Murmeltiere:Fette Beute

Geliebt, gejagt und gekocht: Murmeltiere haben einen hohen Kuschelfaktor - und werden auf vielerlei Arten touristisch vermarktet.

Von Dominik Prantl

Murmeltierpark. Der Begriff hatte unten im Tal ja recht verheißungsvoll geklungen, zumindest verheißungsvoll genug, dass er den Umweg hoch zum Grimselpass wert war, über etliche Serpentinen und noch mehr Höhenmeter. Und dann das: Neben einem überdimensionalen Schild mit der Aufschrift "Murmeltierpark" zieht sich eine Betonmauer um ein Rasengeviert mit einer Hütte darauf. Nach drei Minuten wird klar, dass man ebenso gut ein Fußballfeld als Englischen Garten ausweisen könnte. Eine Angestellte im für den "Park" verantwortlichen Hotel Alpenrösli, dem nur zu wünschen bleibt, dass es schon bessere Tage gesehen hat, verrät: "Die Tiere lassen sich nicht besonders oft blicken."

Murmeltiere: Gehören zu den Alpen wie die CSU nach Bayern oder die Brücken nach Venedig: die Murmeltiere.

Gehören zu den Alpen wie die CSU nach Bayern oder die Brücken nach Venedig: die Murmeltiere.

(Foto: imago)

Dass ausgerechnet in einem Murmeltierpark an einer Passstraße auf 2200 Metern Höhe keine Murmeltiere zu sehen sind, darf man getrost als schlechten Witz bezeichnen. Das Tier gehört zu den Alpen wie die CSU nach Bayern oder die Brücken nach Venedig; sie sind ein Wahrzeichen. Wer den Alpenbogen von Westen nach Osten durchquert, kann dem Murmeltier als Touristenattraktion heute kaum ausweichen: An den Rochers-de-Naye bei Montreux gibt es ein "Murmeltierparadies" mit verschiedenen Vertretern der insgesamt 14 Arten aus Asien, Europa, Amerika. Das Zillertal wirbt mit einem "Murmelland", direkt am Königssee bei Berchtesgaden wird Murmeltiersalbe angepriesen, und an der Kaiser-Franz-Josephs-Höhe sind die oft zutraulichen Tiere schon fast handzahm. Auf der Alp Grimmels im Schweizerischen Nationalpark in Graubünden, einem echten Murmeltiertreff, wackeln die Viecher schon im Juni so dermaßen fett und träge vor manchem Fotografen übers Grün, dass zu befürchten bleibt, sie könnten im Oktober den Eingangsbereich zu ihren Bauten verstopfen - wenn sie nicht schon auf dem Weg eindösen.

Und natürlich sind sie wie geschaffen für einen Park: hohe Stirn, kurze Glieder, Kulleraugen, mehr Kindchenschema geht nicht. Wer ein wenig hinter den reinen Kuscheltiercharakter des Murmeltiers blickt, sieht einen grandios unterschätzten Überlebenskünstler, mit dessen Hilfe sich sein Lebensraum zugleich etwas besser verstehen lässt. Wahrscheinlich gibt es von der Verhaltensforschung bis zur Wildtierbiologie kaum einen Zweig in der Wissenschaft, der sich nicht mit dem Murmeltier beschäftigt; es ist ein wandelndes Forschungslabor. Goethe dichtete ihm das Marmottenlied "Ich komme schon durch manches Land", Beethoven schrieb die Musik dazu. Wie vielen Tieren wurde diese Ehre zuteil?

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Allein die Namensvielfalt: eine Fundgrube für alpine Sprachforscher! Gerhard Aubrecht listet in seinem durchaus ergötzlichen Artikel "Allerlei Ergötzliches und Wissenswertes über das Alpenmurmeltier" 45 verschiedene Namen auf, darunter Mistbelleri, Mankei, Munggen, Furmenta, Murmel, Bergmännle. Dabei führt das Bergmännle ein hartes Dasein. Pendelt es doch ein ganzes Leben lang zwischen dem Hochgenuss der Sommerfrische, Hitzestress und akuter Lebensgefahr durch Steinadler und Winterkälte, die es freilich verpennt. Schon in Conrad Gessners "Thierbuch" aus dem Jahr 1583 heißt es: "Ein gar schläferig thier ist das Murmentle." Aber auch: "So dise thier mit einandere spilend oder gopend so fürend sy ein geschrey wie die Katzen." Bei Walter Arnold, der als Leiter des Forschungsinstituts für Wildtierkunde und Ökologie an der Veterinärmedizinischen Universität Wien die Murmeltiere gewissermaßen bis in ihren Bau verfolgt hat, hört sich das 431 Jahre später so an: "Es sind Tiere mit einem komplexen Sozialsystem. Das ist in der Anpassung an extreme Lebensräume entstanden." Das Besondere: Das Murmeltier verbringt die kalte Jahreszeit als einzigartiger Gruppenkuschler im Familienverband.

