Serie "Reisen ohne Flug":Herbst im deutschen Urwald

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Es ist nicht ganz wie am Amazonas, aber ein schönes Wochenende garantiert der Artenreichtum des Nationalparks Hainich allemal. Besonders im Oktober sieht der Wald fantastisch aus - und bereitet doch zunehmend Sorgen.

Von Dominik Prantl

Da liegt nun der Wald in seiner ganzen gewaltigen Chamäleonhaftigkeit, langsam von Grün ins Gelb und Rot changierend; von hier oben wirkt er wie eine große bunte Blätterinsel inmitten eines Meeres aus braunen Ackerflächen. Dietrich Reiche sagt: "Dieses Jahr ist der Herbst wegen der Trockenheit schon drei Wochen eher da." Es klingt nicht so, als wäre er deshalb sonderlich begeistert.

Reiche steht gerade auf dem Turm des Baumkronenpfads im Nationalpark Hainich, 40 Meter über dem Boden, als Nationalpark-Ranger kennt er diese Perspektive. Die nur schemenhaft durch die grauen Regenwolken zu erkennenden Hügel im Süden gehören zum Thüringer Wald; so steht es zumindest auf einem kleinen Schild. Auf der anderen Seite ist der geografische Mittelpunkt Deutschlands ausgeschrieben, nur zehn Kilometer Richtung Norden, in der Nähe von Niederdorla.

(Foto: N/A)

Hier, ziemlich genau im Zentrum Deutschlands also, liegt der Hainich, mit 16 000 Hektar das größte zusammenhängende Laubwaldgebiet Deutschlands. 7500 Hektar davon sind seit 1997 als Nationalpark ausgewiesen, ein "Urwald mitten in Deutschland", wie es über den Hainich gerne heißt. Im sehenswerten Besucherzentrum zu Füßen des Baumkronenpfades illustrieren Zahlen die Bedeutung dieses Biotops: 55 Baumarten, 188 Vogel-, 52 Säugetier- und 34 Ameisenarten. Im Artenbericht 2010 sind insgesamt 5782 Tierspezies für den Nationalpark gelistet.

Experten glauben, dass es bis zu 10 000 sind, natürlich vor allem Insekten. Das kann vielleicht nicht ganz mit dem Regenwald am Amazonas konkurrieren, aber für ein Wochenende genügt der Reichtum allemal. Zudem gibt es mit der hier in guter Stückzahl vertretenen Wildkatze ein omnipräsentes Symboltier, mit dem sich die Anliegen des Nationalparks an die Besucher sichtlich besser verkaufen lassen als mit Schwefelporling, Reitters Strunk-Saftkäfer oder auch der Schabrackenspitzmaus.

Wenn Ranger Reiche über die brückenartige Konstruktion des Baumkronenpfads führt - "da, schauen Sie, ein Waschbär im alten Baumstumpf, wo sonst oft ein Mittelspecht sitzt" -, dann sieht er auch immer noch vieles, das ihm gefällt. Alleine auf diesen knapp 540 Metern durch die Kronen des Waldes kommt man an fast einem Dutzend Baumarten vorbei, auf Augenhöhe gewissermaßen, zehn bis 24 Meter über dem Boden. Sommerlinde, Winterlinde, Stieleiche, Elsbeere. Und wenn der Wind in die Äste fährt, beginnen die Bäume zu tanzen und zu rauschen, als gäbe es eine große Party für den Wald.

Wirklich Grund zum Feiern hat er aber nicht. Denn die unheilvollen Zeichen mehren sich, selbst hier, wo die üblichen Ärgernisse wie Sturmschäden und Borkenkäfer dank der gesunden Waldstruktur und dem geringen Nadelwaldanteil so gut wie keine Rolle spielen. Aber dort, diese Esche zum Beispiel, "der gefährdetste Baum in Deutschland" (Reiche) wegen des durch eine Pilzart verursachten Eschentriebsterbens. Oder da, die Rotbuche, der "Mutterbaum von Deutschland", wie Reiche meint. Im nächsten Atemzug schwärmt er dann von der Buche, als handele es sich um ein Wunderkind. "Die ist so talentiert, die steht auf Kreide auf Rügen, auf Sandboden in Mecklenburg und auf sauren Böden in Hessen." Im Hainich liege der Anteil der Rotbuche bei 50 bis 60 Prozent.

