Atelier genannt, obwohl der Künstler dort nie gearbeitet hat. Er hielt das "Tuinhuizen aan de Achterzaan" aber in Öl fest. Und dank der detailgetreuen Rekonstruktion des Gebäudes hat jeder, der heute auf der Beatrixbrücke steht, die gleiche Aussicht wie Monet damals. Man muss nur die andere Uferseite ausblenden, wo in jüngerer Zeit schicke Apartmentblöcke hochgezogen wurden.

Nicht nur im Monet Atelier, wo Replikas der Zaandamer Bilder hängen, auch anderswo in der Stadt können Besucher verblüffende Entdeckungen machen: Häuserfassaden und Straßenecken, die aussehen wie auf den Gemälden Monets. Jacob Reitsma veranstaltet Führungen dorthin. Etwa zum "Blauwe Huis", dem "Blauen Haus", das vor zehn Jahren jeder Zaandamer noch weiß gestrichen kannte. Man habe die Farbe von der Fassade abgetragen, sagt Reitsma, und unter der 52. Schicht sei der türkise Blauton hervorgekommen, den Monet malte und der heute wieder die Holzfassade leuchten lässt.

In der Nachbarschaft des Blauen Hauses standen die Werften, die Zaandam einst zum Zentrum des Schiffsbaus in Europa gemacht hatten. 600 Windmühlen trieben Sägen an, pro Woche liefen zwei Schiffe vom Stapel. Dieses Know-how war auch der Grund, warum sich der russische Zar Peter der Große hier im Jahr 1697 inkognito zum Schiffszimmermann ausbilden lassen wollte, um mit diesem Wissen eine Flotte aufzubauen. Seine Identität flog auf und er musste nach acht Tagen fliehen. Die schiefe Hütte aus altem Schiffsholz, in der er wohnte und die zu ihrem Schutz vor der Witterung von einem Steingebäude umschlossen wurde, ist heute die vor allem bei russischen Gästen beliebte Attraktion der Zaandamer Innenstadt.

"Aber an die Handwerkstradition erinnert außer dem Namen eines Pubs nichts mehr", sagt Jacob Reitsma. Die kleine Kneipe mit den alten Schwarz-Weiß-Fotos an den hohen Wänden immerhin, The Blacksmith, ist nur einen Steinwurf weit vom Zar-Peter-Haus entfernt. Ein bärtiger Barkeeper mit Hipster-Hut serviert "Paix Dieu", belgisches, bei Vollmond gebrautes Klosterbier, bei dem man einen Ausflug nach Zaandam wunderbar und als einziger Tourist unter Einheimischen ausklingen lassen kann.

Anderswo hat das Umlenken der Besucher dazu geführt, dass mit den Gästen auch die Probleme verlagert wurden: pittoreske Orte wie die Windmühlenparks von Zaanse Schans oder Kinderdijk, der Blumenpark Keukenhof oder die Insel Marken werden überrannt. Anwohner beklagen sich über verstopfte Straßen, Souvenirgeschäfte, die ihnen nichts bringen, und rüpelhafte Gäste, die auf der Suche nach Toiletten oder einfach so ihre Häuser betreten. Mit Erfolg wurden das Schloss Muiderslot als "Amsterdam Castle" und die Küste vor Zandvoort als "Amsterdam Beach" beim internationalen Besucherpublikum eingeführt - doch der daraufhin einsetzende Aufgalopp passt auch dort nicht jedem.

Jetzt sollen weitere Ziele in der Metropolregion Amsterdams geschaffen werden. Almere beispielsweise, die jüngste und am schnellsten wachsende Stadt der Niederlande, 35 Zugminuten vom Amsterdamer Hauptbahnhof entfernt. Seit Mitte der Siebzigerjahre wird der Ort auf dem Flevolandpolder gebaut. Alles entstand und entsteht hier auf dem Reißbrett. Wohnblöcke, Kino, Theater und Konzerthaus von namhaften Architekten, getrennte Verkehrswege für Autos, Radler und Busse - die auch vor grünen Fußgängerampeln nicht haltmachen, woran man als gedankenverloren herumstreunender Tourist dringend denken sollte.

Aktuell leben 208 000 Menschen hier, in den nächsten 15 Jahren sollen es schon 300 000 sein. Architekturführungen zu Fuß durch die Retortenviertel vermitteln ein gutes Bild von dieser urbanen, baumlosen, Aluminium, Glas und Zink gewordenen Wohn-Utopie, mit der man dem Bevölkerungswachstum Amsterdams gerecht zu werden hofft. Der Guide Paul Meekel beispielsweise sagt: "Früher dachte ich, lieber sterbe ich auf der Straße als an so einem sterilen Ort zu leben, aber inzwischen genieße ich es, nicht mehr im Trubel Amsterdams zu sein." Feierwütige haben es aber auch schon hier heraus geschafft. An der Rezeption des Best Western Hotels am Hauptbahnhof jedenfalls weist ein Schild darauf hin, dass Lachgasflaschen, mit denen man Luftballons aufpusten kann, aus Sicherheitsgründen im Haus verboten sind.

Solche Probleme gibt es auf dem flachen Land zwischen den Käse-Städtchen Beemster und Edam im Norden Amsterdams nicht. Unterwegs mit dem Fahrrad oder dem Elektroroller auf den schnurgeraden Wegen der Polderlandschaft vier Meter unterm Meeresspiegel, die grüne Weite, die alten Bäume, Kühe, Herrenhäuser und Windmühlen - das ist die reinste Meditation. Edam mit seiner langen Handelsgeschichte und den nur 7000 Einwohnern präsentiert sich als Idylle mit Kanälen, bunten Holzhäuschen und verwunschenen Gärten. Im Souvenirshop am historischen Käsemarkt gibt es natürlich handliche Edamerlaibe in allen Reifegraden - aber keine Kundschaft. Als eine Familie mit ihrem Segelboot durch einen Kanal tuckern will, erscheint ein junger Typ, um die schmale Fußgängerbrücke hochzukurbeln. Warum er einen amerikanischen Akzent hat? "Ich kam als Tourist hierher und traf meine Freundin", sagt er lachend, "jetzt bin ich ein Einwohner." So geht's natürlich auch.

Reiseinformationen

Anreise: Flug mit KLM ab München und zurück ab 100 Euro, klm.de; Zug normal ca. 200 Euro, mit Sparpreis für die einfache Fahrt ca. 39,90 Euro, bahn.de

Übernachtung: Zaandam: Inntel Hotel, DZ ab 72 Euro; Almere: Best Western Plus Plaza, DZ ab 82 Euro.

Monet in Zaandam: Atelier freier Eintritt, Führungen 10 Euro pro Person, monetinzaandam.nl

Architektur Almere: Führung 7,50 Euro pro Person, buchbar über vvvalmere.nl

Weitere Auskünfte: visitflevoland.nl/de, iamsterdam.com

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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Quelle:
SZ vom 18.07.2019/edi
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