Nachtleben in Lissabon:Roter Alarm

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Seit mehr als zehn Jahren der Club der Stadt: das Lux Fragíl, das John Malkovich gehört. (Foto: Imago Stock&People)

Im Lissabon bei Nacht geht es nicht nur beim anstehenden Finale der Champions League heiß her. In ehemalige Bordellen sind Kneipen eingezogen, ein Laden ist umso besser, je voller er ist - und spätnachts isst man Fisch aus der Dose.

Von Andreas Glas

Türsteher bauen sich auf, Frauen werben in kurzen Röcken um Einlass, Betrunkene fixieren die Röcke, so gut sie noch können. Es ist zwei Uhr früh in der Rua Nova do Carvalho, vor den Clubs reiht sich Menschenschlange an Menschenschlange. Doch der vollste Laden ist kein Club, im Sol e Pesca gibt es auch nichts umsonst, es gibt dort: Dosenfisch.

Schon klar, nachts folgt die Nahrungsaufnahme eigenen Gesetzen, aber: "Eine Hafenstadt, in der man Fisch aus Dosen isst, das ist schon ziemlich rough", sagt Kellner Rodrigo Contino. Und er sagt: "Das ist genau der Grund, warum die Leute zu uns kommen. Weil sie es rough mögen."

"Rough" also, rau, derb. Kein schlechtes Wort, um das neue Zentrum des Lissabonner Nachtlebens zu beschreiben. Früher war das Hafenviertel Cais do Sodré ein Rotlichtbezirk, erst vor drei, vier Jahren sind Restaurants, Kneipen, Clubs in die ehemaligen Puffs und Striplokale eingezogen. Sie haben den Asphalt lippenstiftrosa gestrichen, aber die Fassade ist so abgeschminkt wie zuvor. Überall blättert Putz, auch von der grauen Hauswand des Sol e Pesca.

Eng wie in einer Sardinenbüchse

Der Laden ist winzig und schmal. Enger ist es höchstens in den Sardinenbüchsen, die hübsch drapiert hinter Vitrinenglas liegen. Ein Glück, dass Rodrigo Contino so dürr ist, so fällt es ihm leichter, sich durchs Gewusel zu zwängen und die Biergläser auf die Terrasse zu balancieren. Er hat Ärmchen wie Streichhölzer und Beinchen wie Stelzen, trägt Jeansröhre und Chucks, die Schürze ist eine Nummer zu groß für ihn. Oder er eine Nummer zu klein für die Schürze. Eben ein dürrer Hering, will man sagen, aber das wäre dann doch zu billig, um den Kellner eines Fischlokals zu beschreiben.

Die Menschen bilden eine Mauer, doch er will da jetzt durch. Er will raus, er hat jetzt Schichtpause. Ein paar Minuten später steht Rodrigo Contino in einer Seitengasse, dreht sich eine Zigarette, atmet durch und sagt: "Anthony Bourdain ist an allem schuld." Vor zwei Jahren sei der amerikanische Pop-Koch im Sol e Pesca aufgetaucht, "danach war der Laden chic und ging durch die Decke."

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Um im Bild zu bleiben: Die frühere Puffmeile ähnelt jener Welt, die Bourdain in seinen Büchern über die Koch-Szene entworfen hat. Grob, ein bisschen versaut. Ziemlich rough eben.

Doch so angesagt Cais do Sodré auch ist, die Nacht beginnt in Lissabon woanders. Zum Beispiel am Miradouro do Adamastor, einem Platz mit fantastischem Blick über den Tejo, wo die Menschen am frühen Abend auf noch warmen Steinstufen sitzen und Bier aus Zweiliterflaschen trinken. Wer Hunger hat, geht hinüber ins Café Noo Bai und isst eine Tosta de queijo de cabra, geröstetes Brot mit Ziegenkäse.

Der Miradouro do Adamastor ist einer dieser Orte, wo aus einem Bier drei werden. Und irgendwann ist Mitternacht und der Platz ein Teppich aus leeren Flaschen und Zigarettenkippen. Nach Mitternacht geht es über unebenes Pflaster bergab durchs Bairro Alto, das hoch gelegene Altstadtviertel. Wer High Heels trägt, ist selbst schuld. Oder Tourist. Wie das deutsche Pärchen, das vor dem A Capella steht.

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Er: "Uhh, ist das voll da drin."

Sie: "Mist."

Dann hakt sie sich bei ihm ein - und stöckelt davon. Die Lissabonner ticken da anders: "Nur ein voller Laden ist ein guter Laden", sagt Ana, die an der gefliesten Fassade der Bar A Capella lehnt. Neben ihr, am Eingang, hängt ein Schild: "Cocktails (sweet/sour); DJ's (only the worst)." Wer im Bairro Alto lebt, arrangiert sich mit all den Kneipen, die viel zu klein, viel zu laut und viel zu voll sind. "Wenn drin kein Platz ist, dann tanzen wir eben auf der Straße", sagt Ana, drängt sich zum Tresen durch, wuselt wieder hinaus auf die Straße - und bringt Bier für ihre Freundinnen.

