Neuseeland:Gründerzeit

Vor drei Jahren verwüstete ein Erdbeben Christchurch. Nun zieht die Stadt Kreative an, die sie neu gestalten.

Von Stefan Spath

Am Himmel ein Ballett von Kränen, auf den Straßen Lastwagen-Konvois. Die Luft ist erfüllt vom Rattern der Presslufthämmer und dem Kreischen der Sägen. Mehr als drei Jahre ist es inzwischen her, dass ein verheerendes Erdbeben 80 Prozent der Gebäude im Zentrum von Christchurch vernichtet hat. 185 Bewohner der Stadt kamen damals ums Leben. Und noch immer ist Neuseelands zweitgrößte Stadt eine riesige Baustelle.

Das neue Christchurch aber entsteht gerade. Sein Aushängeschild ist die Cardboard Cathedral, die ihre einzigartige Ästhetik und ihren Namen einem nicht alltäglichen Baustoff verdankt: Pappkartonröhren. Die Cardboard Cathedral soll so lange als Kathedrale der anglikanischen Diözese dienen, bis die eigentliche Hauptkirche der Stadt wieder aufgebaut ist, und danach zu einem einfachen Gotteshaus werden. Doch längst ist die Pappkathedrale eine Ikone und Touristenattraktion.

Die alte, neogotische Kathedrale liegt ein paar Minuten zu Fuß entfernt; an der Front klafft noch immer ein riesiges Loch. Die Diözese würde die Ruine gerne abreißen lassen, Denkmalschützer kämpfen dagegen, sogar vor Gericht. Im vergangenen August weihte die anglikanische Diözese die Kirche aus Pappe ein, als erstes öffentliches Bauwerk, das nach der Katastrophe errichtet wurde. Seitdem ist die Cardboard Cathedral Symbol des Wiederaufbaus der Stadt. Die Kathedrale ist 24 Meter hoch, circa 700 Menschen finden darin Platz. Solange es in der Stadt noch an Bühnen und Sälen mangelt, wird die Kirche auch für Konzerte und Empfänge genutzt.

Transitional Cathedral, Cardboard Cathedral, Christchurch, New Zealand. Architect: Shigeru Ban, 2013

Die Cardboard Cathedral, entworfen von Shigeru Ban, erbaut aus Pappkartonröhren, eigentlich ein Provisorium, ist längst zur Ikone geworden.

(Foto: Emma Smales/VIEW/Corbis)

An die 100 Pappkartonröhren wurden für den Neubau verwendet; innen sind sie zum Teil mit Holzbrettern stabilisiert. Selbst das Weihwasserbecken wird von Pappkarton-Ständern getragen. Der Kirchenraum ist hell und wirkt fröhlich: Tageslicht fällt durch ein fast transparentes Dach und durch Buntglasfenster. Entworfen hat die Kathedrale der japanische Architekt Shigeru Ban, der seit 1995 für Erdbebenopfer von Japan bis Haiti Schutzunterkünfte aus einfachen und recycelbaren Materialien entworfen hat und der für seine "Papierarchitektur" erst kürzlich mit dem renommierten Pritzker-Preis ausgezeichnet wurde. "Als er um Hilfe gebeten wurde, setzte er sich in das erste Flugzeug Richtung Neuseeland", erzählt Johnny McFarlane, der als Projektmanager den Kirchenbau beaufsichtigt hat.

5,9 Millionen neuseeländische Dollar, rund 3,8 Millionen Euro, kostete der Bau. Dass es nicht noch teurer wurde, ist freiwilligen Helfern zu verdanken. Sie verbrachten Tausende Arbeitsstunden damit, die Pappkartonzylinder mit einem feuer- und wasserfesten Anstrich zu versehen. "Es ging nicht nur darum, ein Gebäude zu errichten, wichtig war auch, die Bevölkerung in den Prozess einzubeziehen", sagt McFarlane.

