Süddeutsche Zeitung

Nachtleben in Tunis:Auf die Freiheit!

Die Revolution in Tunesien hat auch das Nachtleben verändert. Auf einmal eröffnen Musikbegeisterte in Tunis Clubs, verkaufen Bier in Flaschen und verlangen keinen Eintritt. Ihnen geht es um mehr, als mit Feiern Geld zu verdienen.

Von Sarah Kanning

Rein ins Auto und raus aus den staubigen Straßen der Innenstadt, vorbei am Fußballstadion, an Möbelhauskomplexen, rauf auf die Stadtautobahn. Zur Rechten liegt der See von Tunis, die Lagune zwischen Stadt und Mittelmeer. Immer weiter, 25 Minuten, der Industriehafen fliegt vorbei, der Yachthafen, dann die Küstenorte La Marsa, La Goulette, Gammarth. In den Vororten am Meer wohnen die Reichen und treffen sich die Alternativen, die Heavy-Metal-Anhänger und die Rastahaarigen. Und hier findet das Nachtleben der jungen Tunesier statt.

"Wenn wir richtig ausgehen wollen, dann dort", sagt Cheker Berhima, der für die Arbeit in die Hauptstadt gezogen ist. "Angesagt und lässig wird es in Tunis dort, wo Bus und Metro nicht hinfahren." Der junge Tunesier hat ein Taxi genommen, acht Euro kostet die Fahrt. Nachttarif.

Und das hat dann auch seinen Zauber: Vor dem Eingang zur Bar stehen und das Meer rauschen hören. Doch dass es Tunesiens Jugend abends in die Vororte zieht, liegt nicht nur am Coolnessfaktor der Reichenviertel. Für die Bar-Betreiber ist ein anderer Grund entscheidender: Außerhalb der Stadtgrenzen kommen sie leichter an die Lizenz zum Alkoholausschank. Im Zentrum warten sie oft eine Ewigkeit. Getrunken wird zwar reichlich in Tunesien, vor allem in den Städten, doch eher im Geheimen. Alkohol gibt es in dem überwiegend islamischen Land nur in bestimmten Bars und Discos, in Hotels und ausgewählten Restaurants. Niemals am Kiosk, im Café oder in kleinen Supermärkten.

Tunesien ist ein zerrissenes Land. Dreieinhalb Jahre nach der Jasmin-Revolution kämpft es noch immer mit den wirtschaftlichen Folgen. Die Unsicherheit ist groß, die Enttäuschung ebenso. Vor allem Frauen erzählen, dass sie sich bei Nacht unsicher fühlen. Sie haben Angst vor Kriminellen in den ausgestorbenen Straßen, ohne die harte Hand des Staates, der einst alles kontrollierte. Doch die Revolution hat auch neue Freiheiten gebracht. In Tunis brach eine Gründerdynamik aus, die man nach dem Wahlerfolg der Islamisten bei der verfassungsgebenden Versammlung im Jahr 2011 nicht erwartet hätte: Junge Männer, frankophil, musikaffin und ein bisschen rebellisch, haben in den vergangenen Jahren ein halbes Dutzend Clubs eröffnet.

Die Gäste sind vorwiegend Tunesier, ein paar Touristen und Ausländer, die Rockmusik und Metal, Indie und Hip-Hop mögen - und einen etwas anderen Lebensstil pflegen: unabhängiger, frei, weltoffen. "Diese Leute gab es vorher schon - aber jetzt haben sie uns gefunden, und es werden immer mehr", sagt Khaled Trabelsi, einer der Betreiber des Le Plug.

Der Nachtclub steht auf Stelzen über dem aufbrandenden Meer in La Marsa, vom Rost verfärbte Ölfässer dienen als Tische, Stahlrohre durchziehen die unverputzten Wände. "What doesn't kill you makes you strong", hat sich Trabelsi auf den rechten Arm tätowieren lassen, inspiriert von einer Liedzeile von Metallica. Sein Schädel ist rasiert. Wer in Tunis so aussieht, fällt auf. Khaled Trabelsi nennt sich "militant de la musique", Freiheitskämpfer für die Musik. Das eintätowierte Zitat ist sein Lebensmotto. "Ich gehe meinen Weg - und der Rest interessiert mich nicht", sagt er, während nebenan eine schmale Kellnerin mit Nerdbrille und Undercut leere Celtia-Bierflaschen einsammelt.

