Mit dem Wohnmobil durch Neu-England:Das geheime Leben der Hummer

Der Weg ist hart, aber der Lohn unter der Schale schmackhaft. Ein Urlaub mit dem Wohnmobil: Die Nächte sind unbequem, aber tagsüber entschädigen gute Hummer-Lokale.

Von Andreas Beerlage

Der Urlaub rollt, und nichts kann ihn aufhalten. Der Urlaub ist sieben Meter lang, vier Meter hoch und wird von 300 Pferdestärken angetrieben. Er prescht auf dem Highway 84 südlich von Boston in Richtung Connecticut voran.

Der Urlaub hat ein Automatikgetriebe, vier Schlafplätze und ganz hinten eine Dusche mit Klo. Er rollt durch Neu-England, der Fläche nach halb so groß wie Deutschland, bestehend aus den Staaten Connecticut, Massachussetts, Vermont, New Hampshire, Maine und Rhode Island.

Das Ziel ist der Weg, und um gut unterwegs zu sein, müssen wir drei - Mama, Papa, Baby - erst einmal unsere neue Heimat, das Wohnmobil, richtig kennen lernen.

Der schlacksige Mitarbeiter in der Zentrale in Topsfield nahe Boston hatte uns ausführlich eingewiesen, auch eine Probefahrt mit uns unternommen. Aber auf dem Highway 84 nach Hartford, in Richtung Südwesten, ist alles vergessen.

Zwei Dutzend verschiedener Knöpfe, Hebel und viele Klappen, hinter denen die Hähne und Einfüllstutzen für Gas, Frischwasser, Brauchwasser und Benzin liegen. Für jeden Hebel gibt es einen richtigen Weg, ihn zu bedienen. Und zwei falsche. Dann läuft das Zeug einfach aus. Beim unkorrekten Knopfdruck entlädt sich die Hauptbatterie. Wer soll sich das alles merken? Das dicke Handbuch spart leider die heiklen Themen Chemieklo, Abwasser-Entleerung und Frischwasser-Aufnahme weitgehend aus.

Wie zu Besuch bei Oma

Bei der Abfahrt Nummer 73 des Highway 84 beginnt der Urlaub. Die Straßen werden schmaler und gewunden, extragroße und extragrüne Laubbäume wölben sich darüber zu einem dichten Baldachin. Alles ist hier extragroß, nur die Verkehrsschilder sind extraklein. Holzhäuschen stehen en gros entlang der Straße, auf kurzgeschnittenem Golf-Green-Rasen, dazu Villen in Alleinlage an kleinen Seen.

Bei all der Postkartenidylle kann man leicht übersehen, dass die Einwohner dieses Landes das höchste Durchschnittseinkommen der USA erwirtschaften. Und zwar nicht mit gegenseitiger Rasenpflege. Hier haben sich große Unternehmen der Luftfahrtindustrie angesiedelt, Hartford ist das amerikanische Zentrum für Versicherungen, außerdem schlafen hier viele, die tagsüber im nicht weit entfernten New York arbeiten.

Freies Campen ist in Neu-England nicht üblich, aber einen Versuch wert. Bei Windsor Locks überqueren wir den Fluss Connecticut, der dem Bundesstaat seinen Namen gab.

Ein Parkplatz am Ufer gehört zur Bootsrampe der örtlichen Hobbyangler. Der Fluss hat die stumpfe dunkelgraue Farbe der Elbe bei Hamburg und ist auch nicht sonderlich breit. Trotzdem regte er Mark Twain dazu an, Tom Sawyers Mississippi-Abenteuer zu schreiben.

Einer der großen Standortvorteile des Parkplatzes: Er verfügt über ein kaum genutztes Dixiklo. Nun müssen wir die Schlafkarten verteilen. Mina, das Baby, bekommt ein Nest im Alkoven über der Motorhaube des Campers.

