Süddeutsche Zeitung

Neue Ziele in Kolumbien:Das Ende der Einsamkeit

Rebellen-Terror und Drogen-Kriminalität haben Kolumbien in einen unfreiwilligen touristischen Dornröschenschlaf versetzt. Das soll sich nun ändern.

Sebastian Schoepp

Nennen wir sie Milena. Sie heißt in Wirklichkeit anders, aber sie will offen sprechen und das ist in Kolumbien manchmal so eine Sache.

Milena ist Chefin eines kleinen Restaurants mit Pension an der unwirklich schönen Karibikbucht von Capurganá, einem palmenumkränzten, sanft geschwungenen Meerbusen, der sicher längst mit Touristen überflutet wäre, läge er nicht, tja, eben in Kolumbien.

Der Ozean rauscht, die Wellen klatschen an die hölzerne Balustrade, hin und wieder landet ein Spritzer Salzwasser im dunklen Rum Medellín. Vom Strand tönt der Rhythmus einer Champeta herüber, schwarz und undurchsichtig wie die Nacht. Darüber prangt ein sichelscharfer Mond, der mit Milenas Augen um die Wette leuchtet.

Die Moral blieb auf der Strecke

Die Männer in Capurganá taugten zu allem möglichen, nur nicht zur Arbeit, sagt Milena und kichert. Also taten die Frauen sich zusammen und pflasterten die Straße im Dorf, um die Pfützen zu verfüllen, in denen das Ungeziefer nistete.

Milena war die Anführerin. Harte Arbeit, claro. Aber es ging aufwärts, Touristen kamen, brachten Geld mit, aus dem Karibiknest wurde etwas. Doch mit dem Geld kamen auch Drogen, Prostitution, Neid, Missgunst, Kriminalität. "Die Menschen redeten nicht mehr miteinander, die Familien zerfielen."

Bis zu jenem Dezembertag 1998, der alles veränderte in Capurganá. Vor Sonnenuntergang kamen die Rebellen aus den Bergen des Urwalds herab, der Capurganá schützt und bedroht.

Die Männer und Frauen der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc) sagten, Tourismus sei unmoralisch, er mache sie abhängig von Fremden. Sie hatten Listen mit Namen dabei. Milena stand darauf, sie war ja die Anführerin der Frauen. Die Farc zerstörten ihre Pension, nahmen Geiseln. Milena floh über die Berge ins nahe Panama.

Touristen kamen danach erstmal lange keine mehr, wie auch? Die kleine Fluglinie, die Capurganá mit der Außenwelt verbunden hatte, stellte den Betrieb ein. Die beiden Polizisten türmten, die Dealer und Nutten ebenfalls.

Capurganá war nun Rebellengebiet, obwohl die Farc nach nur einer Nacht wieder verschwanden. Doch ihr Wort blieb.

Die Menschen gingen in die Berge, um nach Vorvätersitte Zapote-Früchte zu ernten, Bananen und Yuca anzubauen, wie es die Guerilla befohlen hatte.

Capurganá sank in einen einsamen Schlaf, wie das kolumbianische Dorf Macondo während des Großen Regens, den Gabriel García Márquez in seinem Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" beschrieben hat.

Einer herrscht immer

Das war schlimm für die Menschen, sagt Milena, doch nicht nur. Die Familien hätten wieder zusammengefunden, die Moral sei zurückgekehrt. War es also gut für Capurganá, dass die Guerilla da war?

Milena lächelt und antwortet so, wie nur jemand antworten kann, der Extremes erlebt hat. Man werde immer von jemandem beherrscht, sagt sie und füllt das Glas Rum auf. Es sei wie eine Verschwörung, der eine löse den anderen ab. Man müsse seinen eigenen Weg finden in diesem Kosmos, und niemand wisse, wohin der führe.

Ihrer führte nach Jahren im Exil zurück nach Capurganá. Die Pension läuft, sie tischt wie früher Camarrones und Ceviche für Touristen auf, die wiederkommen, seit 2005 der Präsident da war und Schutz versprach.

Capurganá, der äußerste Außenposten Kolumbiens an der Karibik, wurde zu einem Symbol der Politik der "demokratischen Sicherheit" des Álvaro Uribe, die aus kompromisslosem Kampf gegen die Farc besteht.

Im Urwald liegt ein Bataillon Soldaten, vor der Küste kreuzen Schnellboote der Armee. Sandra Vélez, die in dem einzigen größeren Hotel arbeitet, sagt: "Wir sind hier besser geschützt als der Präsident."

Und doch sind sie noch immer so weit weg von der Welt wie Macondo. Keine Straße führt nach Capurganá, einmal die Woche kommt ein Versorgungsschiff. Auf der Dschungelpiste landen Propellerflugzeuge aus Cartagena de Indias. Der Standortkommandant kommt zur Begrüßung, er lässt seine Handynummer da, für alle Fälle. Pferdewagen bringen das Gepäck zum Hotel. Autos gibt es nicht.