Aus den Lautsprecherboxen dröhnt Elektromusik. Es wirkt, als habe Trabelsi sich vor Jahren einen Schutzpanzer gegen die Härte der Ben-Ali-Diktatur zugelegt: "Unter Ben Ali waren Anhänger alternativer Musik als Satanisten verfemt." Der 34-Jährige begann dennoch, halböffentliche Konzerte zu organisieren. "Nach wenigen Minuten standen Sicherheitskräfte des Staatsapparats vor der Tür." Nur mit Glück entging er Strafen.

Nach der Revolution schloss er sich einem Künstlerkollektiv an, das 2012 Le Plug entstehen ließ - einen Club in einem Gebäude, das wie eine Moschee aussieht. Die hart erkämpfte Meinungsfreiheit spiegelt sich im Nachtleben wider - vor allem, seit der Rückhalt der Islamisten in der Bevölkerung schwindet: "Zum ersten Mal können wir jetzt in Ruhe Konzerte veranstalten", erzählt Trabelsi, der 2007 sein erstes Restaurant eröffnet hatte. Koubet el Haoua, Kuppel des Windes, heißt das weiße Haus, in dem vor mehr als 150 Jahren der damalige Bey von Tunis urlaubte, der Herrscher der Stadt. Heute werden im Erdgeschoss im Restaurant Le Factory Burger gebraten. Das Le Plug ist in den darüberliegenden Geschossen untergebracht, hier legen DJs auf.

An der Bar sitzt Hella Loukil. Sie raucht und scherzt mit einem der Barkeeper. Man kennt sich. " Le Plug ist einzigartig, weil die Gäste so vielfältig sind", sagt die 29-Jährige mit den langen dunklen Haaren. Sie ist jede Woche da, "weil es lässig ist". Ausgegangen sei sie genau wie die anderen Tunesier auch schon vor der Revolution, sagt sie, daran habe sich nichts geändert. Doch dass Musikbegeisterte Clubs eröffnen, keinen Eintritt verlangen und Bier in Flaschen verkaufen, das sei dann doch eine Besonderheit: "Vor der Revolution musste man sich richtig aufbrezeln zum Weggehen, es gab vor allem VIP-Clubs, wo der Wodka flaschenweise verkauft wurde." Wer es damals gediegener wollte, fuhr in die Touristenzentren Hammamet oder Sousse.

Und genau dort würden Mehdi Hamouda und Karim Latrous, beide Anfang 30, gerne einen Ableger ihres Carpe Diem aufbauen. Die Clubchefs tragen Hip-Hop-Mützen, Tattoos, Baggy-Hosen. Vor zwei Jahren eröffneten sie ihre Resto-Bar, eine Mischung aus Restaurant und Tanzlokal, zwischen La Marsa und Gammarth. An guten Abenden schieben sich schon mal 700 Gäste durch die beiden hallenartigen Räume. Das Carpe Diem ist schick und teuer. Ein Bier für 3,50 Euro, geschichtete Shots namens Orgasmus, Lady Gaga oder Alien Brain für fünf Euro - das sind stolze Preise in einem Land, in dem das Durchschnittseinkommen bei weniger als 400 Euro liegt. Doch der Club ist voll. "Unser Publikum sind Tunesier um die 30, die noch bei den Eltern wohnen, weil sie noch nicht verheiratet sind", sagt Mehdi Hamouda, "aber schon ihr eigenes Geld verdienen."

Auch Frauen können hier rauchen und Bier trinken, ohne belästigt zu werden

Mehdi Hamouda kommt aus der DJ-Szene, hat einige Jahre in Frankreich gelebt. Zurück in Tunesien, langweilte er sich mit dem Musikangebot, begann DJ-Abende zu organisieren: Rock, Heavy Metal, Electro, Techno im eigenen Wohnzimmer, manchmal kamen bis zu 70 Gäste. Als nach der Revolution die Touristen ausblieben, bot ihm ein Freund einen Teil des Restaurantkomplexes Le Relais an. Früher hielten hier Busse mit Pauschaltouristen, dann standen die Räume leer. Mehdi Hamouda und Karim Latrous eröffneten im Oktober 2012.