Das Lustigste sind die Warnschilder

Die Eltern suchen sich die Klappcouch im Wohnzimmerbereich aus. Wir fühlen uns, als wären wir zu Besuch bei Oma. Die floralen Elemente auf Polster und Gardine fordern geradezu eine eichene Schrankwand, doch das Furnierholz der Einbauregale geht in Richtung Weichholz.

Das Lustigste an unserem Mobil sind die Warnschilder: In der Nasszelle im Heck des Fahrzeugs steht ein Schild, das vor Formaldehyd in der Einrichtung des Mobils warnt. Man solle sich nicht wundern, wenn man ernsthaft erkrankt.

Und draußen, rechts von der Eingangstür, steht geschrieben: In diesem Fahrzeug wurden Materialien verarbeitet, welche die Ozonschicht unseres Planeten schädigen könnten. Theoretisch ist so ein Wohnmobil-Urlaub schlecht für uns und für die gesamte Menschheit. Aber dass es sich darin so gut schläft, liegt hoffentlich nicht am Formaldehyd.

Um fünf Uhr morgens lassen Angler lautstark ihre Boote zu Wasser. Der frühe Vogel fängt den Fisch. Wir fahren nach Hartford, um uns dort Mark Twains Villa anzuschauen, ein Holzmonstrum in einer Art Neureich-Zuckerbäckerstil.

Wir rollen auf der nördlichen Einfallstraße in Richtung Zentrum, als es passiert: Der Außenspiegel eines kleinen Transporters zersplittert im Vorbeifahren. Die Sache verläuft glimpflich: Der Unfallgegner wird verwarnt, weil er halb auf der Straße stand. Und weil Officer Germaine Coachman, die mit Blaulicht herbei geeilte Polizistin, Sympathien für uns hegt: "Mein Vater war mit der Army in Deutschland stationiert, ich bin in Mainz aufgewachsen."

Eine wichtige Regel: Wohnmobile sind immer etwas breiter, als man denkt. Trotz des glücklichen Unfallausgangs sind die Knie noch etwas weich, und so disponieren wir um: Schnell raus aus der Stadt.

Wir schauen nach viel Grün auf der Karte, um einen Spaziergang zu machen. Und landen beim Örtchen Broad Brook auf der Farm von Lenny Mulnite, einem bulligen Tabak-Produzenten in Jeanshemd, Khakihose und Westernstiefeln.

Natürlich nicht zu Fuß

Weil er stolz ist auf den Familienbetrieb, der schon fünf Generationen Mulnites gesehen hat, müssen wir ihn nicht lange bitten, uns herum zu führen. Natürlich nicht zu Fuß, er kutschiert uns mit seinem nagelneuen Oldsmobile-Geländewagen durch die Gegend.

Die staubtrockenen Felder werden zu dieser Zeit des Jahres mit dicht gewebten Kunststoffnetzen überzogen - so wächst hier unter künstlich hergestellten tropischen Verhältnissen ein Tabak heran, der seine Heimat auf Sumatra hat.

Der größte Teil des Tabaks wird als äußeres "Deckblatt" um teure Zigarren gewickelt - der "Connecticut-Shade"-Tabak hat den Ruf, mindestens die Nummer zwei hinter den kubanischen Verwandten zu sein.

Früher waren große Strecken des Connecticut-Tals weiß überspannt. Heute werden noch rund 2000 Hektar, ein Zwanzigstel der Fläche zu Boomzeiten, auf diese Weise bebaut. Lenny bepflanzt pro Jahr rund 120 Acres Fläche, das sind ungefährt 60 Hektar. Auf einen Acre gehen 10.000 Pflanzen, mit durchschnittlich 20 Blättern pro Pflanze. Während der Ernte im August braucht er 200 Helfer und sechs Busse, um sie zu den Feldern zu bringen.