Die Fenster der Clubs und Bars in der Rua da Atalaia stehen offen, der Bass wird zwischen den Häuserwänden hin und her geschleudert. Hier dominiert nicht dieser perfekte Beat, der über Stunden gleichmäßig dahin wummst. Auch im Bairro Alto gibt es Electro-Clubs, richtig gute sogar, aber nicht in der Masse wie etwa in Berlin, wo in den Szenevierteln fast schon Electro-Diktatur herrscht.

Nachtleben als demokratischer Ort

Im Bairro Alto darf alles gehört werden, auch gemixt: Afro-Rhyth-men, Pop, Latino-Beats, sogar klassische Musik. Hier ist das Nachtleben ein demokratischer Ort, niemand wird ausgeschlossen, Touristen und Einheimische feiern miteinander statt gegeneinander. "Es gibt Viertel, die sind irgendwann in und irgendwann wieder out", sagt Ana, "aber das Bairro Alto kommt nie aus der Mode."

Zurück an jenem Ort, der gerade in ist. Das Cais do Sodré. Es ist kurz nach zwei, die Sardinen aus der Dose liegen leicht im Magen, es geht jetzt in den spektakulärsten Club des Viertels. Das Pensão Amor war früher ein Stundenhotel für Seemänner - und hat diesen Charakter nicht verloren.

Auf durchgetretenen Stufen geht es nach oben, vorbei an rissigen Betonwänden, die Künstler mit überdimensionalen Comic-Schönheiten bemalt haben. Man sieht Strapse, Netzstrümpfe, gespreizte Beine und sehr viele, sehr große Brüste. Wer den Riesenbrüsten folgt, kommt in einen schummrigen Salon mit Plüschsesseln und Spiegeln an blutroten Wänden, über den Köpfen der Nachtmenschen spannt sich ein riesiger Druck von Michelangelos Kirchenmalereien.

Hinter dem Salon beginnt ein Labyrinth aus kleineren und größeren Räumen. Man sieht rostige Bettgestelle, knutschende Menschen, Stripclub-Metallstangen, die zwischen Boden und Decke klemmen - und, klar: Plüsch, Plüsch, Plüsch. An der Bar im Tanzraum steht Jedd und versucht, sich zur Studio-54-Mucke zu bewegen. Er kommt aus North Carolina, macht hier Partyurlaub mit Freunden. Jedd ist ein Mittzwanziger mit voluminösem Fusselbart, dessen Beschaffenheit er selbst als "fluffy" bezeichnet. Seine Gewichtsklasse: schwer. Sein Zustand: mittelschwer betrunken. Wie er den Laden findet? "Fucking crazy", sagt er, um noch mal brüllend zu wiederholen: "Fucking craaaazyyy!"

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Ein bisschen verrückt ist auch die Sache mit dem Sex-Shop. In einem Hinterzimmer haben die Macher des Pensão Amor einen Laden für Sexartikel eingerichtet. Hinter einem winzigen Tresen, zwischen Dildos und Reizwäsche, steht Maria und wartet auf Kundschaft. Ob hier tatsächlich jemand einkauft, mitten in der Nacht? "Klar", sagt Maria, "aber vor allem aus Spaß. Das sind oft Leute, die sonst nie in einen Sex-Shop gehen würden. Hier aber kommen sie zufällig vorbei, weil sie es nicht erwarten. Und dann kaufen sie auch ein, weil sie gut drauf sind."

Dass inzwischen auch die Touristen das Pensão Amor entdeckt haben, stört die 25-Jährige nicht, ganz im Gegenteil: "Dieser Ort vereint Menschen, das ist doch wunderbar. Ich liebe es, am liebsten würde ich hier einziehen. Hier fühle ich mich wie in einem David-Lynch-Film."

Es ist jetzt vier Uhr morgens. Wer um diese Zeit ein letztes Mal über die Rua Nova da Carvalho spaziert, kann diese David-Lynch-Atmosphäre tatsächlich spüren. Die Straße ist inzwischen leerer geworden, trostloser, irgendwie bedrohlich. Urin rinnt über das Kopfsteinpflaster, ein Glatzkopf übergibt sich, an den Fassaden funkeln in Leuchtschrift die Namen der Bars, die schon so hießen, als noch die Seemänner hierherkamen: Oslo, Copenhagen, Rotterdam. Es ist Zeit für die letzte Station der Nacht, mit dem Taxi geht es zu einer alten Lagerhalle am Hafen, flankiert von den Metallkrallen der Kräne.

Fragt man die Lissabonner nach dem Club der Stadt, fällt seit mehr als zehn Jahren der gleiche Name: das Lux Frágil, das dem US-Schauspieler John Malkovich gehört. Entgegen aller Prophezeiungen hat der dreistöckige Tempel seine Anziehungskraft für europäische Top-DJs nicht verloren. Im Keller läuft harter Electro, in der Zwischenetage Chill-out-Musik und ganz oben, auf der Dachterrasse, kann man der Nacht so lange zuschauen, bis sie zum Tag wird - und es Zeit ist zu gehen.

© SZ vom 22.05.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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