Sie ist auch der Grund, weshalb knapp 5000 Hektar im Jahr 2011 als Unesco-Weltnaturerbe ausgezeichnet und damit irgendwie auch an die gesamte Menschheit abgetreten wurden. Bei diesem hochgewachsenen Exemplar zu Reiches Linken allerdings, "da hoffe ich mal, dass sie überlebt". Die Blätter sind zerschrumpelt und braun, und das nicht wegen des Herbstes. "Das sind Trockenschäden", sagt Reiche. Auf einem grellgelben Schild unten am Waldboden steht die Warnung: "Vorsicht Bruchgefahr". Reiche sagt: "Der Wald hat sich durch die letzten beiden heißen Sommer massiv verschlechtert."

Nun ist der Ranger beileibe niemand, der zum Alarmismus neigt. Im Grunde findet er das Prinzip des Wandels an sich eher gut, so wie damals vor 30 Jahren, als die Mauer fiel. Reiche ist in der DDR in einer nicht ganz so systemtreuen Familie aufgewachsen. 1973 begann ganz in der Nähe des 2005 eröffneten Baumkronenpfades seine Waldkarriere als Forstarbeiter. Er war damit gelegentlich so etwas wie der natürliche Feind der Bäume. Seinem Vorgesetzten beim Nationalpark habe er beim Dienstantritt vor rund neun Jahren auch schon erklären müssen, dass er dem Drang, die Kettensäge anzusetzen, durchaus widerstehen könne. "Hatte ich lange genug", sagt er, und meint damit Kettensäge wie DDR.

Allerdings hat der Hainich den Status als Nationalpark und Welterbe auch ein bisschen dem Kalten Krieg zu verdanken. Der Wald rutschte ja erst durch die Wiedervereinigung von der Peripherie ins Herz der Nation. Zuvor hatten Teile davon den sowjetischen Streitkräften und der Nationalen Volksarmee als Übungsgelände gedient. Vom Aussichtsturm des Hainichblicks zum Beispiel sind noch die Schneisen zu sehen, die einst Panzer walzten. Auf der Fahrt dorthin, vorbei an einer zur Umweltbildungsstation umfunktionierten ehemaligen Garage für Militärfahrzeuge, meint Reiche eher beiläufig: "Hier Schießbahn zwei, da haben sie mit Panzerfäusten und Maschinengewehren geschossen."

Der Großteil des schon seit Langem extensiv bewirtschafteten Waldes hatte dennoch eine recht entspannte Zeit. Hunderte Jahre alte Buchen und Eichen wachsen dort zum Teil ganz ohne Haltungsschäden gen Himmel. Bläst mal der Sturm einen der teilweise kerzengeraden Stämme um, stehen unten schon die jungen Sprösslinge parat, wie gierig darauf wartend, die entstandene Lücke zu schließen, während der Gefallene als Totholz allen möglichen Organismen als Lebensraum dient. Anderswo erobert sich der Wald freie Flächen zurück oder ersetzt ehemalige Monokulturen. So wie am Craulaer Kreuz, wo der Fichtenforst im Jahr 2000 geerntet wurde. Inzwischen steht der Mischwald dort wieder knapp zehn Meter hoch. "Weide, Buche, Eiche, Kirsche, Spitzahorn", und wenn Reiche die Laubbäume so aufzählt, scheint mitzuschwingen: Pfeif auf die Fichte!

Die Erklärung zum Nationalpark und zum Weltnaturerbe gab aber nicht nur der Natur die Freiheit, wild werden zu dürfen. Sie setzte die Gegend zugleich auf die touristische Landkarte. Anne-Katrin Ibarra Wong von der Welterberegion Wartburg-Hainich, welche immerhin auch Martin Luther und das ganze Drumherum zu bieten hat, meint: "Aus Marketingsicht spielt der Nationalpark eine noch größere Rolle als der kulturelle Bereich." Alleine der für mehr als vier Millionen Euro eingerichtete Baumkronenpfad lockt dabei jährlich rund 200 000 Besucher. Etwa ein Fünftel davon kommt im Oktober, dem Monat der natürlichen Laubmalerei. An guten Herbsttagen stehen jene, die das Dach des Waldes sehen wollen, nicht selten in der Schlange.