Informationen

Anreise: Der Grimselpass ist - weniger wegen der Murmeltierparks - einen Umweg wert, er wird auch von Postbussen angefahren, www.sbb.ch.

Murmeltierbeobachtung: Weil das Tier meist oberhalb der Baumgrenze lebt, muss man in der Regel hoch hinaus. Im Nationalpark Berchtesgaden lassen sich Murmeltiere rund um das Kärlingerhaus bereits auf 1600 Metern beobachten, im Schweizerischen Nationalpark auf der Grimmelsalp, die von der Ofenpassstraße aus recht einfach zu erreichen ist. Einen gewissen Kultstatus haben die Murmeltiere links und rechts der einfachen Wanderwege nahe der Kaiser-Franz-Josefs-Höhe in den Hohen Tauern.

Informationen: Gratisdownload von Wissenswertem zum Murmeltier unter www.landesmuseum.at

Der Adaptionsprozess an eiszeitliche Verhältnisse zieht für Arnolds Berufszweig einige Rätsel nach sich. So fährt das Herz des Murmeltiers während des Winterschlafs auf zwei bis drei Grad herunter. Eigentlich macht das kein Herzmuskel der Welt mit. Der Grund liegt laut Arnold darin, dass Murmeltiere besonders viel Omega-6-Fettsäuren aufnehmen und in die Zellmembran des Herzmuskels einbauen. "Das wirkt wie Doping und kompensiert den Temperatureffekt." Dazu wartet das Murmeltier noch mit einigen anderen Tricks auf. So werden im halbjährlichen Kühlschrankmodus die inneren Organe wie Darm und Magen teilweise um die Hälfte verkleinert, der Energieverbrauch wird auf drei bis fünf Prozent des mittleren Sommerwertes heruntergefahren.

Murmeltiere: Der Blick vom Grimselpass auf Galenstock und Furkastrasse.

Der Blick vom Grimselpass auf Galenstock und Furkastrasse.

(Foto: Presence Switzerland)

Andere Fragen bleiben, zum Beispiel, was der Klimawandel demnächst mit dem hochgradig spezialisierten Eiszeitrelikt anstellen wird. So berichteten Forscher aus Großbritannien und den USA vor einigen Jahren im Fachblatt Nature, dass die Murmeltiere in Colorado dank der längeren Sommer immer pummeliger wurden. Höhere Temperaturen könnten die wärmeempfindlichen Tiere im Sommer wiederum eher vom Fressen abhalten, heißt es in anderen Studien aus Europa. Arnold meint, die Wissenschaft stehe diesbezüglich noch am Anfang. Er selbst vermutet, dass die Tiere den Klimawandel nicht gut verkraften werden.

Das wäre schon deshalb jammerschade, weil das Murmeli auch ein Teil der Kulturgeschichte in den Alpen ist. Wer sein Verhalten deuten konnte, dem diente es als zuverlässiger Wetterprophet, es wurde geliebt, gejagt, gekocht. Noch heute werden pro Jahr allein in der Schweiz etwa 6000 Exemplare pro Jahr erlegt. Viele schätzen das Fleisch, "sofern es gut zubereitet ist", wie Arnold meint. Das unbedingt vom Braten zu lösende Fett fand im Laufe der Jahrhunderte unter anderem Anwendung gegen Koliken, Keuchhusten, Brandwunden, Gicht und Hodenbrüche. Tatsächlich enthält das oft in Touristenshops verkaufte Volksheilmittel Murmeltiersalbe Corticoide. Arnold spricht daher von "einer milden Cortisonsalbe gegen Arthritis und Gelenkschmerzen." Auch das Fell fand eine Bestimmung und wurde sogar aus Asien importiert. "Es gibt Spekulationen, dass die Pest im Mittelalter über Murmeltierpelze zu uns kam", sagt Arnold. Erst vor einigen Wochen verschaffte sich ein Murmeltier globale Resonanz in der Presse: Es soll im Westen Chinas einen Mann, der das tote Tier gefunden, mitgenommen und an seinen Hund verfüttert hatte, mit der Lungenpest infiziert haben. Ein ganzes Stadtviertel wurde daraufhin unter Quarantäne gestellt. Zu lesen war: "Und tödlich grüßt das Murmeltier."

Wer übrigens das Hotel Alpenrösli hinter sich lässt und dem Grimselpass zwischen Bussen voller Japaner und Motorradkolonnen 500 Meter weiter folgt, erreicht das Hotel Grimselblick. Gegenüber des Hotels steht wieder ein Schild, wieder mit der Aufschrift: "Murmeltierpark". In den Gehegen sitzen immerhin drei Exemplare. Ansonsten ist auch das eine eher traurige Veranstaltung, ohne Schautafeln, dafür mit einem Kiosk, in dem es "The World's longest Bubble Gum" zu kaufen gibt. Kioskbetreiber Bruno Wellig, der sich um den Park kümmert, sagt einen Satz, an den man sich unbedingt erinnern sollte: "Ums Hotel herum gibt es auch freie Artgenossen."

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