Nach der Bruchlandung:Gepäck oder Leben?

Plane crash landed in Dubai airport

Dieses Bild zeigt eine ausgebrannte Maschine nach einer Bruchlandung im August in Dubai - ein Feuerwehrmann kam ums Leben. In einem Video eines Passagiers hört man die Flugbegleiter brüllen: "Raus, raus, raus! Lasst euer Gepäck zurück!"

(Foto: dpa)

Das Flugzeug brennt, trotzdem zerren Passagiere ihr Handgepäck aus den Fächern - so etwas Dummes würde man selbst nie machen. Wirklich?

Von Katja Schnitzler

Nehmen wir an, Sie sitzen in einem Flugzeug, dessen Triebwerk auf der Rollbahn in Flammen aufgeht. Nach wenigen Sekunden hat das Feuer die Fenster erreicht, ein Aussteigen ist nur noch auf der anderen Seite der Maschine über Notrutschen möglich. Was tun Sie?

a) Sie springen aus Ihrem Sitz und verlassen das Flugzeug so schnell wie möglich.

b) Sie springen aus Ihrem Sitz, raffen Ihre Jacke an sich, öffnen das Gepäckfach, holen Ihr Handgepäck heraus, versichern sich, dass Sie Ihre Laptop-Tasche nicht zurücklassen, ziehen Ihr Smartphone hervor, um das Drama zu filmen, und begeben sich zum Ausgang. Auf dem Weg dorthin verkantet sich Ihre Tasche an den Lehnen, außerdem stoßen Sie sich den Kopf an den Klappen der Gepäckfächer. Ihr Hintermann drängelt grob, er ist panisch, weil es bis zum Notausgang so lange dauert.

Was für eine Frage - und noch dazu rein hypothetisch? Leider nicht.

Dank der Video-Filmer im Flugzeug und am Airport ist selbst bei schweren Unglücken - wie dem anfangs beschriebenen im Oktober am Airport Chicago - immer wieder zu sehen, dass etliche Passagiere auf ihr Handgepäck nicht verzichten wollen. "Wie blöd muss man sein?", steht dann in Kommentaren unter den geposteten Videos. Sind also wieder mal nur Deppen unterwegs?

Wenn man ganz ehrlich zu sich ist - die Autorin eingeschlossen: Wer kann wissen, wie vernünftig er selbst sich in einem Notfall verhalten würde?

Im Alltag ist es selbstverständlich, beim Verlassen des Sitzes sein Gepäck oder zumindest seine Wertsachen mitzunehmen. Diese sogar einzupacken, wenn es brennt, ist auch der Versuch, eine Illusion von Kontrolle in einer völlig außer Kontrolle geratenen Situation zu schaffen: Ich bin bestimmt nicht in Lebensgefahr, wenn ich noch meinen Laptop mitnehmen kann! Und meinen Pass brauche ich vielleicht gleich nach dem Notrutschen?

Andererseits: Wer will schon wegen eines Tablets, eines Fotoapparats oder wegen der wärmenden Jacke verbrennen?

Direkt und in Ruhe vor diese Wahl gestellt würde wohl jeder Mensch, der sich selbst für vernünftig hält - also wirklich jeder - antworten: Danke, das nackte Leben reicht mir, alles andere kann ich nachkaufen.

Dummerweise wird erst in der Not klar, zu welcher Gruppe man selbst gehört. Entweder zu denjenigen, die funktionieren: Sie überblicken die Lage und tun, was getan werden muss - zitternd zusammenbrechen können sie später noch. Oder zählt man zu jenen, die entweder paralysiert oder kopflos wirken und mit ihrem Verhalten anderen und sich selbst die Flucht erschweren?

Eine ungewollte Lösung

Psychologen würden gerne erklären können, wer sich in Not wie und warum genau so verhält. Nur sind Studien dazu schwierig, zumindest die Situation an sich lässt sich aus ethischen Gründen mit Probanden nicht erforschen: Man müsste ja Todesgefahr simulieren, um das Verhalten beobachten zu können. Den Wissenschaftlern bleibt zumindest die Auswertung der Katastrophen-Videos.

Diese haben Passagiere wohl auch aus dem trügerischen Gefühl heraus aufgenommen, so ein wenig Distanz schaffen zu können: Halte ich das Display zwischen mich und die Katastrophe, habe ich die Situation doch noch im Griff. Oder sie kapieren schlicht nicht, dass sie sich und Mitreisende damit ausbremsen und so in noch größere Gefahr bringen.

Eine Lösung wäre, den Menschen die Wahlmöglichkeit und damit ein wenig Freiheit zu nehmen: Würden Airlines die Gepäckfächer generell während des Fluges versperren, könnte die Evakuierung im Notfall schneller ablaufen.

Als Nebeneffekt wären endlich auch die unbelehrbaren "Frühaufsteher" ausgebremst, die auch bei einem völlig störungsfreien Normalflug zum Risiko werden: Sie reißen das Gepäckfach auf, wenn das Flugzeug eben erst die Landebahn verlassen hat. Was ihnen nicht bewusst oder einfach egal ist: Muss der Pilot plötzlich bremsen, prallen Passagier und Koffer auf die Mitreisenden.

Doch Gepäckfächer zum Absperren werden nicht kommen. Passagiere würden wohl eher für die Toilettennutzung zahlen, als darauf zu verzichten, jederzeit an ihr Hab und Gut zu kommen - gerade auf Langstreckenflügen. Schließlich sind Unfälle mit Flugzeugen, bei denen eine Evakuierung notwendig wird, sehr selten.

So befindet das Luftfahrt-Bundesamt zwar, dass abschließbare Fächer die Gefahr durch herabfallendes Gepäck bei Turbulenzen reduzieren würden, auch eine Evakuierung könne schneller ablaufen. Doch dafür müssten die Bauvorschriften für Flugzeuge geändert werden, "die Umsetzung würde einige Jahre in Anspruch nehmen", sagt eine Amtssprecherin. Überhaupt sei ein Absperren nicht praktikabel und "würde zu Diskussionen mit den Passagieren führen".

"Das ist nicht gewollt"

Also spielen Airlines wie die Lufthansa lieber gar nicht erst mit dem Gedanken: Dies sei derzeit technisch ja gar nicht möglich - und außerdem nicht gewollt, erklärt eine Sprecherin der Lufthansa. Es sei einfach wichtig, dass Passagiere in Flugphasen, wenn die Anschnallzeichen erloschen sind, jederzeit an Medikamente oder Spielzeug im Handgepäck herankämen.

Was ist aber mit denjenigen, die im Notfall ihr Gepäck doch mitschleppen? Die Sprecherin der Lufthansa ist überzeugt: "Das macht doch keiner, diese Frage ist rein theoretisch." Sie irrt sich.

Was also könnte jeder Einzelne tun, der sich ja nicht sicher sein kann, wie er selbst in Lebensgefahr reagieren wird? Eine Möglichkeit ist, genau so eine Notsituation im Kopf durchzuspielen, sie sich möglichst realistisch vorzustellen: Wie man aus dem Sitz springt und alles hinter sich lässt, um sein Leben zu retten. Das erhöht zumindest die Wahrscheinlichkeit, dass man sich in der Realität - die hoffentlich niemals eintritt - wirklich so verhält. Und keinen Rucksack mit zur Notrutsche zerrt.

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