Montpellier in Frankreich:Junge Fassade vor alten Häusern

Montpellier im Süden Frankreichs ist zum Ort für Kreative, Hip-Hopper und Partygänger geworden. Doch die Metropole, die die Stadt gerne wäre, ist sie noch nicht.

Elena Witzeck

Vicious Victor und sein Kumpel Wizard sehen nicht wirklich gelassen aus, als sie ihre Sporttaschen mit den typisch wiegenden Schritten von Hip-Hoppern durch den Flughafen von Montpellier bugsieren. Ziemlich jung eher, und ein wenig eingeschüchtert, weil sie von allen Seiten auf Französisch angesprochen werden. Wizard verschwindet fast unter seiner riesigen roten Chicago-Bulls-Kappe. Er redet nur spanisch, und ja, er ist zum ersten Mal in Frankreich, auch in Europa.

Der Venezolaner und sein Konkurrent aus den USA sind als B-Boys beim internationalen Breakdance-Festival "Battle of the Year" (BOTY) dabei, und Wizard meint schon jetzt zu wissen, dass sich die lange Anreise gelohnt hat. "Das wird eine gigantische Party! Ich habe mir die Clips vom vergangenen Jahr angesehen, da wusste ich, dass ich herkommen muss."

Französische Street Culture, das kennen Touristen aus Paris, wo Breakdancer vor Sacre Coeur durch die Luft wirbeln und Graffiti an den Häuserwänden prangen. In den Banlieus der Hauptstadt haben Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien einen aggressiven französischsprachigen Rap begründet. Diese Straßenszene ist eine Ausprägung der Metropole - aber Montpellier?

Eine relativ überschaubare Stadt, zehn Kilometer von der Mittelmeerküste entfernt, vor 50 Jahren noch Provinz, die sich nun als Zentrum der Jugendkultur und des modernen Tanzes verkauft?

Eine bunt bemalte Straßenbahn, die sich seit dem Jahr 2000 durch das Zentrum schlängelt und im kommenden Jahr durch eine Linie bis zum Meer erweitert werden soll, ist emblematisch für die Entwicklung der Stadt, für die Innovation, Lebenslust und Dynamik der vergangenen Jahrzehnte. In den vergangenen 40 Jahren hat sich die Bevölkerung Montpelliers fast verdoppelt, im Stadtgebiet leben nun 250.000 Menschen, davon mehr als 70.000 Studenten, fast die Hälfte der Bewohner ist unter 30 Jahre alt.

Seit den siebziger Jahren werden im Languedoc-Roussillon gezielte finanzielle Anreize gesetzt, um Wachstum, Tourismus und kulturelle Attraktivität in der Hauptstadt der Region zu fördern. Damals entwarf der spanische Architekt Ricardo Bofill das neoklassizistische Viertel Antigone, dann bekam die Stadt ihre Straßenbahnlinie, 2007 wurde das prestigeträchtige Museum Fabre mit seinen Werken von den französischen Impressionisten bis Pierre Soulages neu eröffnet.

Doch wirklichen Schwung brachten erst die aktuellen Initiativen: Vor einem Jahr eröffneten das Zentrum für modernen Tanz namens Agora und die zweitgrößte Veranstaltungsarena Frankreichs, in der nun zum zweiten Mal das BOTY stattfand.

Nacht der Studenten

"Das Thema Hip-Hop kam vor etwa zwei Jahrzehnten in Montpellier auf. Wir überlegten, was wir aus unserer Stadt machen könnten. Wir wollten eine Kultur, die auf der Straße wächst und jedem die Möglichkeit gibt, daran teilzuhaben", erzählt Thomas Raymond, Präsident des Verbandes Association Attitude, der die französischen Vorentscheidungen des BOTY veranstaltet und bei der Planung des internationalen Wettbewerbs mitwirkt.

Montpellier Frankreich Brunnen

Brunnen der Drei Grazien an der Place de la Comédie, ein beliebter Treffpunkt aller Nachtschwärmer.

