Nepal:Mehr als nur Himalaya

Alle wollen auf die höchsten Berge der Welt, aber es gibt nahe des Himalayas noch ein anderes Nepal - das der Tiefebene Terai mit dem Geburtsort von Buddha.

Richard Fraunberger

Fremdheit ist das erste Gefühl. Anders ist hier alles, so ohne Vergleich, ohne Ähnlichkeit. Die Gassen ein Gewühl, Motorräder, Hunde, Kühe, knochendürre Lastenträger, betende Frauen in roten Saris. Die Gottheit ein schwarzer, zorniger Dämon, glubschäugig, sechsarmig, mit Totenköpfen behängt, unter den trampelnden Füßen ein toter Körper.

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In Lumbini wurde der Legende nach Buddha geboren, an den Bäumen hängen Gebetsfahnen.

(Foto: iStockphoto.com)

Die Bäume mächtig und lianenumschlungen, in ihren Kronen Schwärme weißer Reiher, in ihren Schatten in Dhotis gehüllte, mit Asche bedeckte Männer, unbewegt, die verfilzten Haare geflochten zu einem meterlangen Seil, die Pupillen vom Haschisch episch geweitet. Heilig sind die Berge, Kühe und Flüsse, zu deren Zusammenfluss zuweilen alte Männer pilgern, um dort, im Angesicht Gottes, zu sterben.

Warm ist die Luft. Es riecht nach Jasmin und Kardamom, und nur ein Stück weiter, in Pashupatinath, dem großen Hindu-Heiligtum, in dem Affen über vergoldete Dächer jagen, riecht es nach verbranntem Menschenfleisch.

Nepal. Bitterarmes Land und Sehnsuchtsort. Heimat der Giganten dieser Welt: Everest, Annapurna, Dhaulagiri, Lhotse. Nur wenige Autostunden von den Bergen des Himalaya entfernt, liegt ein anderes Nepal - das Terai. Es hat kein Basislager, keine Sherpas. Man kommt ohne Daunenjacke und Wanderstiefel aus. Weder Höhenkrankheit noch Eiseskälte erschweren das Leben. Man stirbt allenfalls im Chaos des Straßenverkehrs.

Es ist ein Stück Nepal abseits der internationalen Trekkingszene, es ist hügelig und flach, warm und feucht, Bambus knarrt im Wind, Wasserbüffel dösen vor Hütten, in denen Frauen, auf der Stirn die Tika, mit einem Strohbündel den gestampften Lehmboden fegen.

Der Weg ins Terai führt durch das Mittelland, entlang dem Prithvi Highway, einer schmalen, asphaltierten Lebensader, auf der rostige, girlandengeschmückte Lastwagen, beladen mit Benzin und Düngemittel, von Indien nach Kathmandu rumpeln. Rauschend schlängelt sich der Fluss Trisuli durch die enge Schlucht und fließt in die indische Tiefebene, hinein in den großen Strom der Sühnung, den Ganges.

In Hänge hineingekrallte, weidengedeckte Häuser ziehen vorüber, versprengt, ohne Strom und Zufahrtsweg. Auf Hügeln wachsen Sal- und wilde Mangobäume, die es vielleicht schon bald nicht mehr gibt. Immer wieder liegt Brennholz am Ufer, gebündelt und verzurrt. Abholzung, Erosion, Erdrutsche. Nepal ist nicht nur von Armut geplagt.

Brian Whyte-Singh weiß bestens Bescheid über den Himalayastaat und seine Probleme. Er hat nepalesisch-englisch-holländische Wurzeln, ist befreundet mit der entmachteten Königsfamilie, kennt fast alle ausländischen Diplomaten in Kathmandu. Der 66-Jährige ist Besitzer einer Lodge am Ufer des Trisuli, unweit von Mugling, der Abzweigung ins Terai. Es ist ein kleines, idyllisches Landgut, baumbestanden, gebaut an einem Hang, mit Garten und Blick auf die Berge und den Fluss.

Brian Whyte-Singh sitzt auf der Veranda und erläutert das lokale Projekt, das er unterstützt und das zum Ziel hat, die Bauern mit neuen, sparsamen Kochern zu versorgen, um die Abholzung zu reduzieren. Und er erzählt vom Bürgerkrieg.

