Mont Aiguille in Frankreich:Der Berg des Königs

Mont Aiguille in Frankreich: Wie ein Schneidezahn ragt der Mont Aiguille am Rand des Vercors-Massivs empor. Er galt lange als unbesteigbar - heute führen 30 Kletterrouten aufs Gipfelplateau.

Wie ein Schneidezahn ragt der Mont Aiguille am Rand des Vercors-Massivs empor. Er galt lange als unbesteigbar - heute führen 30 Kletterrouten aufs Gipfelplateau.

(Foto: Michel Cavalier/laif)

Auf dem Mont Aiguille vermuteten die Menschen früher das Paradies, also befahl König Karl VIII.: Da muss jemand rauf! Heute führen Bergführer selbst 80-Jährige bis auf den Gipfel.

Von Michael Grimm

Es ist ihm fast schon zu persönlich, aber dann zückt Bernard Angelin schließlich doch sein Smartphone. Auf dem Display erscheint ein Kuchendiagramm. "Jedes der Kuchenstücke steht für eine Aufstiegsroute und wie oft ich sie prozentual begangen habe", erklärt er ein bisschen verlegen. Das Diagramm ist das Herzstück einer Art digitalen Tagebuchs. Es zeigt zusammen mit weiteren Daten und penibel erfassten Beobachtungen die Entwicklung einer ganz besonderen emotionalen Beziehung. Die Beziehung zu einem Berg, dem Mont Aiguille. Angelin hat ihn zum ersten Mal am 18. Mai 1975 bestiegen, und seither stand er 1659 weitere Male auf dem Felsplateau. Von Triumphen oder Gipfelsiegen würde Bernard aber kaum sprechen. Eher von innigen Momenten der Verbundenheit mit einem Berg, der über viele Jahrhunderte als "Mont inaccessible" beschrieben wurde. Als unbezwingbarer Monolith, an dem sich aber dann ein Akt im Gründungsmythos des Alpinismus ereignete.

Der Mont Aiguille ist das Wahrzeichen des westlichsten Gebirgsstocks der Alpen, des Vercors. Der 2087 Meter hohe Tafelberg überragt das Trièves-Tal südlich von Grenoble und zählt zu den sagenumwobenen sieben Wundern der Dauphiné. Seine Form verdankt er der Erosion. Einst war der wuchtige Kalksteinblock Teil des Hauptgebirgszugs, der sich von Nord nach Süd durch den Vercors erstreckt. Heute gleicht sein längliches, leicht gekipptes Gipfelplateau einem Schiffsbug, der durch einen Ozean aus Fels pflügt.

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"Der fürchterlichste Weg, den ich je beschritten habe"

Klar, dass so ein Berg Begehrlichkeiten weckt. Auf einer Pilgerreise nach Notre-Dame d'Embrun soll König Karl VIII. den Mont Aiguille das erste Mal gesehen haben. Er soll dermaßen beeindruckt von der Silhouette des uneinnehmbaren Berges gewesen sein, auf dessen Gipfel noch dazu das Paradies auf Erden vermutet wurde, dass er seine Besteigung im Namen Frankreichs anordnete. Und so kam es. Nur wenige Wochen bevor Christoph Kolumbus durchs seichte Karibikwasser auf den Bahamas an Land stapfte, bezwang der vom König beauftragte Capitaine-Châtelain Antoine de Ville zusammen mit seiner Expeditionstruppe am 26. Juni 1492 den Gipfel. Allerdings hielt sich de Villes Begeisterung für den Berg des Königs eher in Grenzen. In seinen Aufzeichnungen spricht er von "dem fürchterlichsten und grauenhaftesten Weg, den ich je beschritten habe". Mehr Fron als Fun also. Und so fiel de Ville am Ende etwas unfreiwillig die Rolle des Urvaters des alpinen Bergsteigens zu.