(Foto: AFP)

Raymond, der auf die 40 zugeht, schon als Jugendlicher in der Straßenszene aktiv war und noch immer Baggie-Hosen und Skaterschuhe trägt, organisiert zusammen mit seinen Mitarbeitern bei Association Attitude regelmäßig Hip-Hop-Events, BMX-Kurse und Veranstaltungen im Skatepark. Aber Breakdance wird in Montpellier auch für andere Zwecke genutzt: Beim internationalen Sommerfestival "Montpellier Danse" in der Kulturstätte Agora steht drei Wochen lang moderner Tanz auf dem Programm. In den Räumen eines alten Klosters widmet man sich ganz der Lehre und Präsentation von Bewegung. Nun vereint sich dort Straßenkultur mit modernem Körperausdruck bei Veranstaltungen wie "Hip Hop en création", bei denen Breakdance und Freestyle im Theatersaal präsentiert werden.

Die 70.000 Studenten haben indes noch andere Vorlieben. Jean-Babtiste Lebret, ein 22-jähriger Archäologiestudent, steht am Donnerstagabend inmitten von Jugendlichen am Brunnen der Drei Grazien an der Place de la Comédie, dem beliebtesten Treffpunkt aller Nachtschwärmer, und wartet auf seine Clique.

Gar nicht mediterran muten die umstehenden Gebäude an, eher pariserisch, majestätisch thront die Opéra Comédie von 1888 am höchsten Punkt des Platzes. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Place de la Comédie zum Zentrum der Stadt, als 200 Meter südlich der Hauptbahnhof Gare de Montpellier-Saint Roch gebaut wurde. "Heute ist Studentennacht", erklärt Jean mit einer ausladenden Bewegung, um die Dimensionen dieses Umstandes klarzumachen. Seit einem Jahr studiert er in Montpellier. "An dieses quirlige Leben hier musste ich mich erst einmal gewöhnen", sagt er, "aber sobald man die richtigen Ecken kennt, ist es großartig."

Der Abend beginnt im "La Fabrik", einer alternativen Bar in der Rue Boussairolles, wo sich für jeden Geschmack eine Kneipe finden lässt. Die Kellner tragen schwarze Baskenmützen, so dass sich Touristen wie im Bilderbuch-Frankreich fühlen dürfen, worüber die Studenten schmunzeln. Ross Voorhees, der aus Alaska zum Studieren nach Montpellier gekommen ist, spielt im hinteren Bereich Gitarre; Blues und ein bisschen Beatles.

Seine jazzigen Rhythmen scheinen den Besuchern zu gefallen, sie halten an ihren Stehtischen immer wieder im Gespräch inne und lauschen. Seit Anfang November tritt Ross in der Fabrik bei "Apéro live" auf, wie die Livemusik-Abende des Lokals heißen. Inzwischen hat er eine gewisse lokale Berühmtheit erlangt. "Ich spiele gerne dort, wo ich spüre, dass die Leute einen Sinn für meine Musik haben", sagt Ross und vertieft sich wieder in seine Gitarrenläufe.

Später, im Barbarousse, nur ein paar Meter weiter, ist die Stimmung aufgeladener, der Geräuschpegel höher. Beim Abstieg in den Keller, der an eine Schiffskajüte erinnert, muss erst einmal ein Slalom um eng verschlungene Pärchen bewältigt werden. Dicht gedrängt stehen die Studenten, aus den Lautsprechern schallt "What a Feeling", und in langhalsigen Flaschen werden Rum-Mischungen serviert. "Der Erdbeer-Mix ist unübertroffen", meint Stammgast Anne, die ihr Glas über dem Kopf schwenkt, während sie tanzt. Um ein Uhr strahlt plötzlich gleißendes Licht in den Raum, der Partysong "Dis-Moi Oui" verebbt.

Gesittet verlassen Tänzer und Trinker die Bar, versammeln sich auf der Straße und beratschlagen über die weitere Abendplanung. "Das ist der Nachteil", meint Jean, "die Bars schließen früh, weil sich die Anwohner beschwert haben." Eine Metropole ist Montpellier eben doch noch nicht ganz. Geräuschvoll setzen sich diejenigen, die noch nicht genug haben, auf der Suche nach geöffneten Diskotheken in Bewegung.