Capurganá heißt "Land des roten Chili-Pfeffers" in der Sprache der Kuna-Indios, die ein Stück weiter die Küste hinab leben. Capurganá hat tausend Einwohner, fast alle Nachkommen schwarzer Sklaven. In der Strand-Disco läuft der unvermeidliche Bob Marley. Den Hummer kann man direkt beim Fischer kaufen, dann ins Restaurant tragen und sagen, wie man ihn will.

Hauptattraktion ist abends das Krötenrennen am Strand; heute tritt ein glitschiges Tier namens "Uribe" gegen seinen Artgenossen "Chávez" an. Ausländische Touristen kommen noch wenige, Italiener, Spanier, Franzosen. Capurganá ist gringofrei, US-Amerikaner reisen eigentlich nur nach Kolumbien, wenn sie Agenten der Drug Enforcement Agency sind.

Hunger nach Entwicklung

Das wird bald anders, glaubt Lothar: "Manche sagen, hier hört alles auf, ich sage: Hier fängt alles an." Lothar Berg ist Südamerika-Profi, spricht Spanisch mit hessischem Akzent.

Er hatte ein Kolonialhaus in Bolivien und eine Ferienpension in Venezuela. Dort sei die Stimmung aber schlecht gegenüber ausländischen Investoren. Viel Feindseligkeit, die Polizei habe sich bei ihm einquartiert, ohne zu bezahlen. Kolumbien sei anders, das Militär korrekt, die Menschen hungerten nach Frieden und Entwicklung.

Lothar hat Zementsäcke durch den Urwald geschleppt, er hat planiert, terrassiert, gehämmert und aufgeschüttet - und am Ende der Bucht von Capurganá eine Traum-Lodge gebaut. "Kolumbien", sagt Lothar selbstbewusst, "Kolumbien kommt".

Und die Farc und Paramilitärs? "Pah, wenn die mich holen wollten, hätten sie mich schon geholt." Sein Nachbar ist seit Jahren in den USA, auf Urlaub, heißt es. "Bezahlter Urlaub", sagt Lothar lachend. Seit den neunziger Jahren liefert Kolumbien Drogenhändler an die USA aus, was deren Umtriebe stark gebremst hat.

Paradiesische Schönheit

Von Lothars Lodge führt ein Wanderweg an der Küste zurück ins Dorf. Man läuft unter Palmen entlang, die Gischt spritzt an die Felsen. Kinder ernten Zapote-Früchte von Urwaldriesen, Soldaten duschen im Freien. Als ein kleiner Fluss den Weg versperrt, hält ein Pferdekarren, der Kutscher bietet wie Christophorus trockenes Geleit.

Niemand, der durch dieses paradiesisch schöne Land reist und seine Menschen erlebt, kann begreifen, dass Kolumbianer sich jahrzehntelang gegenseitig umgebracht haben. Am wenigsten die Kolumbianer selbst. "Wir sind bipolar", sagt der Sänger Juanes, Kolumbiens teuerster Kunstexport.

Nun aber, bedingt durch die höhere Sicherheit, erwacht das Land. Es gibt Leute, die diesen ungewohnten Zustand mit Leben füllen wollen, touristischem zum Beispiel. Leute wie Milena, Lothar, Sandra; oder wie Douglas, Carlos, Hector und Georg. Georg Rubin ist Deutscher, aber in Kolumbien aufgewachsen, sein Vater war Geschäftsmann.

Rubin hat später in Deutschland gelebt, war Unternehmensberater. Dann unternahm er wieder mal eine Reise nach Kolumbien. "Ich wusste sofort, ich bin zu Hause."

Rubin entschloss sich zu einem Wagnis: Er eröffnete ein kleines, exklusives Reisebüro für maßgeschneiderte Touren - mit wachsendem Erfolg. Entdeckerlust gehöre dazu, sagt er. Aber was die Sicherheit angehe, sei er sich ganz sicher.

Ausflug ins ehemalige Risikogebiet

Zum Beweis führt er uns nach San Agustín im Süden. Dorthin gelangt man von der Provinzstadt Neiva aus. Die Straße war vor wenigen Jahren noch absolutes Risikogebiet, berichtet der Tourismusminister des Departments, Douglas Romero Sánchez, der gewissermaßen zum Ausweis der Sicherheit höchstpersönlich mitfährt.

Der spektakulärste Zwischenfall war die Entführung einer Linienmaschine, in der ein Senator saß. Rebellen ließen das Flugzeug auf der Straße landen und verschleppten den Politiker in die Berge.

Heute ist die Fahrt nach San Agustín ein feiner Ausflug in ein liebliches Tal voller Kaffee und Kakao, eingebettet zwischen zwei Kordillerenketten mit Viertausendern. Der Minister nimmt sogar seine Familie mit.

