Montenegro:Skitouren für Abenteurer

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Kaum Tourenbeschreibungen, kein Lawinenwarnsystem, die Anfahrt im Geländewagen: Wer sich im Winter in die Gebirge von Montenegro wagt, erlebt einsame Abfahrten - und mutige Einheimische.

Von Florian Sanktjohanser

Was Werner Greussing jetzt macht, wäre in den Alpen Selbstmord. In aller Seelenruhe quert der Bergführer die Skipiste, hinter sich eine Kolonne von Tourengehern. Gleich wird jemand über die Kuppe schießen, fürchtet man, und die Tourengeher abräumen wie Kegel. Aber nichts passiert. Obwohl die Sonne scheint und der Schnee glatt gebügelt ist, sind die Pisten leer in Savin Kuk, einem der beiden großen Skigebiete in Montenegro. Und die Berge jenseits der Pisten sowieso.

"Wir Montenegriner haben keine Outdoor-Kultur", sagt Janko Šćepanović. Der 33-jährige Sonnyboy mit dem Dreitagebart ist Guide, im Sommer arbeitet er in dem luxuriösen Yachthafen eines kanadischen Milliardärs und nimmt Segler mit zum Rafting und Canyoning. Im Winter hat er frei. Und deshalb Zeit, uns zusammen mit Werner Greussing, dem Bergführer aus Österreich, durch die wilden Berge seiner Heimat zu führen.

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(Foto: Bergspechte/3etravel)

Weiße Hügel bis zum Horizont: Skibergsteigen hat in Montenegro keine Tradition.

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(Foto: Bergspechte/3etravel)

Deshalb sind die Routen, die eine Österreicherin 2004 mithilfe von Bergführern und alten Militärkarten fand, bis heute die Klassiker.

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(Foto: Bergspechte/3etravel)

Einen Lawinen-Lagebericht sucht man in dem kleinen Balkanland bisher ebenso vergeblich wie Bücher über Skitouren. Nur online sind einige Routen mit Karte beschrieben.

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(Foto: Bergspechte/3etravel)

Seit ein paar Jahren bieten Reiseveranstalter und Alpinschulen in Deutschland und Österreich Skitouren in Montenegro an.

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(Foto: Bergspechte/3etravel)

Der Blick schweift über weite Hänge, unbefleckt von einer Spur. In dem kleinen Gebirgsland ist es fast so schön wie in den Alpen - nur sehr viel ruhiger.

Montenegro ist, der Name lässt es ahnen, ein Gebirgsland. Und ein Urlaubsland. Tourismus ist der mit Abstand wichtigste Wirtschaftszweig des winzigen Balkanstaats. Aber bisher kommen die Besucher vor allem aus einem Grund: um im Meer zu baden. Ins Landesinnere fährt man eigentlich nur, um in der Schlucht der Tara zu raften oder ein Kloster zu besichtigen. Auf die Berge, etwa im Durmitor Nationalpark, steigen nur ein paar Verwegene. Und das nur im Sommer.

Allerdings bieten seit ein paar Jahren Reiseveranstalter und Alpinschulen in Deutschland und Österreich Skitouren in Montenegro an. Das passt zum Trend, immer neue abgelegene und unbekannte Ziele auf den Markt zu bringen. Die mitreisenden Österreicher waren schon in der Hohen Tatra, in den Karpaten und auf den Lofoten. Wir sind zu neunt, die Jüngste eine 30-jährige Wienerin, der Älteste ein 73-jähriger Kitzbüheler. Drei Männer sind bei der Bergwacht im Salzburger Land. Beruhigend, denn "bisher gibt es in Montenegro kein Wissen über Lawinen und kein Warnsystem", wie Šćepanović ehrlich sagt.

Im Zigarettenkiosk werden auch Skier verliehen

Die Rundreise beginnt in Kolašin, einem Bergstädtchen, das seit Jahrzehnten vom Tourismus lebt. Im Zentrum leistete man sich einen Parkstreifen mit Brunnen, Partisanendenkmal und einer Stadthalle im schönsten Brutalismus. Außenrum drängen sich schäbige Bauten aus der Tito-Zeit, einige Bürgerhäuser und Holzkioske, die Spielzeug und Zigaretten verkaufen und Ski verleihen.

