"Wer hat schon Lust darauf", schreibt Monisha Rajesh, "Schuhe und Gürtel ausziehen und Flaschen wegwerfen zu müssen, sich abtasten zu lassen, Kinderwagen zu verstauen, Tablets zu verlieren und alle möglichen weiteren Kontrollen zu erdulden, wenn man sich auch völlig entspannt in einen Zug setzen und so viele Flaschen mitnehmen kann, wie man will?" Nun, die britische Reisejournalistin jedenfalls nicht. Sie hat das Zugfahren 2010 auf einer viermonatigen Reise durch Indien für sich entdeckt. Damals war es eine pragmatische Entscheidung, die Eisenbahn zu nehmen, vor allem aus Kostengründen. Seither aber vermeidet sie Flüge bewusst, wenn sie stattdessen auch die Eisenbahn nehmen kann. So schildert Rajesh es im Vorwort ihres Bildbands "Zugvögel", in dem sie gut 40 besondere Bahnreisen beschreibt.
Denn längst sind die Züge für sie nicht mehr reine Transportmittel, um an ein Ziel zu gelangen, sondern selbst die Hauptattraktion vieler ihrer Reisen. Erst einmal ganz unabhängig von der Strecke. Monisha Rajesh schätzt es, mit Reisenden ins Gespräch zu kommen, und je langsamer und länger ein Zug durch die Landschaft gleitet, desto lieber ist ihr das, weil sie dann umso mehr entdecken kann. Auch schätzt sie das in der Regel landestypische Essen in vielen Zügen. All das sorge für eine "ganz eigene Romantik".
Monisha Rajesh war inzwischen auf jedem Kontinent, auf dem Bahnschienen verlegt sind, in Zügen unterwegs. Darunter sehr luxuriöse und solche, die überwiegend von Touristen benutzt werden. Aber auch in gewöhnlichen Fern- sowie in Pendlerbahnen. Die Dörfer der Cinque Terre an der ligurischen Küste empfiehlt sie dringend mit der regionalen Bahn zu erkunden. Denn zwischen den Tunneln bekomme man Küstenabschnitte zu Gesicht, deren Anblick selbst Wanderern verwehrt bleibe. In Südafrika kontrastiert die Autorin den Luxuszug Rovos Rail mit dem Shosholoza Meyl, ein Fernzug, der Kapstadt mit Johannesburg verbindet und den auch die Einheimischen in ihrem Alltag benutzen. Zu jeder dieser Routen gibt sie praktische Tipps, die auch mal darin bestehen, für die Konkan Railway entlang Indiens Südwestküste besser ein Ticket der zweiten anstatt der ersten Klasse zu kaufen. Weil man dann nicht in einem Privatabteil für sich bleibe und vieles verpasse.
Zwischen die konkreten Reiseschilderungen schiebt Monisha Rajesh immer wieder Texte ein, die sich grundsätzlicher mit der Bahnthematik befassen. In einem geht sie auf die guten wie die schlechten und heuchlerischen Aspekte der Eisenbahnen und ihres Baus ein: Sie erinnert daran, dass in Deutschland und Kambodscha von Staats wegen Menschen mit Zügen in den Tod geschickt worden sind, dass andere wiederum mit Zügen gerettet werden konnten, etwa bei den sogenannten Kindertransporten während der Naziherrschaft oder nach den Atombombenabwürfen in Japan. Dass manche Strecken von Kriegsgefangenen unter unmenschlichen Bedingungen gebaut werden mussten und Kolonialmächte sich mit Eisenbahnnetzen eine Infrastruktur geschaffen haben, die ihnen bei der Plünderung der besetzten Länder geholfen hat. Durch diese Schilderungen macht sich Monisha Rajesh ihre eigene Reisefreiheit bewusst.
Monisha Rajesh : Zugvögel. Reisen mit der Eisenbahn auf den schönsten Strecken der Welt. Verlag Gestalten, Berlin 2021. 288 Seiten, 39,90 Euro.