New Orleans:"Oh man, wir brauchen mehr Laternen, baby!"

Korruption, Rassismus und ein Bürgermeister, den keiner mehr will: Jahre nach der Hurrikan-Katastrophe bleiben die Probleme von New Orleans gewaltig.

R. Deininger

Kürzlich gab es eine Umfrage in New Orleans, eine örtliche Universität bat die Bürger um Benennung der größten Probleme der Stadt. Die Mordrate, die höchste der USA, landete auf Platz eins, der erbärmliche Zustand der Schulen auf Rang zwei. Ray Nagin wurde Dritter.

Nagin ist der Bürgermeister von New Orleans. 2005 hatte ihn der Hurrikan Katrina auf die Weltbühne geweht. Als seine Stadt unterging, wurde er zum Gesicht ihres Überlebenskampfes, ein wütender Kreole mit glattrasiertem Schädel, der dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika zurief, er möge doch "endlich seinen Hintern hochkriegen". Nagin hätte ein Held werden können in jenen Stunden.

Doch Nagin ist kein Held geworden. Am Samstag jährte sich zum vierten Mal der Tag, an dem die große Flut über New Orleans kam. Was seither mit Nagin geschah, lässt sich leicht in einem der billigen Souvenirläden auf der Decatur Street am Rand des French Quarter herausfinden. Betrunkene Touristen kaufen dort T-Shirts mit betrunkenen Alligatoren darauf.

Neuerdings kaufen auch Einheimische dort, manche sogar nüchtern. "31. Mai 2010: Nagins letzter Tag": Das steht auf den Aufklebern, die sie sich ans Auto pappen oder an die Haustür. "Gut, dass er endlich weg ist."

Die turbulente Ära des Bürgermeisters, 52 Jahre alt, neigt sich dem Ende entgegen, nach seiner zweiten Amtszeit kann er nicht mehr gewählt werden, was bei aktuell 24 Prozent Zustimmungsquote ohnehin fraglich wäre. Die positivste Schlagzeile in den vergangenen Monaten machte er, als er in Shanghai wegen Verdacht auf Schweinegrippe untersucht wurde.

Täglich geißelt die Lokalzeitung, die nach Katrina zu Ruhm und Pulitzer-Ehren gekommene Times-Picayune, das schleichende Tempo des Wiederaufbaus, Nagins eitlen Zank mit dem Stadtrat und seine ebenso polternden wie verwirrenden Einlassungen zu Gott und der Welt, die üblicherweise mit einem beherzten "Oh man" beginnen und mit einem nicht minder beschwingten "baby!" enden. "Oh man, wir brauchen mehr Straßenlaternen, baby!"

Manche Beobachter mutmaßen offen, der Bürgermeister sei geisteskrank.

Der tiefe Fall des Ray Nagin ist nicht allein die Geschichte eines persönlichen Versagens. Es ist auch die Geschichte einer unvergleichlichen, ebenso großartigen wie geplagten Stadt, die es einfach nicht schafft, ihre eigenen Unzulänglichkeiten zu überwinden. Seit 29. August 2005 hat New Orleans nicht nur mit den Folgen einer Naturkatastrophe, mit untauglichen Dämmen und einer pflichtvergessenen Regierung im fernen Washington zu kämpfen. Zu kämpfen hat es auch mit seinen alten Dämonen, mit schier unausrottbarem Rassismus und mit einer über Jahrhunderte zementierten Kultur der Korruption.

Als Nagin 2002 ins Rathaus einzog, war Katrina noch ein schöner Frauenname und er ein Reformer, ein Kabelfernseh-Manager ohne politische Seilschaften, ein Demokrat mit republikanischen Überzeugungen ("Ray Reagan"), ein Schwarzer mit vielen weißen Unterstützern.