Šćepanović ist hier in einer Berglerfamilie aufgewachsen. "Mein Opa fuhr schon auf Skiern ins Sägewerk zum Arbeiten", erzählt er. Er selbst lernte das Skifahren von seinem Vater. Der war Jäger, "damals der einzige Weg, in den Bergen sein zu können und nicht für verrückt erklärt zu werden". Jeden Winter kommt Šćepanović zurück in seine Heimatstadt. Denn rings um Kolašin erheben sich mehrere Gebirge, ein idealer Spielplatz für seine Touren. Die zahme Bjelasica, deren abgeschliffene Berge wie die Troglava perfekt sind für Einsteigertouren. Die steilen Felsflanken der Komovi, auf die in der Regel der meiste Schnee fällt. Und das Sinjajevina-Massiv, wo die Lieblingstour von Šćepanović liegt: zum Jablanov Vrh.

Die Anfahrt fühlt sich wie eine Expedition an, im Konvoi von drei Geländewagen, vorbei an alten Steinhäusern, deren steile Dächer mit Schindeln und Aluplatten gedeckt sind. Über eine Forststraße spuren wir leicht bergan bis zum Talschluss, einem Amphitheater aus zerklüfteten Felswänden, in die sich uralte Kiefern krallen. Normalerweise steigt man hier in vielen Serpentinen auf, aber Šćepanović kürzt durch den Wald ab. Es geht steil bergauf, Zweige schnalzen uns entgegen, der Schweiß rinnt. Und dann, am Ende einer Rinne, öffnet sich ein Panorama wie in Island: weiße Hügel bis zum Horizont. "Wie am Dachstein", sagt einer der Österreicher, "nur dass die Weite hier gewaltiger ist."

Jeden März hetzen Langläufer in einem 50-Kilometer-Rennen über dieses Hochplateau, zwischen acht und zehn Stunden braucht Šćepanović dafür, je nach Jahresform. An diesem Tag lässt er es langsamer angehen. Es ist noch ein langer Weg. Hinter einem Hügel breitet sich der nächste weiße Kessel aus, gesprenkelt mit ein paar Kiefern. Und dahinter erhebt sich wie ein riesiger Dom der Gipfelaufbau des Jablanov. "Ja leck mi", murmelt Herbert, der 73-Jährige.

Immer steiler steigen wir in Spitzkehren hinauf, Šćepanović müht sich mit seinen breiten, schweren Freeride-Skiern. Wieder und wieder rutschen sie weg, irgendwann schnallt er ab, rammt seine Stiefel in den Hang und steigt mit geschulterten Skiern auf. Oben bläst der Wind über den Grat, ein hastiges "Berg Heil" am Gipfel, eine schnelle Specksemmel, dann stellen wir die Bindung um und fahren ab.

Die 20 Zentimeter Neuschnee aus der Vorwoche machen sich ausgezeichnet unter den Skiern. Wir gleiten über weite Hänge hinab, die unbefleckt sind von einer Spur. Und stehen an einer Engstelle plötzlich neben vier Montenegrinern, in uralten Skianzügen, auf Telemarkskiern. Šćepanović begrüßt sie herzlich und übersetzt, dass sie 20 Kilometer hierher gewandert sind. Unten im Bergwald treffen wir einen von ihnen wieder. Als wir gerade im Slalom zwischen kahlen Bäumen hindurch wedeln, jagt ein roter Blitz vorbei, im Schuss, den Kopf unten, die Zweige klatschen auf den Helm. "Wuide Hund san des hier", sagt Greussing abends, lachend und kopfschüttelnd. "Aber koane Skifahrer."