Von seinem Schrecken hat der Berg seither viel eingebüßt. Zwar geriet de Villes Husarenstück zunächst wieder in Vergessenheit. Erst 1834 wurde der Gipfel zum zweiten Mal bestiegen. Doch heute führen 30 Kletterrouten durch die Wände des Mont Aiguille mit einer Schwierigkeit von bis zu 6a auf der französischen Skala. Etwa 1000 Bergsteiger stehen jährlich auf dem Gipfel. Philippe Halot zum Beispiel gleich mehrmals pro Jahr. Als Bergführer bringt er immer wieder nicht so versierte Alpinisten die etwa 300 Meter lange Felswand hinauf. Halot ist 50 Jahre alt, braun gebrannt, er hat etwas von Bruce Springsteen, ein Selfmademan. Sein Holzhaus an den Hängen des Belledonne-Massivs oberhalb von Grenoble hat er selbst gebaut.

Die Normalroute des Mont Aiguille durchsteigt er mit einem Liedchen auf den Lippen. Die Kletterei im dritten Schwierigkeitsgrad führt durch die Nordwand, durch Rinnen, wunderbar ausgesetzte Wände, vorbei an Felsentürmen und entlang der Reste eines Klettersteigs, den Mitglieder des französischen Alpenclubs in den 1870er Jahren angelegt haben, wie Halot erzählt. "Der wurde aber von puristischen Kletterern schnell wieder abgerissen." Ein bisschen Ehre sollte dem Berg schließlich noch gelassen werden. Die wird heute hartnäckig von Steinböcken verteidigt. Mit ihren waghalsigen Manövern treten sie immer wieder Steine los. Den Gänsegeiern scheint das Bombardement zu gefallen. Sie fliegen neugierig nah an den Felswänden im Aufwind an den Kletterern vorbei.

Auf dem Berg landeten schon Flugzeuge

Auch wenn die Normalroute als leichteste Passage gilt und Halots Kollegen auch schon 80-Jährige auf den Gipfel geführt haben, ist Vorsicht geboten. Es geht senkrecht nach oben. Etwas mulmig kann es einem da schon werden. Und dann gibt es noch die eine oder andere Schlüsselstelle zu überwinden. Wie zum Beispiel einen kleinen Überhang in der Rinne unterhalb des Plateaus. Wenn man nach rund drei Stunden oben aus der Felsrinne steigt, ist es, als würde man aus einem Gullyschacht klettern. Es ist eine kantige Welt mit extremen Gegensätzen auf engstem Raum. Auf dem 500 Meter langen und circa 100 Meter breiten Gipfelplateau gedeihen viele endemische Blumen. Endemisch deshalb, weil die dünne Grasnarbe auf dem Kalkstein des Aiguille im Gegensatz zum gegenüberliegenden Hochplateau des Vercors vom Einfluss des Menschen nahezu unberührt blieb. Der Blick vom Gipfel reicht nach Süden bis zum Mont Ventoux, diesem anderen, seit Petrarcas Besteigung für die alpine Historie so wichtigen Höhenzug.

Dann richtet Halot die Aufmerksamkeit wieder auf den Mont Aiguille und erzählt, dass dessen Plateau auch schon als Flugfeld diente. Im August 1957 landete Henri Giroud seine Piper J-3 auf dem felsigen Flugzeugträger. Dieses Kunststück wiederholte der berühmte Bergpilot, der zwischendurch sogar auf dem Mont Blanc gelandet war, bis 1975 mehr als 50 Mal. Anekdoten dieser Art über den Mont Aiguille kennt Halot viele. So gelang die erste Abfahrt auf Skiern 1992, im Jahr der Feierlichkeiten zum 500. Jubiläum der Erstbesteigung, über die Route Tubulaires. Ihren Namen verdankt sie den röhrenförmigen Felssäulen, an denen der normale Abstieg verläuft und über die man sich zum Schluss der Tour 50 Meter abseilen muss. Schwer vorstellbar, aber angeblich kämpften sich in diesem Bereich der Wand de Ville und seine Männer mit Holzleitern nach oben. Und natürlich kennt Halot auch Rekord-Besteiger Bernard Angelin, der unter der Woche in Lyon als Sportlehrer unterrichtet und der von sich sagt, dass er "diesen Berg braucht wie die Luft zum Atmen".

