Mickaël Di Costanzos Kajak gleitet lautlos auf die Rückenflosse des Riffhais zu. "Ganz ruhig bleiben, keine Panik!", befiehlt er. Der Raubfisch hat ihn noch immer nicht bemerkt. Jetzt ist er nur noch wenige Meter entfernt. Als Di Costanzo vorsichtig das Paddel senkt, schnellt der Hai mit einem mächtigen Schlag der Schwanzflosse in die Tiefe. Das Kajak schwankt, dann gleitet es ruhig auf den Strand zu.
Abenteuer-Guide Di Costanzo schrecken wilde Tiere nicht. Er ist durch Piranhaflüsse im Amazonasgebiet Ecuadors gepaddelt, er hat jahrelang als Expeditionsführer im arktischen Spitzbergen gearbeitet. Was ist schon ein Riffhai, wenn man Eisbären und Walrosse im Fahrwasser hatte? "Als ich das Angebot bekam, in Neukaledonien zu arbeiten, wusste ich, das passt", sagt der Franzose, der nur ungern viele Worte verliert. Er hat auf der entlegenen Inselgruppe im Südpazifik ein neues Zuhause gefunden. Hier hat er die Welt für sich alleine, kann Abertausende Paddelschläge lang schweigen und sich hin und wieder eine Zigarette drehen, während der Blick die Steilküste entlangtastet oder sich am Horizont verliert.
Im Gebüsch hinter dem Strand räumt Di Costanzo Kokosnüsse aus dem Weg, um Platz für die Zelte zu schaffen. Zwischen zwei Palmen spannt er unter einer Regenplane seine Hängematte auf. "Nach einem langen Tag auf dem Meer die beste Art zu schlafen", sagt er. Aus seinem Kajak kramt er Kaffeepulver, Konservendosen und Obst. Unter den Kokospalmen findet sich genügend Totholz, um ein Lagerfeuer zu entfachen. Schon wenige Minuten später löscht es ein sintflutartiger Tropenregen.
Wer das Alleinsein in menschenleeren Landschaften liebt, wird auch Neukaledonien lieben. Vier Tage lang sind wir mit dem Kajak entlang der wilden Südostküste unterwegs, paddeln in nie gezähmte Gebirgsflüsse und zu Koralleninseln, die auf unserer Karte keinen Namen haben, kämpfen gegen Regenfronten und die unbarmherzige Mittagssonne, begegnen niemandem außer der ein oder anderen Meeresschildkröte, die erschrocken den Kopf aus dem Wasser hebt. Selbst den Seeschlangen, die an der ruhigeren Westküste bei Nacht über die Strände kriechen, scheint es hier zu einsam zu sein. Jedenfalls lassen sie sich nicht blicken. Nach einem tropischen Wolkenbruch stürzen rauschende Wasserfälle von roten Felsen in Richtung Meer. Am letzten Morgen weckt uns das glucksende Lied eines sicherlich nie entdeckten Vogels. Der Pulverkaffee Neukaledoniens ist der beste der Welt.
La Côte Oubliée, die Vergessene Küste, nennen die Neukaledonier den Südosten ihrer Hauptinsel Grande Terre. Von der Welt vergessen scheint indessen der gesamte Archipel zu sein. Wo liegt noch einmal Neukaledonien? Selbst im Mutterland Frankreich haben viele noch nie von der Inselgruppe zwischen Australien und den Fidschi-Inseln gehört.
Dabei ist die Inselgruppe selbst auf einer Weltkarte kaum zu übersehen. Allein die Hauptinsel des französischen Überseegebiets ist mehr als 400 Kilometer lang. Zu dem auf 1,3 Millionen Quadratkilometern verstreuten Archipel gehören unter anderem die Belep-, Chesterfield- und Loyalitätsinseln sowie die bekanntere, postkartenschöne Île des Pins. Mit insgesamt etwa 250 000 Einwohnern leben in Neukaledonien aber gerade einmal so viele Menschen wie in Mönchengladbach.
Neukaledonien
(Foto: SZ-Grafik)"Im Pazifik gibt es kaum andere so wenig erschlossene Inseln", sagt Di Costanzo, "aber auch hier hat der Mensch bereits überall Spuren hinterlassen." Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden etwa für den Nickel-Abbau auf Grande Terre ganze Bergkämme abgetragen. Die Auswirkungen auf das einzigartige Ökosystem sind mancherorts katastrophal. Die roten Steinbrüche klaffen wie hässliche ausgetrocknete Wunden zwischen den Urwäldern. Abfallstoffe werden ins Meer gespült und zerstören die Korallenriffe um die Flussmündungen. Immer mehr Frachtschiffe durchqueren die Gewässer um Neukaledonien. Hochseefischerboote haben es auf die reichen Thunfischvorkommen abgesehen. Mit dem immer stärker werdenden Seeverkehr wächst auch die Bedrohung der entlegensten Gegenden der Erde.