Nagin, dessen Vater mit drei Jobs das Studium des Sohns finanziert hatte, ritt als Ritter in glänzender Rüstung in eine schmutzige Stadt. Und packte sofort die Lanze aus. "Bloody Monday" nannte man ehrfürchtig den Tag, an dem mehr als 80 Stadtbeamte unter dem Verdacht der Bestechlichkeit verhaftet wurden.

"Wir haben wirklich geglaubt, er könnte der eine sein, auf den wir so lange gewartet haben", sagt Doloris Wells.

Die "Krankheit" von New Orleans

Sie sitzt auf der Treppe vor ihrem kleinen Holzhaus im Lower Ninth Ward, dem Ground Zero von Katrina, und feilt sich die Zehennägel, grün lackiert, passend zu Bluse und Hose. Vor dem Sturm lebten hier 14.000 Menschen, fast 98 Prozent waren Schwarze wie Doloris Wells. Ein paar Hundert sind nun zurück, zuhause in einem Geisterdorf.

Gras wuchert brusthoch, ganze Straßen haben keine Häuser mehr, nur schimmlige Fundamente. Die Hausnummern sind mit roter Farbe auf den Boden gesprüht. Immerhin, zwei Blocks weiter, Richtung Mississippi, lässt Brad Pitt Designerbungalows errichten, mit Holzgittern an der Veranda, auf dass sich später mal Efeu daran empor ranke.

Ab und an fährt ein Auto an Doloris Wells Haus vorbei, und sie winkt jedem einzelnen. Nagin sei im Grunde ein anständiger Kerl, glaubt sie, aber das helfe ja nichts: "Es wird Zeit, dass er verschwindet." Warum? "Schau dich um, es geht nichts voran, wir bringen nichts zustande in dieser Stadt." Das sei schon immer so gewesen, "vor dem Sturm hat das nur niemanden interessiert".

Sie habe viel Zeit zum Nachdenken auf ihrer Treppe, sagt Doloris Wells, und sie sei sich ziemlich sicher, dass Nagin sich schlicht angesteckt hat mit der "Krankheit dieser Stadt", mit diesem seltsamen Hang zur Apathie, die ab einem gewissen Punkt Selbstzerstörung bedeutet.

Josh Neufeld ist nicht aus New Orleans, noch schlimmer, er ist aus New York. Aber er hat einen Comic-Roman ("A.D. - New Orleans After the Deluge", Pantheon 2009) über die Stadt und den Sturm gezeichnet, und die Einheimischen sagen, sie fühlten sich verstanden von diesem jungenhaften Typen mit der dickrandigen Brille. Neufeld signiert sein Werk in einem alternativen Buchladen, der so groß ist wie die Toiletten bei Barnes & Noble.

So was gibt es in New Orleans, und nicht nur einmal. Gerade noch stand ein Mann vor ihm, ein hoch gewachsener, stämmiger Mann, der ihm mit Tränen in den Augen um eine Widmung bat: "Für Martha, mein Rettungsboot". Neufeld hat sich nicht zu fragen getraut, was das bedeutet.

Für sein Buch hat Neufeld die Schicksale von sechs Sturmopfern recherchiert, und dabei gelernt, dass Glück hier anders gemessen wird als im Rest des Landes. Nicht in Dollar, sondern in Schwätzchen mit den Nachbarn, in Jazz und Jambalaya. "Das Glück liegt für die Menschen hier auf ihrer Veranda", sagt er, und das schließt Treppen bestimmt mit ein.

Vor Katrina hatte New Orleans die proportional meisten Armen Amerikas, das meiste Verbrechen, die meiste Korruption - und die zufriedensten Menschen auf dem ganzen weiten Kontinent.

Er beneide die Leute um ihre trotzige Lebenszugewandtheit, dieses "fröhliche Pfeifen auf dem Friedhof", sagt Neufeld, aber er denke schon, dass das alles auch "ein Schutzschild" sei. Wahrscheinlich braucht so ein Schutzschild, wer in der Hurrikan-Schneise unter dem Meeresspiegel lebt, wer von 90.000 Dollar Bestechungsgeld im Kühlschrank seines Kongressabgeordneten liest, wer auf eine Hochzeit eingeladen wird und dort nur Menschen seiner eigenen Hautfarbe trifft.