"Im Carpe Diem gilt das Motto: Was hier passiert, bleibt hier", erzählt Mehdi Hamouda. Das klingt verruchter, als es ist. Gemeint ist: Die Betreiber wollen, dass auch Frauen hier unbelästigt feiern können, Bier trinken, rauchen. An den Türstehern kommen sie viel leichter vorbei als Männergruppen. Einmal sind Frauen im Vorteil. Hier sind sie unbehelligt von den wenigen, aber militanten Traditionshütern, die es am liebsten hätten, wenn sie gar nicht ausgingen, sondern, wenn überhaupt, in Cafés blieben. Bei Tee, Säften und vielleicht mal einer Shisha. "Tunesien braucht Orte wie das Carpe Diem", sagt Hamouda. Für Hamouda ist es kein Widerspruch, dass er, der in Frankreich lebte, jetzt in Tunesien vorlebt, was seiner Meinung nach Gleichberechtigung und Emanzipation bedeutet. "Wir haben doch Glück, dass wir die Freiheit des Geistes kennen", sagt er schlicht.

Für die Gäste sind die neuen Clubs eine Ergänzung zu den bisherigen Discos und Bars. Am einen Abend gehe sie in den Club, am nächsten in ein Shisha-Café, dann in eine schicke tunesische Disco oder zu Freunden nach Hause zu Bier und Cocktails, erzählt die 28 Jahre alte Fatma. Ihren Nachnamen will sie nicht sagen, damit es zu Hause keinen Ärger gibt. Sie mag auch gerne La Villa, eine der wenigen Bars im Stadtzentrum, die dort eine Genehmigung für Alkohol ergattert hat. Sami Baccouche ist hier seit sechs Monaten Manager, neue Menükarten sind gerade im Druck. Baccouche bietet Mittagstisch für Angestellte und After-Work für Laufkundschaft. Dann treffen sich Tunesier zu Bier und gegrillten Calamari, Jazzbands spielen, und auf Flachbildschirmen laufen wichtige Fußballspiele.

Die Club- und Barszene in und um Tunis verändert sich rasant: Betreiber wechseln, neue Clubs ziehen ein, die aussehen wie in Paris oder London. Khaled Trabelsi vom Le Plug hat gerade seine zweite Bar eröffnet, Le Plug Pub in La Goulette, mit mehr Platz. "Für ein Publikum, dem Le Plug La Marsa inzwischen zu jung ist", sagt er. Die Leuchtreklame vom Club Roosevelt, der vorher in den dunklen Räumen untergebracht war, hängt noch am Eingang. Drinnen schmücken die Band-Logos von Muse, The Doors, Metallica und Cannibal Corpse die Wände.

Nur wenige Meter daneben hat vor zwei Monaten das Lucky Luke aufgemacht: ein Nachtclub, der als einer von ganz wenigen bis fünf Uhr früh geöffnet hat. Wenn die anderen Clubs um zwei Uhr schließen, stehen die Partywilligen vor den massigen Türstehern Schlange. "Aber wir kontrollieren nur die Taschen, nicht die Gesichter", beteuert Betreiber Jean Jasmins. Er ist klein, bullig, die strähnigen Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Jasmins ist einer vom alten Schlag, er hat wenig gemein mit den neuen Betreibern von Plug, Carpe Diem oder La Villa. Dabei ist er es, der sie geprägt hat: Vor der Revolution war sein Club Les Jasmins einer der ganz wenigen, die Rock- und Metal-Abende veranstalteten.

Das Lucky Luke ist jetzt so etwas wie die verrucht-abgeranzte Variante der schicken neuen Clubs. Jasmin nutzt sein Alleinstellungsmerkmal als Werbung: "Das Bier ist hier zwar etwas teurer als anderswo, die Deko ziemlich abgewrackt - aber dafür machen wir Stimmung, bis die Fischer mit ihren Booten auslaufen."

Die Straßen sind menschenleer, als die Lucky-Luke-Gäste mit dem Ruf des Muezzins müde den Club verlassen. Ins eigene Fahrzeug will niemand mehr steigen. Gut, dass in kleinen gelben Autos Licht brennt: Jetzt schlägt die Stunde der Taxifahrer.

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Quelle:
SZ vom 30.04.2014/cag
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