Auf dem Reißbrett existiert das neue Christchurch bereits. Es soll noch grüner werden - allein deshalb, weil mancherorts der Untergrund so instabil ist, dass hier nicht mehr neu gebaut werden darf. Ein paar Minuten zu Fuß von der alten Kirche entfernt ist eine kiesbedeckten Brache: Hier stand früher das Canterbury Television-Gebäude. Als der sechsstöckige Betonbau in sich zusammenfiel, starben in den Trümmern 115 Menschen. An sie und die anderen Opfer des Erdbebens erinnert in Christchurch heute ein Denkmal - der neuseeländische Künstler Peter Majendie stellte für jeden Toten einen weißen Stuhl auf den Rasen.

Informationen

Anreise: Flug nach Christchurch hin und zurück ab 1300 Euro, z. B. mit Singapore Airlines, www.singaporeair.com.

Unterkunft: Novotel Christchurch im Stadtzentrum, Doppelzimmer ab 120 Euro, www.accorhotels.com.

Stadtbesichtigung: www.gapfiller.org.nz informiert über Projekte und Veranstaltungen der kreativen "Lückenfüller". Ausgehen: C One Espresso, www.c1espresso.co.nz, The Tannery, www.thetannery.co.nz; Touren im Doppeldeckerbus: www.hasslefreetours.co.nz; Wer sich über das Erdbeben von 2011 informieren will, sollte die Ausstellung Quake City besuchen, www.canterburymuseum.com/quakecity. Die Cardboard Cathedral (234 Hereford Street) ist etwa zehn Minuten zu Fuß vom Cathedral Square entfernt, www.cardboardcathedral.org.nz.

Weitere Auskünfte: www.newzealand.com, www.christchurchnz.com.

Der Wiederaufbau indes geht mühsam voran. Der Schaden an den Gebäuden belief sich auf 40 Milliarden neuseeländische Dollar, rund 26 Milliarden Euro. Manche Versicherungen zahlen nur schleppend, besonders Hausbesitzer beklagen sich bitter, dass sie auch drei Jahre nach dem Erdbeben immer noch vertröstet werden. Beim Rugby Stadion wird gestritten, ob das Bauwerk noch repariert werden kann - was für die Versicherung billiger wäre - oder die gesamte Versicherungssumme fällig ist. Errichtet werden die neuen Gebäude auch mit neuen Materialen - Holz, Stahl und Glas - und möglichst erdbebensicher, auf Pfeilern, die bis zu 20 Meter tief in den sumpfigen Boden getrieben werden. Einige historisch bedeutsame Ziegelbauten hat die Wiederaufbaubehörde CERA mit stählernen Klammern oder übereinandergestapelten Containern stabilisiert; sie sollen zu einem späteren Zeitpunkt saniert werden.

Neue Gebäude werden jetzt auf Pfeilern gebaut, die 20 Meter in den sumpfigen Boden reichen

Sam Crofskey vom C1 Espresso in der High Street deutet auf eine Brachfläche gegenüber - dort stand sein altes Café. "Am Tag des Bebens hatten wir vollen Betrieb, über hundert Gäste. Es war ein Wunder, dass niemand zu Schaden kam", erinnert sich der bärtige Mann. Das Gebäude fiel der Abrissbirne zum Opfer, wie die meisten Gastrobetriebe im Central Business District. Crofskey erwog zunächst, sein Glück im Ausland zu versuchen, da bekam er das Angebot, sich im ehemaligen Postgebäude in der High Street einzumieten. Der Art-déco-Bau hatte das Erdbeben gut überstanden. 21 Monate danach kehrte Crofskey als einer der ersten Gastronomen in den Central Business District zurück. "Wir waren am Boden zerstört, aber das bot uns auch eine neue Gelegenheit", sagt er heute. Inzwischen sitzen in seinem Coffeeshop Studenten, Rucksacktouristen, Büroangestellte und Bauarbeiter. Designer und Recycling-Künstler haben sich hier verwirklicht: Aus einer antiken Nähmaschine sprudelt Trinkwasser. Wer einen Mini-Hamburger ordert, bekommt ihn über eine Rohrpost mit Pressluft direkt an den Tisch geschossen. In die oberen Stockwerke zieht im November ein Boutique-Hotel ein. Gästezimmer sind knapp in Christchurch - von den einst 39 Hotels sind nur 19 stehen geblieben.

