Süddeutsche Zeitung

Nachtleben Warschau:Tanz unter dem Regenbogen

Die Warschauer Jugend ist in den letzten Jahren viel unterwegs gewesen in der Welt. Notgedrungen. Nun hat sie von überall neue Ideen für das Nachtleben in der polnischen Hauptstadt mitgebracht.

Von Nadia Pantel

Die Sonne scheint schon seit ein paar Stunden nicht mehr, und über den Plac Zbawiciela spannt sich ein Regenbogen. Neun Meter hoch, an der Unterseite Lila, oben Rot, dazwischen Blau, Grün, Gelb, Orange. Aus Regenbogenperspektive ist an ihm alles richtig. Aus Perspektive einiger Warschauer ist an ihm vieles falsch. Im Juni 2012 hat die Künstlerin Julita Wójcik ihn aufgestellt; seitdem wurde er sechsmal angezündet. Ihr Kunstwerk sei völlig unpolitisch, beteuert Wójcik immer wieder. Dennoch hassen die schwulenfeindlichen, katholischen Fanatiker ihn, die Ultranationalisten auch und die Betrunkenen haben mitgekriegt, dass die Plastikblüten, aus denen er zusammengesetzt ist, mit wenig Aufwand ein gutes Feuer abgeben.

In einer Spätsommernacht steht der Regenbogen plastikglitzernd und hell angestrahlt auf dem Plac Zbawiciela. Die verkohlten Blumen vom letzten Brand, am 7. August dieses Jahres, sind durch neue ersetzt und zwischen sie wurden Überwachungskameras, Brandmelder und eine Sprinkleranlage gebaut. Es ist der teuerste Regenbogen Polens. Und das Symbol für das neue Warschau: bunt, hedonistisch, selbstbewusst. Diesem neuen Warschau begegnet man am besten nachts. Und direkt am Rebenbogen. Denn dort beginnen die langen Abende.

Das erste Bier des Abends schmeckt nach Kalifornien. Bitter und zitronig. Ein Pale Ale aus der ersten Kleinstbrauerei der Stadt, Artezan im Süden Warschaus. Der Bart, der das Barkeepergrinsen einrahmt, könnte auch aus Kalifornien kommen, die Schirmmütze sowieso. "Die Trends hier kommen schnell und in Wellen", sagt Karol Strzemieczny, nimmt sich sein Getränk und geht in eine ruhigere Ecke der Bar.

Die jungen Polen waren viel in der Welt unterwegs in den letzten Jahren. Teils weil sie konnten, teils weil sie mussten. Die Grenzen offen, die Taschen leer. Sie haben von überall Ideen mitgebracht, wie ein anderes Leben aussehen könnte. Es gebe immer mehr Menschen, die Clubs und Bars eröffnen und das Heiraten und Kinderkriegen nach hinten verschieben, erzählt Karol. Er ist einer von ihnen: Anfang 30, in Warschau geboren, kurz in den USA gelebt. Und je älter er wurde, umso mehr verliebte er sich in seine Heimatstadt. Vor sechs Jahren hat er die Folkband "Paula i Karol" mitgegründet. Am 12. September erscheint ihr drittes Album, danach beginnt die Tour durch Polen und Deutschland.

Lieder von Paula i Karol klingen nach Amerika, naiv und unbeschwert, nach dem Versprechen, dass alles möglich ist. Die Gruppe singt von Liebe und Kindheitserinnerungen. Eine Musik, die aus jedem Radio der Welt kommen könnte. Und die doch gerade mit ihrer offenen Fröhlichkeit genau in die Warschauer Szene passt. "Wir sind die erste Generation, die wirklich in Freiheit aufwächst", sagt Karol. Und die erste Generation, die Warschau nicht mehr als Wunde wahrnimmt, sondern als Spielplatz.

21 Uhr. Zeit für das zweite Bier. Am besten in der Bar Plan B, die eigentlich immer der Plan A ist. Weil die Menschen hier genug Zeit in die Auswahl ihrer Outfits und Tätowierungen investiert haben, dass es immer etwas zu kommentieren gibt. ("Uh, die hat 'nen Karpfen auf dem Knie!") Weil die Jungs und Mädchen am Zapfhahn mehr auf die Musikauswahl als aufs Tresenwischen achten. Weil die Getränke billig sind und im Plastikbecher mit auf die Straße genommen werden können. Und weil das Plan B am Plac Zbawiciela liegt. Einer der wenigen Orte, an denen Warschaus Innenstadt weder nach großspuriger Sowjetphantasie, noch nach Märklinbaukasten aussieht. Kreisrund ist er, mit Arkaden eingefasst. An der Südseite steht die Erlöserkirche mit ihren zierlichen Türmen. Sie war mühsam wiederaufgebaut worden, nachdem die Wehrmacht 1944 die Stadt Planquadrat um Planquadrat in die Luft gesprengt hatte. Ausgerechnet auf diesem Platz steht nun der Regenbogen. Und schreit "Zukunft", an einem Ort, wo alles "Vergangenheit" murmelt.

"Hier ist der beste Ort Warschaus!" Der junge Pole im karierten Hemd strahlt. Obwohl ihm gerade beinahe 50 Zloty abgenommen worden wären. Während er ein Regenbogen-Selfie machte, kam er der Skulptur zu nahe. Sofort bauten sich zwei Polizisten vor ihm auf. Die Regenbogen-Verkehrsinsel wurde zum Sperrgebiet erklärt, wer sie betritt, bezahlt Strafe. "Ich habe denen erzählt, dass ich Schwulenaktivist bin, da haben sie sich nicht mehr getraut, mir einen Strafzettel zu geben", sagt der Mann und räumt dann ein, dass er das Bild für seine Verlobte gemacht hat. Hinter ihm beginnt es zu regnen. Sprinkleranlagen-Testlauf auf Polens bestbewachter Skulptur. "Das ist so glaube ich nicht vorgesehen", sagt Karol. Regnen soll es eigentlich erst, wenn gezündelt wird. Karol hat inzwischen einen Hund gekrault, gut zwanzig Hände geschüttelt und jeden Bekannten das gefragt, was man sich vor dem Plan B fragt: "Wohin geht ihr als Nächstes?"