SZ-Karte (Foto: SZ-Karte)

Tatsächlich hat der Wintersport eine lange Geschichte in Montenegro, schon vor dem Zweiten Weltkrieg fuhr man hier Ski. "Früher kamen viele Gäste aus Serbien", sagt Erminia Reljić, 62, die Besitzerin des Hotel Brile in Kolašin. "Aber jetzt ist ihnen das Skifahren zu teuer." Genauso wie den meisten Einheimischen. Vor zehn Jahren verkaufte der Staat das Skigebiet, und die Käufer erhöhten die Preise. "Damit starb hier die ganze Skikultur", sagt Šćepanović.

Heute reisen im Winter in Kolašin vor allem Albaner an, aber auch Bosnier, Kroaten und Slowenen. Abseits der Piste wagen sich freilich noch sehr wenige ins Gelände. "Ich schätze, dass es im ganzen Land keine 20 Tourengeher gibt", sagt Šćepanović. Viele seiner Freunde verstünden nicht, was er da macht: mit Skiern Berge hochsteigen, wenn es doch Lifte gibt?

Die Pionierin des Skibergsteigens in Montenegro ist eine Österreicherin. Angelika Temper-Jablan, 40, kam 2004 im Rahmen eines Entwicklungshilfe-Projekts als Expertin für Bergtourismus in das winzige Balkanland. Sie schickte Bergführer aus der Heimat mit alten Militärkarten los, um das Potenzial zu testen. Die Routen, die sie fanden, sind bis heute die Klassiker.

Routen-Beschreibungen sind rar

Dabei gäbe es durchaus Alternativen, sagt Temper-Jablan. Zum Beispiel die Prokletije-Kette an der Grenze zu Albanien. Hoch, steil, vollkommen unerschlossen. Bis vor Kurzem dauerte es mindestens fünf Stunden, dorthin zu gelangen, jetzt verkürzt eine neue Straße die Fahrt auf eineinhalb Stunden.

Auf eigene Faust wären diese Berge allerdings ein Abenteuer. Denn einen Lawinen-Lagebericht sucht man bisher in Montenegro ebenso vergeblich wie Bücher über Skitouren. Nur online sind einige Routen mit Karte beschrieben. Zumindest die Bergrettung sei mittlerweile auf einem guten Niveau, sagt Temper-Jablan. "In den vergangenen zehn Jahren wurde viel in die Ausbildung und das Equipment investiert." Und im schlimmsten Fall könnte ein Polizeihelikopter Verunglückte bergen.

Wir halten uns trotzdem lieber an die Klassiker. Entlang dem türkisen Tara-Fluss fahren wir nach Žabljak. Das höchstgelegene Dorf Montenegros schmückt sich mit einer erhabenen Kulisse, den schroffen Felswänden und Gipfeln des Durmitor-Nationalparks. Žabljak selbst ist weniger hübsch, ein konfuser Wildwuchs aus Betonungetümen und Holzhäuschen, die Umgebung mit uniformierten Apartmenthäusern zersiedelt. Im Sommer kommen viele Sommerfrischler hierher, um im Nationalpark mit seinen Jahrhunderte alten Kiefern und seinen 22 Gipfeln über 2000 Meter zu wandern oder in einem der 19 Seen zu baden, die hier poetisch Bergaugen heißen. Im Winter herrscht die Tristesse der Nebensaison.

Wir steigen am Rand der Skipiste auf. Der altersschwache Lift ist kaum schneller als wir, die wenigen Skifahrer in den Metallsesseln schauen erstaunt zu uns herab. Aber bald biegt Greussing in ein schmales Kar ab und erklimmt einen breiten Bergrücken. In meditativem Gleichschritt geht es bergauf, Schneeschleier treiben über den geriffelten Harsch, die Stöcke helfen, nicht von den Windböen umgeworfen zu werden. Unter uns breiten sich angezuckerte Wälder und weites, weißes Land aus. Das Gipfelfoto sparen wir uns und passen lieber auf, dass uns der Wind nicht die Felle aus der Hand reißt. Ein kurzer Hindernisparcours durch Steine und Grasbüschel, dann belohnt eine Abfahrt über angefirnten Schnee. Und ein Bier in der Sonne an der Talstation. Fast wie zu Hause in den Alpen - nur sehr viel ruhiger.

© SZ vom 09.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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