Man kann den Leuten das Verlangen nach Ablenkung nicht übel nehmen. Draußen vor dem Buchladen hängt ein Plakat für ein "Bullenrennen" im French Quarter. Im Unterschied zum Original in Pamplona werden die Läufer nicht von Stieren verfolgt, sondern von Bikini-Schönheiten auf Rollerskates und mit Schaumstoff-Hörnern auf dem Kopf.

Man muss sich also schon einiges leisten, um die Menschen von New Orleans gegen sich aufzubringen. Ray Nagin hat es geschafft, seine Rüstung glänzt nicht mehr, sie ist befleckt vom Verdacht auf Vorteilnahme und Verschleierung. Der Bürgermeister hat Urlaub auf Hawaii gemacht, offenbar auf Kosten eines Unternehmers, der Aufträge der Stadt erhielt.

Nagin weigerte sich auch, öffentliche Dokumente seiner Verwaltung herauszugeben. Als ihn ein Richter zwang, verkündete er, einige tausend Emails seien versehentlich gelöscht worden.

Der Bürgermeister ist jetzt ein Gespenst in seiner eigenen Stadt. Es ist fast so wie damals, in den Tagen der Flut, als er sich im 24. Stock des Hyatt-Hotels verschanzt hatte, am Rande des Nervenzusammenbruchs, wie es heißt, und seinen Moment ungenutzt verstreichen ließ. Öffentliche Auftritte des ehemaligen Showmannes sind rar, die Presse erfährt meistens erst vierzig Minuten vorher davon. Rückrufe auf Interviewanfragen sind offenbar unüblich.

Ein weiterer Sündenfall des Ray Nagin führt noch tiefer. Bei seiner Wiederwahl 2006 hat er, einst der Kandidat der Aussöhnung, im Wettstreit mit einem starken weißen Kandidaten die Rassenkarte gespielt. Martin Luther King habe ihm im Traum eingegeben, das mehrheitlich schwarze New Orleans müsse auch fürderhin eine "Schokoladenstadt" bleiben, verkündete er vor einem rein schwarzen Publikum, "chocolate, baby".

Über seine Kontrahenten sagte er: "Ich schaue mir diese Leute an, und nur ganz wenige sehen so aus wie wir." Heute kommt Nagin unter den Weißen der Stadt noch auf fünf Prozent Zustimmung. Erhebungsunschärfe: fünf Prozent.

Nagin versuchte 2006 mit Erfolg, von der Angst vieler Schwarzer vor einer neuen Dominanz der Weißen zu profitieren.

Rassismus vor der Wahl

Diese Angst ist nur gewachsen seither, und es ist zumindest offensichtlich, woher sie kommt. Die Wiederaufbau-Kommission der Stadt schlug ein "Gesundschrumpfen" von New Orleans vor, die flutgefährdetsten Gebiete sollten aufgegeben werden. In den Risikovierteln lebten vor allem arme Schwarze, und jetzt, das war ihr Gefühl, sollten sie vertrieben werden, so wie schon einmal bei der großen Mississippi-Flut von 1927, als die Weißen ganze Dämme sprengten, damit das Wasser die Hütten der Schwarzen mitriss und nicht ihre stattlichen Häuser.

Und schließlich hatten ja auch nach Katrina weiße Sheriffs schwarze Familien an der Flucht in höher gelegene Viertel gehindert - aus Angst vor Plünderungen. Natürlich hinterlassen solche Erfahrungen Narben. Die Idee des Gesundschrumpfens wurde de facto aufgegeben. Vorher hatte Nagin ewig laviert zwischen Vernunft und Schokolade.