",Cud nad wisłą' und 'Kurort' unten am Fluss, das '1500 Quadratmeter' für guten Techno, die ,Pawilons' gleich neben der Einkaufsmeile und ganz neu ist ein Club am anderen Ufer der Weichsel, den wir in einem ehemaligen Klohaus aufgemacht haben . . ." - Ben Guillou gehen schneller die Finger aus als die Clubs, die er aufzählen kann. Vor zwölf Jahren kam der Franzose als Erasmus-Student nach Warschau. Er blieb. Heute ist er DJ und Booker. Zu dem Hip-Hop-Konzert, das er vor Kurzem in einem Park organisierte, kamen 5000 Leute. "Dann fielen die Boxen aus." Bens Geschichten handeln eigentlich alle vom Improvisieren. Das wichtigste Wort, das er in Polen gelernt hat? "Kombinować" - sich alles selbst zusammensuchen. Und im Zweifel selber machen. "Vor zehn Jahren hat hier noch alles gefehlt. Bars, Restaurants, Clubs. Alles!" Mittlerweile ist das Ausgehen in Warschau zu einem Markt geworden. Polen ist in der Finanzkrise vergleichsweise stabil geblieben.

Die Insekten sind vor den Gästen gekommen

Er könne jetzt DJs und Künstler aus ganz Europa buchen und bezahlen, sagt Ben Guillou. Weil es in Warschau inzwischen möglich ist, fünf statt nur einen Euro Eintritt für den Besuch im Club zu nehmen. Kürzlich war ein befreundeter DJ aus Berlin da: "Der konnte gar nicht glauben, dass die Leute nicht nur cool rumstanden, sondern sofort anfingen, wild zu tanzen." Was die Stadt besonders macht? "Dass die Leute hungrig sind." Ben steht vor dem DJ-Pult in seiner Bar K, die auf einem Ponton in der Weichsel schwimmt. Er würde gerne weitererzählen, auch weil die hungrigen Leute um 22 Uhr noch nicht da sind und er vor einer leeren Tanzfläche spielen wird. Doch die Kollegen hinter der Bar fordern, dass er jetzt seine Platten auspackt. "Noch eine Stunde, dann ist es hier voll", verspricht er. Hinterm Tresen steht ein Mückenspray neben den Wodkaflaschen. Die Insekten sind vor den Gästen gekommen. Zeit, das Flussufer zu verlassen.

23 Uhr. Billiger Wodka schmeckt weniger nach billigem Wodka, wenn man ihn mit frischem Zitronensaft mischt. Karol verteilt Schnapsgläser, in denen Fruchtfetzen schwimmen. "Na zdrowie!" Einzelne Grüppchen vom Regenbogenplatz haben sich vor dem Kulturpalast wiedergefunden. Ein 231 Meter hohes Stalingeschenk. Früher gehasst, jetzt toleriert bis geschätzt. Innen drin Kinos, Theater, Büros und eine Aussichtsplattform. Drumherum viel, viel Platz. Der sollte einst das Gebäude noch monumentaler wirken lassen. Heute jedoch wird der Beton zur Tanzfläche. Zwei Frauen haben ihr DJ-Pult und einen Lautsprecherturm direkt neben dem Haupteingang des Kulturpalasts aufgebaut. Die Theaterbar Studio hat ihren Tresen nach draußen verlegt. "Touched for the very first time" singt Madonna und die Ersten werfen die Hände in die Luft, als hätten sie seit den 90er-Jahren Radioentzug.

Eine Frau Namens Ola läuft in einem schwarzen Einteiler mit tiefem Rückausschnitt herum, verteilt Schokoladenbonbons und erzählt allen, dass sie ihren 25. Geburtstag feiere. "Und das nicht zum ersten Mal!" Ania steht daneben, nimmt ein Bonbon, lacht und erzählt, dass sie gerade von London zurück nach Warschau gezogen sei. "Endlich", sagt sie, hakt ihre schwankende Mitbewohnerin unter und verabschiedet sich: "Die muss ins Bett." Madonna wird von den Hip-Hoppern A Tribe called Quest abgelöst, und während Karol die Umstehenden damit beeindruckt, dass er den Text mitsprechen kann, ist Zeit für eine letzte Regenbogenfrage an die Kunststudentin, die seit der zweiten Wodkarunde mit im Team ist. Gefällt ihr die Skulptur?

Schön oder nicht schön sei doch gar nicht die Frage, winkt sie ab. Entscheidend sei, ob es sinnvoll ist, den Regenbogen immer wieder aufzubauen. "Wir sollten ihn so stehen lassen, wie Polen ist", sagt sie: "Gespalten." Gespalten in jene, für die die alten, katholischen Werte eine Stütze sind und jene, die sie als Belastung empfinden. In jene, die von Handlangerjobs, Mini-Rente oder Arbeitslosengeld leben müssen und jene, die ihren Platz gefunden haben. Hier die Menschen, die zurückbleiben, dort Menschen, die feiern. Ein Regenbogen mit verkohlten Füßen sei da doch ehrlicher als einer, der von der Polizei bewacht wird, sagt die Studentin. "Dann kann man die Konflikte, die wir haben, auch sehen."

Video von Helena Ratka (www.helenaratka.com)

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2117252
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 11.09.2014/ihe
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.