Das lebende Gedächtnis der Region

Mindestens genauso bekannt in der Region ist Bernard Freydier. Er ist so etwas wie das lebende Gedächtnis des Vercors, insbesondere von Gresse-en-Vercors. Der Ort liegt am Ostrand des Massivs, dort, wo sich die Wogen des Hochlands in spektakulären Felswänden brechen. Als Freydier 1977 zum ersten Mal in das Amt des Bürgermeisters von Gresse gewählt wurde, war er 25 Jahre alt. 18 Jahre lang blieb er "le maire". Nach seiner Pensionierung wurde er so etwas wie der Ortshistoriker. Freydier hat unter anderem die tragische Rolle des Vercors im Zweiten Weltkrieg aufgearbeitet. Für die Maquis der Résistance war die Bergwelt zwischen Valence und dem Trièves-Tal eine natürliche Festung. Von hier riefen sie am 3. Juli 1944 die Wiederauferstehung der Republik aus - in Erwartung der Landung der Alliierten in der Provence, die am Ende zu spät kam. Stattdessen stürmten die Nazis im selben Monat die Pässe des Hochlands, vertrieben die Widerstandskämpfer und rächten sich fürchterlich an der Zivilbevölkerung.

Reiseinformationen

Anreise: Mit dem eigenen Auto oder z.B. mit Lufthansa von München nach Lyon und zurück ab ca. 180 Euro. Transfer mit der Bahn nach Grenoble für ca. 30 Euro. Weiter mit Mietwagen.

Unterkunft: Aiguillette Lodge in Gresse-en-Vercors. Herzliche Atmosphäre in umgebauter 200 Jahre alter Mühle. Die Gastgeber kennen sich bestens aus in der Bergwelt des Vercors. Gekocht wird mit biologischen Produkten aus der Region. Doppelzimmer mit Frühstück für 80 Euro, www.aiguillettelodge.sitew.fr

Weitere Auskünfte: www.trieves-vercors.fr

Bergsteigerbüro Mont Aiguille: http://guidesmontaiguille.com; Französisches Fremdenverkehrsbüro: http://de.france.fr

Vor allem aber hat Freydier während seiner Zeit als Bürgermeister mit der Ausdehnung des Wintersports für den entscheidenden Aufschwung gesorgt. Neue Liftanlagen wurden gebaut und eine Ferienwohnungsanlage mit 3000 Betten. "Der Tourismus hat Gresse gerettet", sagt der heute 65-Jährige. Wenige Jahre vor seinem Amtsantritt lebten in Gresse nur mehr 150 Menschen, 1815 waren es noch 900 gewesen. Der Wintersport zog viele Gäste aus Grenoble an. Aber der Schnee allein reicht heute nicht mehr zum Leben, zumal er oft einfach ausbleibt. Die meisten der heute wieder 400 Bewohner zählenden Gemeinde müssen für die Arbeit in das 45 Minuten entfernte Grenoble fahren. Der Tourismus, vor allem im Sommer, wirft nicht genug ab. Daran ändert auch der Mont Aiguille nichts, der Teil des 1970 geschaffenen Parc Naturel Régional du Vercors ist. Dieser schützt ein 17 000 Hektar großes und in Frankreich einzigartiges Hochplateau aus Karst und arktisch anmutender Grassteppe mit uraltem Baumbestand.

Es könnte aber auch gut sein, dass diese Wildnis der nächste weiße Fleck auf der Landkarte ist, der von den Touristen erobert wird. Noch strömt das Gros von ihnen an den Flanken des Vercors vorbei, über Lyon oder Sisteron an die Côte d'Azur und in die Provence.

Ganz zur Freude von Naturliebhabern wie Bernard Angelin. "Gerade im Winter", erzählt er, "wenn ich auf Skiern über das Hochplateau wandere, treffe ich oft tagelang keine Menschenseele." Nichts aber geht für ihn über den Mont Aiguille. Mit ihm hat er noch große Pläne. Zum einen will er die 2000 Begehungen schaffen. Zum anderen hat er sich zum Ziel gesetzt, an jedem Tag eines Jahres auf dem Gipfel gewesen zu sein. Auch dafür hat er eine Tabelle angelegt. Vor allem in Januar klaffen noch einige leere Zellen.

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