Abends irren wir eine lange Straße durchs Land, um einen guten Stellplatz zu finden. Schließlich entdecken wir einen Parkplatz an einem kleinen Fluss. Nebenan steht ein großes rotes Holzgebäude, der Versammlungspunkt des kleinen Örtchens Hazardville, wo sich an diesem Tag die Hundeschule trifft.

Offensichtlich schwer erziehbare Vierbeiner: Große Golden Retriever, American Staffordshire und deutsche Schäferhunde zerren ihre wehrlosen Herrchen herbei. Ja, wir dürfen hier bleiben, sagt die Scheunen- Besitzerin.

Ihr Gebäude ist der Pferdestall der nahe gelegenen Schießpulverfabrik, die vor hundert Jahren mit einem gewaltigen Knall von der Erdoberfläche verschwand, erzählt sie - das einzige Gebäude, das bei der Explosion stehen blieb, war ihre Scheune.

Wir verlassen Connecticut auf der 91 in Richtung Norden und machen einen ersten Halt in Northampton, einem alten Industriestädtchen von europäischem Zuschnitt - es könnte so auch in Wales oder Irland stehen. An diesem Tag ist die Innenstadt fest in den Händen der verschiedensten christlichen Gruppierungen, die als oberstes Kampfmittel zur Erreichung bislang ungläubiger Seelen musikalische Lautstärke erkoren haben.

Nur einer leistet Widerstand: der knorrige Harley-Davidson-Fahrer Peter. Er knattert die Main Street auf und ab und parkt schließlich vor dem Delikatessen-Laden, in dem wir einen Kaffee trinken. Peter setzt sich zu uns, vielleicht weil wir nicht singen und die einzigen Menschen ohne Jesus-T-Shirt sind.

Er sieht aus wie ein Hells Angel, ist aber Englischlehrer für russische Immigranten und ein ganz patenter Kerl. Peter empfiehlt uns, einen Halt am Lake Winnipesaukee einzulegen. Ein Mal im Jahr treffen sich dort 300.000 Harley-Biker, und das sei dann schlimmer als der Ausbruch des Mount St. Helens.

Auf der Fahrt durch einen Zipfel Vermont und weiter durch New Hampshire werden die Siedlungen immer spärlicher, und es riecht auch nicht mehr ganz so streng nach hohen Jahreseinkommen.

Es geht Richtung Maine, zur Küste. Die Laubbäume weichen einer Übermacht von Fichten und Kiefern, und alle paar Kilometer blitzt ein stilles Gewässer durch das Unterholz. Die Sonne schlafft schon merklich ab, als wir den kleinen Ort Friendship am Rande eines Landzipfels erreichen.

Fast die ganze Küste von Maine besteht aus solchen Fingerlingen, die von fjordartigen Buchten getrennt werden. Friendship bietet keine Infrastruktur für Touristen. Weil der nächste Touristen-Ort einen Fingerling weiter liegt, nur zehn Meilen Luftlinie entfernt, aber fast 40 mit dem Auto, beschließen wir für diesen Abend keine so großen Ansprüche zu stellen.

Jane Godall der Hummer

Wir landen auf dem Hinterhof eines Supermakts im Nebenort Thomaston mit einem schönen Ausblick auf eine stille Bucht. Die Fische springen im Sekundentakt. Plötzlich bekommen wir Hunger auf Meeresfrüchte. Den stillen wir im Harbour View Restaurant. Der Besitzer ist gebürtiger Franzose, hat den irren Blick von John Cleese und auch dessen Humor. Gekocht wird schnörkellos, aber fein. Es gibt Hummer.

Am kommenden Tag sehen wir die Biester lebendig, denn wir haben eine Verabredung mit Diane Cowan, die auch "Jane Godall der Hummer" genannt wird. Diane lebt auf einer Insel vor Friendship und will in den kommenden Jahren die Fortpflanzungsgewohnheiten von Hummern im "Lobster Pond" auf der Insel studieren, einer vom Meer durch einen Damm abgetrennten Bucht.

