Süddeutsche Zeitung

Nachtleben in Tel Aviv:Wenn es dunkel wird, tobt der ungestüme Hedonismus

Hier wohnt man nicht, sondern hetzt durch: Tel Aviv ist tagsüber eine von vielen hektischen Großstädten. Nachts aber zeigt sich auf der Lilienblum-Straße eine Metropole, die niemals schläft.

Von Peter Münch

Wenn es Nacht wird in der Lilienblum, dann parken die Autos auf dem Trottoir und die Menschen schlendern mitten auf der Straße. Die Hitze schleicht sich aus der Häuserflucht, es ist die Zeit des Aufatmens und Durchatmens. Unter dem Pflaster liegt immer noch der Strand, doch Badelatschen trägt hier ausnahmsweise kaum noch einer. Zwar ist der Weg zur nächsten Bar nie weit, aber jede Partynacht gleicht einem Gipfelsturm, und dafür braucht man festes Schuhwerk, gern auch hochhackig. Hinter bunt bemalten Ziegelmauern oder schwarzen Türen liegen die Attraktionen versteckt. Die Welt da draußen kann warten bis zum nächsten Morgen.

Die Rehov Lilienblum, benannt nach dem Gelehrten, Reformer und frühen Zionisten Mosche Leib Lilienblum, ist eine schmucklose Straße im Herzen Tel Avivs. Natürlich ist es eine Einbahnstraße, weil in dieser Stadt immer nur alles mit Volldampf in eine Richtung geht. Der Abschnitt zwischen der Herzl- und der Allenby-Straße misst gerade einmal 250 Meter, doch auf diesen 250 Metern Tel Aviv zeigt sich die ganze Vielfalt einer Metropole, die bis zum Umfallen stolz darauf ist, dass sie niemals schläft.

Wer sich zufällig am Tag in die Lilienblum verirrt, der findet das typische Tel Aviver Gemisch aus Bauhaus und Bausünden, angereichert durch Baustellen. Hier wohnt man nicht, hier hetzt man durch - oder man arbeitet in einer der vielen Bankfilialen und steht zur Pause rauchend vor dem Portal. Doch die Hauswände mit den halb zerfetzten Plakaten, die von kommenden oder längst verklungenen Partys künden, verweisen darauf, dass diese Straße ein Doppelleben führt. Hässlich bei Tage, und auch in der Nacht gewiss nicht schön - aber ziemlich aufregend.

Kulinarisch-erotische Beziehungen

Der Abend beginnt im Abraxas Nord, einem Restaurant des Promi-Kochs Eyal Shani. Auffällig geworden war er einst durch seine irgendwie kulinarisch-erotische Beziehung zu jungem Gemüse, konkret: Tomaten und Blumenkohl. Alles also wird mit Liebe gekocht und mit reichlich Hype garniert. Der Speisekarte zufolge "rastet" das Fleisch auf einem Brot oder "sitzt" auf einer Bruschetta. Es gibt ein Lamm-Gericht ohne Lammfleisch, und als Special von der Tageskarte preist die Kellnerin einen "Free Style Salad" an, "mit allem, was grün und weiß ist in der Küche".

Es ist ein Kult, wie er gern gepflegt wird in Tel Aviv, und deshalb sind sowohl die große Theke als auch die Tische draußen stets voll besetzt. Gewiss, man muss es mögen, dass die Bedienung bei Aufnahme der Bestellung ihren Fuß auf dem Stuhl platziert, und dass der Service nicht selten vom Coolen ins Arrogante hinüberlappt. Doch da muss durch, wer dazugehören will zur eingeschworenen Abraxas-Gemeinde - und sich anschließend gut gesättigt den Drinks nebenan zuwenden will.

Denn nur ein paar Meter weiter südlich lockt die Abraxas-Bar mit ehrlichen Gin Tonics. Die Musik ist laut, die Stimmung aufgekratzt aus Überzeugung und Prinzip, und wer einsam ist, der muss es nicht bleiben. Hier könnte man schon einmal einen Abend lang versacken - wenn es nicht noch so viel anderes zu erleben gäbe in der Lilienblum.

Zum Beispiel Live-Musik, fast jeden Abend in einem, nun ja, Schuppen namens Tsusamen. Klingt vielleicht hebräisch, soll aber deutsch sein und das Lokal als Ort der Zusammenkunft definieren. Der frühere Besitzer habe sich diesen Namen ausgedacht, sagt der Mann an der Abendkasse. "Er hat sich aber inzwischen umgebracht", ergänzt er noch. Das ist mehr Information, als man sich gewünscht hätte - tut der Stimmung drinnen aber keinen Abbruch.