Am darauffolgenden Morgen ist der Place de la Comédie wie ausgestorben, nur ein paar Händler tragen ihre Gemüsekisten in die autofreie Altstadt. Einige Touristen sitzen in den überdachten Straßencafés, vor den Drei Grazien spielt ein kleiner Junge Akkordeon und singt leidenschaftlich "Bésame mucho".

Die Einkaufsstraße Rue de la Loge führt vom Prunk des 19. Jahrhunderts weg in mittelalterliche Gassen, wo sich Modeläden und Galerien angesiedelt haben.

Kunst und Kassieren

Das Viertel Saint Roch mit seinen vielen Kunsthandwerkläden und Ateliers, den beschaulichen Plätzen und bemalten Steinpfeilern umgibt eine Aura der Kreativität. In der Petite Académie an der Place Saint-Côme steht Laura Gonthier und schneidet bunte Papierstreifen aus. Die Wände des kleinen Ateliers sind mit kindlichen Porträts in bunten Farben behängt, auf dem Boden herrscht ein Chaos aus Bastelzeug, Farbpaletten und Skizzen.

Zwei Mitarbeiterinnen in Malerkitteln schauen amüsiert auf, als sich ein neugieriger Besucher vorsichtig einen Weg durch den Raum bahnt, um die Ausstellungsstücke zu betrachten. Laura Gonthier gibt seit einem halben Jahr Designkurse, Zeichenunterricht und Malstunden für alle Altersklassen. "Es läuft sehr gut hier, wir passen einfach in dieses Viertel", sagt die junge Französin selbstbewusst. In Saint Roch haben sich die Künstler der Region angesiedelt, Bildhauer, Maler und Designer ganz individueller Artikel wie überdimensionaler Porzellangabeln oder exzentrischer Damenhüte.

Seit ein paar Jahrzehnten wird die Altstadt umstrukturiert, auch wegen der vielen Studenten, die müssen untergebracht werden und haben ganz spezielle Interessen", sagt Clemence, die seit ihrem Studienabschluss vor fünf Monaten im Café Petite Nice an der Place Jean Jaurès arbeitet, wo man auch im Winter bis in den Abend hinein unter Heizgeräten im Freien sitzt. Das Petite Nice sei das beste Lokal am Platz, finden die Studenten, sehr gemütlich und der Service wunderbar. Später stellt sich heraus, dass der Ruf des Cafés auch deshalb so hervorragend ist, weil es als günstigstes Lokal im Viertel gilt.

Das Privileg derartiger Informationen bleibt allerdings nur denjenigen vorbehalten, die Französisch verstehen und auch einmal eine schlagfertige Antwort parat haben. Montpellier hat sich in den vergangenen Jahren zwar zu einer der beliebtesten französischen Städte für Sprachschüler entwickelt. Es steht nach Paris und Lyon auf dem dritten Rang im Businesstourismus, drei neue Hotels wurden allein 2011 für die ständig steigende Zahl internationaler Gäste eröffnet.

Dennoch: An vielen öffentlichen Orten der Stadt sind ein paar auf Französisch gestammelte Begrüßungssätze nach wie vor der einzige Weg der Kommunikation.

Am Arc de Triomphe, der 1691 für König Louis XIV. in der Rue Foch errichtet wurde, lässt sich ein BMX-Radler von seinen Freunden filmen. Unter den Passanten werden die Touristen ausgemacht. "He, wartet, wie gefällt euch das?", rufen die Jungs und versperren den Weg. "Wie sieht es aus mit etwas Kleingeld? Ihr habt doch hergeschaut!"

In Montpellier hat die Street Culture Anschluss an den Tourismus gefunden, und so profitiert jeder auf seine Weise.

Informationen

Anreise: Mit Air France zum Beispiel von München oder Frankfurt über Paris nach Montpellier, hin und zurück etwa 250 Euro, www.airfrance.com

Unterkunft: Hotel Citadines, zehn Minuten Fußweg zur Place de la Comédie, DZ ab 70 Euro, Tel.: 0033/499 52 37 50, www.citadines.com; Hotel d'Aragon, DZ ab 92 Euro, Tel.: 0033/467 10 70 00, www.hotel-aragon.fr

Weitere Auskünfte: www.ot-montpellier.fr

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