Seit fast 20 Jahren erforscht die 40-jährige Biologin das geheime Leben der Hummer. Sie hat als erste überhaupt Babyhummer in freier Wildbahn entdeckt. Und seit acht Jahren sammelt sie mit freiwilligen Helfern Daten über Größe und Alter von Hummern entlang der Küste.

Nie wurden so viele der Scherenträger gefischt - und nie gab es vor Maine so viele wie heute. Diane hofft, dass ihre Zahlen irgendwann einmal dazu dienen können, das Bevölkerungswachstum im Lobsterland voraus zu sagen.

Diane ist verrückt nach Lobstern jeder Art, lebendig, als Keramik, auf Bildern und gerne auch auf dem Teller: "Ich genieße sie bis zum kleinsten Stückchen!"

Für einen halben Tag fährt Diane mit dem Hummerfischer Alvin Rackliff aus ­ Tiere zählen, vermessen, vielleicht auch noch welche essen. Alvin ist der richtige Mann, um möglichst viele der Viecher vor das Lineal zu bekommen. Er gilt als lebende Legende, 82 Jahre alt, muskulös, immer noch steht er kerzengerade und hat einen klaren Blick.

Alvin hat zur Zeit 400 Hummerfallen da draußen im Meer vor Wheeler's Bay liegen, mit Heringsfetzen bestückt und mit Bojen markiert. Sein Boot ist schnittig gebaut und extrem schnell - Zeit ist Hummer, Hummer ist Geld.

Während er Vollgas fährt, an Untiefen und Felsenriffen vorbei, schaut er selten nach vorn, sondern blickt über die Schulter nach hinten und scherzt mit seinen Gästen. Hummerfischer - den Beruf beherrscht er im Schlaf.

Und obwohl er seit mehr als 70 Jahren fast jeden Tag ausgefahren ist, wirkt es so, als würde er gerade einem geliebten Hobby nachgehen. Nach hundert Körben und einem Fass voller Fänge ist für diesen Nachmittag Schluß. Die Reise hat ihren Zenit längst überschritten, am kommenden Morgen geht es die Küste entlang wieder in Richtung Süden.

Wir biegen ab nach Kennebunkport, aber da wir den Klimahaushalt der Erde schon genug schädigen, boykottieren wir den Sommer-Wohnort des Bush-Clans und schauen uns stattdessen Cape Porpoise an.

An einem Imbiss gibt's "Lobster in the Ruff", die raue Art, Hummer zu essen: Auf Holzpritschen sitzend, mit Pommes Frites als Beilage und einem kleinen Nussknacker als Werkzeug. Den Blick aufs Meer gerichtet, auf die Kutter und den Leuchtturm am Horizont.

Informationen

Allgemeine Auskünfte: Discover New England, Roonstraße 21, 90429 Nürnberg, Telefon 0911/9269113, Fax: 0911/9269301, www.discovernewengland.com

Deutsche Anbieter von Wohnmobilen in Neuengland:

Dertour, Emil- von-Behring-Str. 6, 60424 Frankfurt/Main, Telefon 069/9588-00, www. dertour.de

Junker Amerika Center, Rummelstraße 12, 67655 Kaiserslautern, Telefon 0631/ 3621136, www.junker-reisen.de

Mercator Reisen, Ostwall 81, 47798 Krefeld, Tel. 02151/69147, www.mercator.de

Canusa Touristik, Nebendahlstraße16, 22041 Hamburg, Telefon 040/227 2530, www.canusa.de

Pro Nacht ist ein 25-Fuß-Wohnmobil, in dem vier Erwachsene bequem Platz finden, ab 82 Euro zu haben. Dazu kommen bis zu 255 Euro Pauschale für Bettzeug, Geschirr, Gas und Toilettenchemikalien. Wer zu zweit fährt, sollte einen Camper für vier Personen mieten, denn mit Gepäck wird's schnell eng.

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