Gründerzeit-Atmosphäre herrscht auch im südöstlichen Vorort Woolston, wo die Familie Cassells wenige Tage nach dem Desaster beschloss, ihre zerstörte Kleinbrauerei wieder aufzubauen und um ein Pub zu erweitern. "Damals fehlte es an allem: an Orten der Zusammenkunft, an Cafés, an Gastlichkeit. Und die Leute hatten natürlich Durst", erzählt Braumeister Zak Cassells bei einem Glas Stout. Die Cassells investierten in großem Stil und wandelten eine stillgelegte Gerberei nebenan in eine Shopping Mall um. Heute ist The Tannery ein Aushängeschild des neuen Christchurch.

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Die bunten Tupfer im Stadtbild verdankt Christchurch in erster Linie Aktivisten aus der Kulturszene. In den Monaten nach dem Beben bezweifelten viele, dass die Stadt jemals wieder auf die Beine kommen würde, erinnert sich Coralie Winn. Mit ihrem Verein Gap Filler begann sie, die Lücken im Stadtbild mit, wie sie sagt, "verrückten Ideen" zu füllen. Mobile Minigolfplätze entstanden, man bastelte Spielgeräte aus Trümmerteilen, organisierte Tauschbörsen, begrünte Brachflächen, eröffnete einen aus 3000 blauen Holzpaletten gezimmerten Open-Air-Treffpunkt - alles mit Hilfe von Freiwilligen. Und allmählich begannen die Bewohner von Christchurch, ihre Stadt neu zu entdecken. "Im kreativen Umgang mit leeren Räumen steckt eine Menge Energie. Ich kenne einige Leute, die nach Christchurch gezogen sind, weil hier etwas ganz Neues entsteht und sie Teil davon sein möchten", sagt Winn. Die New York Times setzte denn auch Christchurch auf Platz zwei der Reiseziele, die man 2014 besucht haben muss.

An jeder zweiten Ecke stößt der Gast auf witzige Pop-up-Projekte, Kunstinstallationen voller subversiver Ironie und Shops mit originellen Recycling-Kunstwerken. Und selbst eine normale Stadtbesichtigungstour wird zur Entdeckungsreise. Vom Oberdeck des Doppeldeckerbusses aus hat man einen guten Blick auf die Arbeit der Street-Art-Künstler, die die hässlichsten Narben im Stadtbild übertüncht haben. Hier ein farnumranktes Mädchengesicht auf roten Backsteinziegeln, dort ein Pin-up-Girl in Grün und Blau auf der Mauer des örtlichen Striptease-Clubs. "Übrigens der erste Betrieb, der nach dem Beben wieder aufsperrte", merkt Tourguide Carl Bonniface trocken an.

Was das Nachtleben betrifft, könnte Christchurch gut noch etwas mehr Farbe vertragen. Die neuen Partyviertel sind jetzt dort, wo Gebäude erdbebensicherer gemacht wurden. Im alten Stadtkern werden dagegen schon am frühen Abend die Gehsteige hochgeklappt. Nur auf dem Platz hinter dem Cathedral Square treffen sich junge Leute. Die Gap Filler haben hier ihren Dance-O-Mat aufgestellt: eine alte Waschmaschine voller Technik. Wirft man eine Zwei-Dollar-Münze hinein, gehen Scheinwerfer und Lautsprecher an. Nun muss man nur noch den eigenen MP3-Player einstöpseln - und lostanzen.

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