Mit dem Velogemel unterwegs in Grindelwald:Rad fahren auf Kufen

Downhill biken im Schnee auf nostalgische Art. Ein Gehbehinderter erfand das Gefährt vor achtzig Jahren

Der Gast aus den USA traut seinen Augen nicht. "Oh, look at that!", macht er seine Frau auf das merkwürdige hölzerne Schnee-Gefährt aufmerksam. Das Gefährt ist aus Holz, hat einen Lenker und sieht ein bisschen aus wie ein Fahrrad mit Kufen. Es ist ein Velogemel, ein Schnee-Fahrrad - und für die Leute in Grindelwald im Winter die normalste Sache der Welt. Nur eben für die Gäste nicht. Da erntet man so erstaunte Blicke, als führte man eine bunte Kuh am Strick durchs Dorf.

Das Velogemel

Bergauf muss man schieben - oder den Bus nehmen. Bergab ist das Velogemel eine urige Alternative zum Schlitten.

(Foto: Foto: Martin Kirchner)

Eine der besten Velogemel- und Schlittelbahnen liegt oberhalb Grindelwalds, auf der Bussalp. Hoch geht's ganz komfortabel mit dem Postauto. Der Postautofahrer, der das Velogemel zusammen mit vielen anderen Schlitten auf das Fahrzeug lädt, nickt anerkennend. "Mit dem Velogemel sind wir früher als Kinder zur Schule gefahren", erzählt er und befestigt den Fahrradschlitten am Ski-Träger des Busses. Das Postauto schraubt sich stetig die steilen Kurven hoch. Ohne Schneeketten ginge hier gar nichts. Am Ziel, einer gemütlichen Hütte, wo die Schnee- und Sonnenhungrigen gerne Rast machen und auf der großen Terrasse die Gesichter in die Sonne halten, lädt der Busfahrer die Schlitten aus, gibt noch ein "Vorsicht aber in den Kurven" mit auf den Weg und überlässt uns dem Velogemel, der frisch gespurten Schlittenbahn und unserem Schicksal.

Schon nach ein paar Metern merkt man erleichtert: Velogemeln funktioniert einfacher als gedacht. Das Schneefahrrad gleitet flott durch den Schnee, lässt sich - dank Fahrrad-Lenker - prima steuern und wenn's mal zu schnell geht, stoppt man mit den Füßen. Sehr oft übrigens, am Anfang.

Das Velogemel ist ein archaisches Sportgerät. Schon seit 80 Jahren sieht es fast gleich aus. Erfunden hat das Velogemel ein Schnitzer aus Grindelwald. Christian Bühlmann hieß der. Bühlmann war gehbehindert, und weil er deshalb nicht Schlitten fahren konnte, konstruierte er ein Schnee-Fahrrad, um auch im tiefen Schnee voran kommen zu können. 1911 ließ er das Gefährt als "einspurigen Sportschlitten" patentieren. Der Sportschlitten war und ist heute noch komplett aus Holz, auch der Sattel. Pedale und Tretwerk hat er nicht - bergauf muss man schieben, auf gerader Strecke das Gemel mittels kräftigem Beineinsatz voran treiben.

Auf unserer Strecke können wir zum Glück auf den Beineinsatz verzichten, denn der Schlittenweg führt nur bergab. Nach ein paar Metern steigt der Mut, die Füße bleiben oben auf der Stange, und man gemelt (gemeln ist das Grindelwalder Dialektwort für Schlitten fahren) mit dem Schnee-Radel munter den Berg hinab. Doch in der Kurve passiert genau das, wovor der Postautofahrer gewarnt hatte: Die hintere Kufe rutscht weg - wie man es vom Radfahren kennt, wenn man die Kurven zu zackig nimmt. Doch außer einer weichen Landung im Schnee passiert nichts. Auch Sachschäden sind keine zu beklagen: ein Gemel ist ohnehin so gut wie unkaputtbar.

Die Grindelwalder, schon von Kind an wahre Meister im Velogemeln, fahren gerne mit dem Schneerad den Schlittenweg vom Faulhorn hinunter. Das ist eine Traumstrecke: die Seilbahn bringt die Schlitten-Freunde hoch zur Bergstation First, dann heißt es zweieinhalb Stunden mit Schlitten oder Velogemel durch den Schnee stapfen, immer mit Blick aufs Wetterhorn und das große und kleine Schreckhorn. Unterhalb vom Gasthof Faulhorn - übrigens einer der ältesten und schönsten Berggasthöfe im ganzen Land - wird aufgesessen; die Mutigen aufs Velogemel, die Traditionelleren auf den Schlitten. Und dann geht's runter, Kurve um Kurve - 15 Kilometer lang. Wenn das keine Alternative zum Skifahren ist - und sportlich ist es garantiert. Wir haben jedenfalls am nächsten Tag Muskelkater.

Doch der hält nicht davon ab, am Abend wieder die Schlitten und das Velogemel zu packen und mit einem netten altmodischen Zügchen nach Alpiglen zu zuckeln. Dort startet der Eiger-Run - den kann man dank Flutlicht auch nachts mit dem Schlitten runterrauschen. Die Bahn führt in steilen Kurven am Fuß der Eigernordwand entlang. Am schönsten ist die lange Abfahrt nach Brandegg. Schon vom weiten locken unten die Lichter des Gasthauses. Da gibt's dann leckeres Fondue - das schmeckt nach der nächtlichen Schlittenpartie gleich doppelt so gut.

Velogemel kann man in Grindelwald ausleihen, fürs Gemeln sind keine besonderen Vorkenntnisse erforderlich.

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