Ziemlich sicher profitiert der Hainich dabei auch von der neu entflammten Begeisterung der Deutschen für ihren Wald. Zwischen Hessen und Usedom beginnen sich sogenannte Heilwälder und Waldbademeister im Angebot der örtlichen Kurorte zu verwurzeln, Hotels werben mit Wilder Waldküche und Baumtherapien, Autoren schreiben vom Wood Wide Web oder dem geheimen Leben der Bäume. In der Waldakademie des deutschen Lieblingswaldmeisters Peter Wohlleben kann man sich zum Waldführer ausbilden lassen oder nur ein Pilzseminar für Anfänger belegen. Selbst im bodenständigen Hainich gibt es ein Waldresort mit Burnout-Ratgeber und Shinrin-yoku (japanisch für Waldbaden). Und Reiche bestätigt sämtliche Studien über die positive Wirkung des Waldes auf das Immunsystem, wenn er meint, er sei seit seinem Dienstantritt als Ranger vor neun Jahren nie wirklich krank gewesen. Während der Mensch also den Wald immer mehr als Erholungsziel für Ausflügler und Naturklinik für die Ausgebrannten entdeckt, kämpft manch ein Baum heute selbst mit dem Stress.

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Jener der Buche lässt sich auch messen und früh erkennen, zum Beispiel an ihrem gesteigerten Fortpflanzungsdrang. "In den vergangenen 20 Jahren konnten wir beobachten, dass wir alle zwei bis drei Jahre eine Mast hatten. Da war der ganze Boden voller Bucheckern. Sonst ist das alle sieben Jahre der Fall", sagt Andreas Henkel. In der Nationalparkverwaltung in Bad Langensalza ist er für Naturschutz und Forschung zuständig; der Park ist schließlich auch ein riesiges Waldlabor. Im Gespräch zerlegt Henkel den Hainich in Raster und Probepunkte, er erzählt von Grundwasserprojekten und Biodiversitäts-Exploratorien zur biologischen Vielfalt. Aber auch er muss eingestehen: "Durch die beiden vergangenen Sommer wurde das Wissen über den Wald über den Haufen geworfen. Wir hätten nicht gedacht, dass die Trockenheit die Buche so mitnimmt."

Dabei waren weniger die geringen Niederschläge als vielmehr die hohen Temperaturen für die Trockenheit verantwortlich. Gab es zwischen 1950 und 1980 noch etwa drei Tage pro Jahr mit Temperaturen von mehr als 30 Grad Celsius im Hainich, waren es in den vergangenen zehn Jahren 14 und 2018 sogar 29 Tage gewesen. Und wer in der Nationalparkverwaltung auf eine Karte mit den sogenannten Vitalitätsänderungen der Waldflächen zwischen Juli 2018 und Juli 2019 blickt, kapiert ziemlich schnell, dass der Burn-out der Buchen vielleicht ernster zu nehmen ist als der von so manchem Geschäftsführer. In knapp einem Drittel des Waldes zeigte die Wasserarmut innerhalb nur dieses einen Jahres bereits Wirkung.

Was das für die Rotbuche langfristig bedeutet, ist freilich noch nicht ganz klar. Henkel sagt - und es klingt wie ein Versprechen: "Wir beobachten das. Wir sind gespannt." Reiche, seit einigen Jahren Großvater und kurz vor der Pensionierung, sagt: "Ich hab schon die Hoffnung, dass meine Enkelkinder noch lange was davon haben." Er meint den Wald, die Wildkatze, die Rotbuche. Aber ganz sicher ist er sich da natürlich nicht.

Die Serie im Netz: sz.de/thema/Reisen_ohne_Flug

© SZ vom 17.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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