Staunen über das Leben der Anderen

1996 riefen die Maoisten, eine Splittergruppe der Kommunistischen Partei Nepals, den Volkskrieg aus. Anfänglich ausgestattet mit selbst gebauten Vorderladern und Khukuris, traditionellen Krummdolchen, kämpften sie gegen die Monarchie und das hinduistische Kastensystem. Zehn Jahre lang tobte der Bürgerkrieg, 13.000 Menschen starben. Die Rebellen forderten die Entmachtung der Herrschereliten, sie enteigneten Großgrundbesitzer, errichteten Kooperativen, sie erhoben das Volk und unterdrückten es.

Schon bald hatten sie fast die Hälfte Nepals unter Kontrolle. "Eines Tages erschienen die Rebellen auch bei mir", sagt Whyte-Singh. "Sie verlangten Schutzgelder, wollten sich im Haus einquartieren." Brian zog fort nach Indien. Nun, fünf Jahre nach Friedensschluss, hat er sein Landgut um sechs Gästehäuser erweitert. Und obwohl er Hilfskräfte aus dem Dorf eingestellt hat, steht er in der Küche, bereitet Marinaden zu, kümmert sich um das Dessert.

Gleich hinter seinem Haus liegt, urtümlich und still, eine Landschaft, fern der Zeit. Tamarinden, Farne und dicke Bambusstauden wachsen in ihr, und knorrige Luftwurzeln hängen an Ästen. Auf terrassierten Feldern blüht Raps, grün leuchtet der Weizen. Ziegen meckern, Hühner picken. Mildes Abendlicht ergießt sich über Berg und Tal. Man wandert vorbei an Hütten, sieht Mütter Säuglinge stillen, sieht, wie die Menschen Korn mahlen, Wäsche waschen, zu ihren Göttern beten, man blickt in Dorfschulen, in denen Kinder in kahlen Räumen sitzen, mit nichts als einem Buch und einer Schiefertafel.

Vor einer Lehmhütte steht ein kleiner, alter Mann und faltet die schwieligen Hände zum Gruß. "Namasté", sagt er. Das heißt: "Ich grüße den Gott in dir." Er lächelt und schweigt. Und so wie er den Fremden mustert, scheu und staunend, als stehe vor ihm ein Mensch von einem fernen Stern, so mustert ihn auch der Fremde.

Wie, wenn das Leben des einen das des anderen wäre? Man spürt, wie ungewohnt der Umgang mit Fremden für die Menschen hier ist. Sie gehören den Chepangs an, einer von 100 ethnischen Gruppen, die noch vor kurzem in den Wäldern lebten und sie verlassen mussten, weil es immer weniger Wälder gibt. Sie jagten Tiere, sammelten Früchte und Pflanzen, und wenn jemand starb, begleitete der Schamane die tote Seele ins Reich der Ahnen.

Kastensystem, Ackerbau, Schule, Geld waren ihnen fremd. So oder ähnlich muss es auch rund um den Annapurna und in der Khumburegion gewesen sein, bevor die Fremden in Massen den Himalaya erstürmten.

Aber niemand stürmt ins Terai. Schlaff liegt es da, wie vom Fieber ausgesogen, zu matt, um sich zu einer Höhe, einem Berg aufzurichten. Nicht mal ein Fünftel der Landesfläche macht es aus, aber fast die Hälfte der Bevölkerung lebt in dem Tiefland, das sich wie ein schmales Band an Indien schmiegt. Das Terai, grün und feucht, von Erosionen verschont und von den monsungeschwollenen Flüssen des Himalaya jährlich durchfurcht, ist die Kornkammer Nepals.

Weizen, Rohrzucker, Mais, Linsen und Reis werden angebaut. Neben dieser domestizierten Natur ist sogar ein Stück Wildnis erhalten geblieben. Im sumpfigen Grasland Chitwans suhlen sich Panzernashörner und Krokodile, die von weitem so harmlos aussehen wie graue, umgefallene Baumstämme. Bengalische Tiger streifen durch den Dschungel und reißen ab und an weiß getupfte Axishirsche.

Einst war das Terai eine natürliche Barriere zwischen Tief- und Bergland. Der von einem dichten Dschungel und Wald überzogene Landstreifen war von Malaria verseucht. Die Karawanen durchquerten ihn nur im Winter. Heute ist das Terai die treibende, wirtschaftliche Kraft des Landes. Und es ist noch immer ein Unruheherd.

Legendärer Geburtsort des Buddha

SZ-Grafik

Die Tiefebene Terai mit dem Geburtsort von Buddha.

