Süddeutsche Zeitung

Nationalpark bei Melbourne:Das Paradies? Am Ende der Welt

Die Melbourner lieben den wilden Nationalpark vor ihrer Stadt, doch die wenigsten Urlaubern besuchen Wilsons Promontory. Dabei ist er eine absolute Schönheit.

Von Florian Sanktjohanser

Drei Schritte weiter, und ich hätte noch eine halbe Stunde zu leben gehabt. Auf dem Sandweg liegt eine Schlange, sie zischt nicht, sie züngelt nicht, sie liegt einfach nur da und lässt sich die Sonne auf die geringelte Lederhaut scheinen. Es ist eine Tigerotter, wie ich später erfahre, extrem giftig, selbst für australische Verhältnisse. Zwei Meter zurück, durchatmen, überlegen. Soll ich einen Stein werfen? Trampeln? Schreien? Schließlich nimmt mir die Otter die Entscheidung ab. Gemächlich schlängelt sie sich in den Busch davon.

Nein, es ist keine gute Idee, als Hans Guck-in-die-Luft durch den Wilsons-Promontory-Nationalpark zu gehen. Der Park liegt zwar nur drei Stunden Fahrt von Melbourne entfernt, doch er ist eine ernstzunehmende Wildnis. Und eine der schönsten Ecken des Kontinents, auch wenn das außerhalb des Bundesstaats Victoria kaum jemand weiß.

Wann immer es Pläne gab, hier ein Hotel zu bauen, haben die Menschen aufbegehrt

Die Prom, wie Eingeweihte sagen, ist die südlichste Spitze des australischen Festlands, wie ein Angelhaken ragt sie in die Bass-Straße. Die gebirgige Halbinsel ist der Rest einer Landbrücke nach Tasmanien, die am Ende der letzten Eiszeit vor etwa 10 000 Jahren im Meer versank. Daher auch die Ähnlichkeit: weiße Strände und Sanddünen, hinter denen gewaltige Granitfelsen aus einem Dschungel von Eukalypten brechen, Regenwald und Heide, Berge und Korallenriffe.

"Die Prom ist unser Paradies", sagt Karin Stanzel. Die 53-Jährige sitzt mit ihrem Mann Rainer, 63, vor einem Safarizelt im Tidal River Camp, es ist der Vorabend ihres 30. Hochzeitstags. Das erste Mal kamen die beiden hierher, kurz nachdem sie ausgewandert waren und geheiratet hatten. "Damals war die Halbinsel für uns alles, was Australien bedeutet", sagt Karin Stanzel. "Hier haben wir Kängurus und Emus gesehen und Rochen beim Schnorcheln." Seitdem sind sie jedes Jahr zurückgekehrt. Sie haben hier mit ihren drei Kindern gezeltet, Weihnachten und Silvester gefeiert. "Und morgen", sagt Rainer Stanzel, "öffnen wir eine Flasche Champagner in der Whisky Bay."

Die Nostalgie der Stanzels ist normal in Melbourne. Viele Bewohner der zweitgrößten Stadt Australiens haben in der Prom zum ersten Mal gecampt, mit den Eltern, der Schulklasse oder ihrer Freundin. Der Park ist ihnen ans Herz gewachsen. Wie sehr, mussten Politiker und Investoren feststellen, als sie ein großes Hotel neben das Parkzentrum am Tidal River bauen wollten. Am 29. Dezember 1996 formten Tausende Menschen auf dem Norman Beach einen riesigen Schriftzug: Hands off! "Ich habe damals zum ersten Mal in meinem Leben demonstriert", sagt Rainer Stanzel. Auf seinem T-Shirt stand seinerzeit die gleiche Botschaft wie in den 1970ern, als ein Golf-Resort geplant war, oder wie 2013, als die Regierung Parkland für 99 Jahre verpachten wollte: Finger weg von der Prom!

So sehr die Melbourner ihre Prom lieben, so wenig beachten die Urlauber aus Übersee sie bisher. Ausländische Touristen machen weniger als zehn Prozent der 400 000 Übernachtungen pro Jahr aus. Sie fahren lieber auf der Great Ocean Road nach Westen. Dabei ist die Prom einer der ältesten Nationalparks der Welt.