Es ist eine jener erfreulich vielen Live-Musik-Kneipen in Tel Aviv, in denen allabendlich die ganze Palette von Rock über Blues bis zum Jazz geboten wird. Die Bühne ist hinten links in der Ecke aufgebaut - drei Hocker, drei Mikrofone, mehr nicht. Im Tsusamen herrscht die altmodische Übersichtlichkeit der Siebzigerjahre: Man trinkt Bier. Man kennt sich. Es kommen Alte und Junge. Hauptsache, lange Haare. Und die Patina an den Wänden stammt bestimmt nicht nur vom Zigarettenrauch.

Wenn gegen Mitternacht die Konzerte hier gespielt und die Gitarren verräumt sind, hat sich draußen die Straße endlich gut gefüllt. Aus der Mitbach Leila, der Nachtküche, dringen Funk-Rhythmen und die lauten Stimmen all derer, die den späten Hunger stillen oder eine gute Grundlage für all das legen wollen, was noch kommen soll. Auf dem Menü stehen "Nachtaktive Tiere", "Nachtschwimmer" und "Vegetarisches" - alles frisch, alles originell und äußerst schmackhaft vom Hamburger über die Calamari bis zum Tomaten-Carpaccio.

Ganz klar: Die Mitbach Leila hat das Potenzial zum Stammlokal, in dem Personal und Gäste an jedem Abend gemeinsam eine Party feiern. Alles gruppiert sich um die lange Theke herum, hinter der im Akkord die Drinks gemixt werden. Und hinter der Theke steht Didi, der Koch, und verrichtet mit seinen drei bis vier Mitstreitern fröhlich Schwerstarbeit in seiner offenen Küche. Vor anderthalb Jahren hat er das Lokal mit anderen zusammen eröffnet, nach Lehr- und Wanderjahren in der Tel Aviver Gastronomie ebenso wie in Frankreich. Seine Philosophie ist so einfach wie bestechend: "Gutes Essen in guter Atmosphäre". Und wenn er um zwei Uhr oder später die weiße Schürze abstreift, dann hat er für die verbliebenen Gäste noch einen heißen Tipp zum Weiterfeiern: "Das Nanuchka", sagt er, "ist eine Legende."

Bis zum Nanuchka allerdings sind es rund 200 Meter quer durch die Lilienblum-Straße, und an anderweitigen Versuchungen rechts und links des Weges mangelt es nicht. Hinter einer bis mindestens Mitternacht verschlossenen schwarzen Tür zum Beispiel hat urplötzlich ein Club namens OCD geöffnet. Das Kürzel, so erklärt es der wahrscheinlich in Psychologie promovierte Türsteher, steht für "obsessive compulsive disorder", zu Deutsch: Zwangsstörung. Wer Hardrock und Härteres für Ruhestörung hält, sollte besser draußen bleiben. Drinnen im Getümmel wird Goldstar-Bier aus Flaschen getrunken. Der Boden ist so schwarz wie die Wände und die Decke, nur ein paar Lichtblitze treffen ab und an die schwarz-gewandeten Figuren auf der Tanzfläche. Hier ist die Nacht tatsächlich noch dunkel - aber laut.

Im Nanuchka geht es da doch deutlich bunter zu. Seit 13 Jahren schon gibt es das Lokal als wüste Mischung aus georgischem Restaurant und Club. Für Tel Aviv, das sich in Lichtgeschwindigkeit verändert, ist es also fast schon ein Relikt aus der Steinzeit. Doch in diesen 13 Jahren hat es nicht nur einen Ortswechsel, sondern auch manch anderen Wandel überlebt. "Die Leute lieben Veränderungen", sagt die Besitzerin Nana Shrier - und deshalb hat sie ihre stadtbekannte deftige Küche kürzlich auf vegan umgestellt. "Das war die beste Entscheidung, die wir je getroffen haben", sagt sie. "Wir wollen kein Geld mehr auf dem Rücken der Tiere verdienen."

Geld verdient sie aber gewiss auch so noch genug, denn alles Pflanzliche will begossen sein. "Das Nanuchka ist ein sehr fröhlicher Platz", sagt Nana Shrier, "wir denken daran, dass das Leben sehr kurz ist und wir es feiern müssen."

In der von DJs beschallten Bar braucht man das niemandem zweimal zu sagen. Nicht nur, weil alles so eng und drangvoll ist, wird die mit Gläsern und Tellern gut gefüllte Theke schnell zur Tanzfläche. Hoch oben auf dem Tresen findet jeder seine Bühne. Es tobt der ungestüme Hedonismus, der höchstens einmal dadurch kurz gebremst wird, dass ein Minirock-Mädchen mit dem Hinterteil im Nachtisch landet. Macht aber nichts, das Dessert kann man ja nachbestellen.

Jede Nacht vibriert das Nanuchka. Wenn hier die Pforten schließen, ist es draußen auf der Straße längst schon wieder ruhig. Natürlich kann man anderswo noch weiterfeiern in Tel Aviv - im Clara am Strand oder in den Clubs im schäbig-urigen Süden der Stadt. Aber eigentlich sollte man heimgehen, wenn es Morgen wird in der Lilienblum.

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Quelle:
SZ vom 26.06.2014/cag
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