Seit 1978 hat New Orleans immer einen schwarzen Bürgermeister gewählt. Aber nach Katrina ist die Bevölkerungsmehrheit der Afro-Amerikaner kleiner geworden: 61 Prozent der Bewohner sind schwarz, minus sechs Prozent; 31 Prozent sind weiß, plus vier Prozent; und mit den Latinos ist nach dem Sturm eine dritte Gruppe sprunghaft gewachsen. Angesichts der erfahrungsgemäß höheren Mobilisierung weißer Wähler, sagen Politikwissenschaftler, könnte bei der Bürgermeisterwahl 2010 ein Weißer gewinnen.

Oder neutraler: Das Entsetzen über Nagins Bilanz sei so groß, dass die Bürger von New Orleans bei der Wahl im Februar einen völlig neuen Ansatz ausprobieren könnten: eine rationale Entscheidung zu treffen für den bestqualifizierten Kandidaten.

Das Kandidatenfeld ist noch unüberschaubar, aber Arnie Fielkow, dem ausgleichenden Stadtratspräsidenten, werden gute Chancen eingeräumt, sollte er antreten. Fielkow sagt: "Es gibt nichts Gutes an Katrina, aber der Sturm hat einige unserer Probleme schonungslos offengelegt." Der ehemalige Football-Funktionär klingt schon wie ein Bürgermeister. "Wir stellen uns jetzt ganz ehrlich Herausforderungen wie Korruption und Armut." Auch dem Rassismus?

Einfach so nimmt das Wort niemand in den Mund, der Politik machen will in New Orleans. "Absolut, dem auch", sagt Fielkow. Für die Wahl hoffe er, "dass die Menschen von New Orleans bereit sind, für den besten Kandidaten zu stimmen." Arnie Fielkow ist weiß.

Gleich gegenüber vom Stadtrats-Gebäude liegt der Büroflügel des Bürgermeisters, die Wände sind mit edlem Holz getäfelt. Die Empfangsdame ist sehr freundlich. Leider ist die Presseabteilung gerade nicht da. Wie so oft.

Gottesdienst in der Backstein-Kirche von Tom Watson auf der St. Charles Avenue, draußen rattert die legendäre Straßenbahn vorbei, ein Symbol der Wiedergeburt der Stadt. Es ist eine schwarze Gemeinde, ein einziger Weißer versteckt sich in der vorletzten Reihe. Reverend Watson, ein kleiner, kräftiger Mann, bebt vor Energie, er predigt mehr als eine Stunde lang. "Wir müssen leben von dem, was der Himmel uns gibt", ruft er, und er lässt es seine Gemeinde wiederholen, einmal, zweimal, dreimal: "Leben von dem, was der Himmel uns gibt."

Der Reverend kann auch anders, nüchtern und leise, tags darauf an einem Konferenztisch im Bürotrakt seiner Kirche. Ja, Schwarz und Weiß seien sich näher gekommen, sagt er, "aber wir sind nicht einmal ansatzweise dort, wo wir sein sollten." Und es sei noch nicht klar, ob die bevorstehende Bürgermeisterwahl die Stadt einen oder spalten werde: "Viele Schwarze haben den Eindruck, dass viele Weiße um jeden Preis wieder einen weißen Bürgermeister wollen."

Solche Gefühle seien mächtig, sagt Watson, vielleicht zu mächtig, "aber auch nicht notwendigerweise falsch".

Der Reverend muss zur Bibelstunde, unten lärmen schon die Kinder. Er wolle nicht richten über Ray Nagin, sagt Tom Watson noch, das ist der selbe Tom Watson, der 2006, als er selbst ins Rathaus strebte, bei einer TV-Debatte den Bürgermeister beinahe erwürgt hätte vor lauter Wut. "Ray stand vor einer einzigartigen Aufgabe, ich kann mir nur ausmalen wie es sein muss, die Stadt zu führen nach dem, was uns widerfahren ist."

Ray Nagin habe wohl "sein Bestes gegeben", sagt Watson, die Hände gefaltet, und dass der Bürgermeister wahrlich nicht der Einzige sei, dessen Bestes für New Orleans nicht gut genug ist.

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