Schon 1898 überzeugten die Royal Society und der Field Naturalists Club von Victoria die Regierung des Bundesstaats, die Südhälfte der Halbinsel mit ihrer außergewöhnlichen Vielfalt an Lebensräumen unter Naturschutz zu stellen. Ihr Anliegen war dringend. Denn zuvor war das Gebiet brutal ausgebeutet worden.

Bald nachdem Matthew Flinders und George Bass Anfang 1798 als erste Europäer in der Sealers Cove ankerten, siedelten sich dort Walfänger an. Sie harpunierten und erschlugen so viele Robben und Wale, dass diese rings um die Halbinsel bis heute selten sind. Holzfäller schlugen die besten Bäume um, das Sägewerk lieferte Bretter für den Bau Melbournes. Rinderzüchter brannten den Busch nieder, um ihr Vieh hier weiden zu lassen. Und an der Nordspitze schürften Bergleute in einer Mine nach Zinn.

Der Nordteil des Parks ist bis heute Niemandsland. Wer dort wandern will, braucht eine besondere Genehmigung der Parkbehörde. Er muss Zelt, Karte und Kompass einpacken - und eine Schaufel. Denn Toiletten gibt es ebenso wenig wie Brücken oder markierte Wege. Um durch die Sümpfe zu waten, muss man den Rucksack über den Kopf halten. Danach darf man sich erst mal die Blutegel von den Beinen reißen.

Den weitaus meisten Besuchern ist der Südteil wild genug. Oft sieht man schon auf der Fahrt zum Parkzentrum Wallabys, spätestens aber am Abend, wenn der Grillrauch sie anlockt. Die Großfamilien begnügen sich in der Regel damit, vom Tidal River Camp zu den umliegenden Stränden zu spazieren. Oder sogar zu fahren. Von den Parkplätzen geht man nur ein paar Minuten durch die Dünen zur Whisky Bay, zur Picnic Bay oder zum berühmten Squeaky Beach, dessen Quarzkügelchen unter den Füßen quietschen. Wer ein bisschen mehr Energie hat, wandert zur Little Oberon Bay, in der man eine weitere Verfilmung von King Kong oder Robinson Crusoe drehen könnte - Schlangen inklusive. Oder er steigt auf den Mount Oberon, von dessen Gipfel man eine 360-Grad-Aussicht hat über Urwald-Hügel und Strände bis weit aufs Meer hinaus.

Noch schöner ist die große Runde zum Leuchtturm und zurück. Der Weg soll einfach und leicht zu finden sein. Ich vertraue mich trotzdem lieber Andrew Dallinger an. Dallinger, 33, ist Ranger und damit Schlangenexperte. Nebenbei sieht er aus wie ein schwedischer Surfer, weshalb ihn die Leserinnen eines Frauenmagazins 2012 zu einem der 50 begehrenswertesten Junggesellen in Australien wählten. In der Zeitschrift sah man, wie er Pinguin-Babys rettet. "Dass ich Katzen vergifte", sagt er, "habe ich lieber nicht erzählt." Aber auch das gehört zu seinem Job, denn die eingewanderten Räuber bedrohen australische Säugetiere und die Vögel im Park.

Wir wandern über einen Bohlenweg durch den Sumpf, vorbei an blühenden Gold-Akazien und Teebäumen. Ein Schwarm Gelbohr-Rabenkakadus flattert auf. Aus dem Busch ragen Felsen auf, manche sehen aus wie Statuen auf der Osterinsel, andere wie Totenschädel. Die Erosion hatte viel Zeit für ihre Kunstwerke, der Granit hier ist 380 Millionen Jahre alt.

Weiße Baumskelette erinnern an die Feuersbrünste, die regelmäßig über die Halbinsel fegen. Zuletzt brannte 2009 der halbe Park nieder, nachdem ein Blitz in einen Berg eingeschlagen hatte. Die Buschfeuer sind aber nicht nur Katastrophe, sondern auch Neustart. Einige australische Bäume brauchen das Feuer, damit ihre Samen aufgehen. "Und wenn die Teebäume nicht ab und zu niederbrennen würden", sagt Dallinger, "würden sie wie eine Monokultur alles überwuchern." Deshalb legen die Ranger sogar künstliche Brände. So wie es die Jäger vom Stamm der Brataualong Jahrtausende lang getan haben, damit das frische Gras Wild anlockt. Ihre Middens, eine Art historischer Müllberge von Muschelschalen, findet man überall im Park.