(Foto: SZ-Grafik)

Im März explodierten vier Sprengsätze in öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Madhesi, die Bewohner des Terai, fühlen sich aufgrund ihrer indischen Abstammung von Kathmandu benachteiligt. Die politische Organisation UDMF fordert gar die Autonomie.

Als die Malaria in den fünfziger Jahren ausgerottet worden war, strömten Scharen von Bauern auf der Suche nach Ackerland aus dem höher gelegenen Mittelland in die Tiefebene. Wälder wurden gerodet, Sümpfe trockengelegt, Fabriken gebaut. Es wurde eng. Die Bevölkerung wuchs rapide an. Viele Ureinwohner, unter ihnen die Tharus, gerieten durch die neuen Besitzverhältnisse in Knechtschaft. Die Nachfahren der aus Indien eingewanderten Bauern wurden zu Nepalesen dritter Klasse. Während des Bürgerkriegs forderten die Maoisten ihr Recht auf Selbstbestimmung. Doch an den Lebensbedingungen vieler Ureinwohner hat sich wenig geändert.

In Narayangarh, am Kreuzpunkt zweier Fernstraßen, wandelt sich das Gesicht Nepals. Knallbunte Fassaden, staubige Basare, durch die sich klapprige Fahrradrikschas schieben, mobile Garküchen und aus Radios schwebende Ragas, alles vermittelt eine Ahnung davon, welcher Subkontinent sich hinter dem dunstigen Horizont, südlich der Landesgrenze auftut.

Im Terai löst sich der Himalaya auf, er zerfließt zur Illusion, und was Gestalt annimmt, sind wuchtige Mangobäume, die die kerzengerade Straße flankieren und wie Markierungen scheinbar den Weg weisen ins winzige Lumbini. Dort, so will es die Legende, wurde Buddha der Erleuchtete geboren.

Der verschlafene Ort, ein Mekka des Buddhismus, ist die Manifestation einer Gotteswerdung. Im bodhibaumbestandenen Garten, rund um den Maya-Devi-Tempel, sitzen Wallfahrer aus Nepal, Tibet, Japan und Indien unter flatternden Gebetsfahnen. Sie lesen aus heiligen Schriften, murmeln, beten, blicken andächtig auf den weißen Tempel, in dessen Innerem ein Sandstein die Geburtsstelle Buddhas markiert.

Es gibt Buddhastatuen zu kaufen, kleine und große, bronzene Buddhaköpfe, Bücher, die die Lebensgeschichte des Gründers wie in allen Religionen glorifizierend ins Wundersame erheben. Und es gibt das weitläufige, 1978 geschaffene Klosterareal, in dem Organisationen und alle Nationen buddhistischen Glaubens prunkende Tempel bauen, als ginge es um einen sakralen, architektonischen Schönheitswettbewerb. Es ist die volkstümliche Verdrehung einer Lehre, die keine Götter und keine Vergötterung kennt.

Abends, wenn der Pilgerstrom versiegt und die Sonne hinter Reisfeldern versinkt, atmet das Land aus. Es wird still in Lumbini. Orangerot lodert der Horizont. Wasserbüffel trotten zurück in die Dörfer. Rikschafahrer sitzen bei Reisschnaps und Bidis, kleinen, handgerollten Zigaretten, in Teestuben. Hinter einem Teich spielen Kinder Fußball. Und dort, wo es keinen Strom gibt, abseits der Hauptstraße, wo Frösche quaken und in der Dunkelheit Stimmen und Gesang zu hören sind, leuchten aus Hütten und Bretterverschlägen Kerzen und Petroleumlampen, und an offenen Feuerstellen kochen Frauen.

Doch was von Nepal bleibt, sind nicht allein bukolische Bilder, sind nicht Dschungel und Tempel. Es sind zuallererst die Menschen und ihre uferlose, entwaffnende Freundlichkeit. Sie geben dem Land ein Gesicht, bringen es, für den wieder zurückgekehrten Reisenden, aus der Dunkelheit der Erinnerung zum Leuchten.

Informationen

Reisearrangement: Der DAV Summit Club bietet in Kooperation mit der nepalesischen Trekkingagentur Intrek die zehntägige Reise "Kulturwanderungen im Kathmandu-Tal" an, pro Person ab 1870 Euro inkl. Übernachtung im DZ, Halbpension und des Flugs mit Etihad Airways nach Kathmandu und zurück sowie des Inlandsflugs von Pokhara nach Kathmandu. Weitere Ausflüge sind zubuchbar. Nächste Termine: 23. Oktober 2011, 18. März 2012.

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