Das schwere Erbe der Kolonialzeit

Man sieht Männer hoch zu Ross, betörend schöne Frauen, altertümliche Zuckermühlen, weißgetünchte Kolonialkirchen, Plätze mit riesigen Ceiba-Bäumen. In Pitalito zeugen Plakate mit knallbunten Gemälden an der Straße von der Schaffenskraft der Leute.

Die Kunst sei ein Mittel gegen den Schmerz, sagt der Minister. Kolumbien hat die größte Künstlerdichte Südamerikas, die meisten Schriftsteller, die besten Zeitungen. Was fehle, sagt Romero Sánchez, sei Gemeinsinn. Jeder denke nur an sich, ein Erbe der Kolonialzeit. An Selbstkritik mangelt es also nicht. "Wir sind alle schuldig", sagt er, "auch die, die nichts taten, eben weil sie nichts taten."

Die Farc-Rebellen hätten ihren Rückhalt in der Bevölkerung verloren, seit sie mit Drogen handelten, sagt der Minister. Dies sei früher einmal anders gewesen, als Guerilleros nur den Milchlaster überfallen und die Ladung im Dorf verteilt hätten.

An der Not aber haben sie nie viel ändern können. Kolumbien blieb ein De-facto-Feudalstaat. "Sehen Sie den Mann auf dem Feld", sagt Romero Sánchez und zeigt auf eine Gestalt mit Strohhut, "der verdient acht Dollar am Tag". Wie der Minister das ändern will? Es purzelt nur so aus ihm heraus: Marktwirtschaft, Internet, Kooperativen, Eigeninitiative, Tourismus.

Der Rio Magdalena soll dabei eine Rolle spielen. Er ist Kolumbiens Schicksalsfluss. Entlang seines 1542 Kilometer langen Laufs entwickelte sich das Land. Die Ureinwohner handelten an seinen Ufern mit Smaragden, Salz, Leder, Kakao, Kokos. Bei ihnen hatte er vier Namen: Rio Ararali, Fluss des goldenen Fisches; Rio Yuma, Fluss der Freundschaft; Rio Karipuna, Fluss der Kaimane; Rio Huacahayo, Fluss der Gräber.

Uralte, noch namenlose Kulturen

Die Gräber findet man in San Agustín. Dort siedelten uralte, noch namenlose Kulturen, die nichts hinterlassen haben als rätselhafte Steinfiguren, Darstellungen von Schamanen mit Jaguargesichtern, umringt von Kaimanen, Adlern, Fledermäusen.

Carlos Bolaños weiß viel über sie, über das Band der Ureinwohner zur Natur. Er veranstaltet Führungen für Kinder und nun endlich wieder für Touristen. Während des Krieges hielt Carlos sich mit Wurstmachen über Wasser. Wurstmachen will er nie wieder.

Er begleitet die Besucher zu Hector Ordoñez, der hier oben aus einer kleinen Finca ein Hotel gemacht hat, hübsch, schlicht, mit Holzbalkonen und vielen Blumen.

Europäischer Standard

Hector hat einen französischen Teilhaber, der hat ihm gesagt, was Europäern gefällt. Aber, Hector ist sich nicht sicher. "Geht das, ein Hotel ohne Fernseher?", fragt er vorsichtig am Frühstückstisch. "Ich meine, reicht das?" Er deutet mit seiner Nachtwächtertaschenlampe auf die Hügellandschaft mit ihren abertausend Grüntönen, die sich aus dem Morgendunst schält. Es gibt nur eine Antwort: "Hector, dein Hotel ist wunderschön!" - Er kann's kaum glauben. "Ehrlich, findest du?"

Auch dem Minister gefällt Hectors Hotel. Aber Fortschritt muss sein. "Sie haben doch die Stauseen am Rio Magdalena gesehen?", fragt er die Besucher. Wir nicken und wohnen der Geburt einer Art von Idee bei, die zeigt, dass die Jungfräulichkeit des kolumbianischen Fremdenverkehrs nicht von Dauer sein könnte. Romero Sánchez erklärt seinen Plan: Mit Wasserflugzeugen, die von Stausee zu Stausee fliegen, könnte man Besucher schnell nach San Agustín bringen.

Die Seen sind da, fehlt noch das Fluggerät: "Sagen Sie, Sie wissen nicht zufällig, wo man ein paar Wasserflugzeuge herbekommt?"

Informationen

Anreise: Nach Bogotá fliegt Air France von Paris aus hin und zurück ab 750 Euro.

Sicherheit: Es gibt in Kolumbien sichere Gebiete, die man gut bereisen kann, und unsichere, die man unbedingt meiden sollte. Am besten, man schließt sich einem erfahrenen Reiseveranstalter an.

Reisearrangements: Maßgeschneiderte Rundreisen und Trekkingtouren in Kolumbien bietet Kontour Travel, Bergstraße 40, 91227 Diepersdorf, Tel.: 09120/ 183217, E-Mail: info@kontour-travel.com

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Quelle:
SZ vom 25.6.2009/kaeb/dd
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