Wahrscheinlich verbergen sich einige Middens auch in den Dünen, über die wir zur Waterloo Bay hinuntergehen. Wellen rollen heran, der Sand ist blendend weiß, viel heller als an den Weststränden. Die Flüsse der australischen Ostküste spülen ihn hierher. Rund geschliffene Felsen begrenzen die weite Bucht, über die sich selbst im Sommer nur ein paar Dutzend Badende verteilen. An diesem Vormittag spaziert ein einziges Paar den Strand entlang.

Das Wetter ist oft dramatisch. Nicht nur deshalb fühlen sich Gäste wie am Ende der Welt

Wir stapfen weiter bis zum Südende der Bucht, wo der Weg steil den Hang hinauf führt. Es wird heiß und schwitzig, aber auch immer schöner. Zwischen Eukalypten und Büschen öffnen sich Ausblicke, und erst jetzt, aus der Höhe, sieht man die Waterloo Bay in ihrer ganzen Pracht: eine weiße Sichel, die zwischen das Türkis und das Grün schneidet. "Stell dir vor, du siehst dazu noch Wale im Meer", sagt Dallinger. Jedes Jahr schwimmen Buckelwale an der Halbinsel vorbei auf ihrem Weg von der Antarktis nach Queensland, wo sie ihre Kälber bekommen.

Weit oberhalb der Küste führt der Weg durch Grasbäume und Baumfarne und Myrtenheiden, deren Rinde sich abschält. Alles ist fremd und wunderschön. Die Schulklasse, die uns entgegen kommt, ist weniger begeistert. "Gefällt es euch hier?", ruft der junge Lehrer. "Nein, nein, nein, nein", bellt ein dickes Mädchen mit hochrotem Kopf zurück. Sie wandert seit Stunden und sieht aus, als würde sie gleich unter ihrem Monsterrucksack zusammenbrechen.

Unser Ziel ist schon von Weitem zu sehen, der Leuchtturm steht auf einer felsigen Landzunge in der tosenden See. Das letzte Stück des Weges ist nochmals steil, hier wurden früher alle sechs Monate die Vorräte aus dem Versorgungsschiff hochgezogen. Vor dem Turm steht ein Paar und winkt. Es sind Renata und Colin Musson, 50 und 65 Jahre alt. Die beiden sind viel herumgekommen, sie haben als Sanitäter und Verkäuferin gearbeitet und als Tauchlehrer am Great Barrier Reef. Jetzt kümmern sie sich um den Leuchtturm und um die Gäste, die im Haus des Wärters übernachten. "Wir sitzen hier am Ende Australiens", sagt Renata Musson. "Ist das nicht fantastisch?"

Die echte Südspitze, prosaisch South Point genannt, ist noch ein paar Wanderstunden entfernt. Aber hier fühlt es sich tatsächlich nach dem Ende der Welt an. Das Wetter sei immer dramatisch, sagt Renata, mit bis zu 160 Stundenkilometern tobten die Stürme um das Kap. Um ihnen zu widerstehen, ist der Leuchtturm aus Granitblöcken gebaut, die einen Meter dick sind. Heute ist es vergleichsweise ruhig. Wombats grasen auf dem Rasen, Abendsonne flutet durch die Fenster, am Horizont ziehen Frachter vorbei. Und dann sehen wir in der Ferne eine Fontäne aus dem Wasser schießen und eine Flosse aufs Meer schlagen. Dieses Mal, sagt Renata Musson, werde sie nicht so schnell weiterziehen.

Reiseinformationen

Anreise: In den Park fahren keine öffentlichen Busse. Am besten reist man per Mietwagen aus Melbourne an. Tagestouren über: www.bunyiptours.com

Unterkunft: Es gibt Zeltplätze an Buchten, im Tidal River Camp kann man Hütten, Lodges und Safarizelte buchen, im Leuchtturm in Stockbetten übernachten. Überall vorher reservieren! www.parkstay.vic.gov.au.

Aktivitäten: Veranstalter bieten Kajaken, Surfen, Klettern, Angeln, Nachtwanderungen und Stand-up-Paddling im Park an. Für Mehrtageswandertouren muss man sich bei der Parkbehörde im Tidal River Camp eine Genehmigung besorgen.

Weitere Auskünfte: http://parkweb.vic.gov.au/explore/parks/wilsons-promontory-national-park, www.visitpromcountry.com.au/wilsons-promontory, www.friendsoftheprom.org.au

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Quelle:
SZ vom 31.03.2016
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