Mit dem Rad in Nordirland:Zwischen Idylle und Narben

Nordirland Waterfoot

An rauen Steilküsten entlang geht es südlich in Richtung Belfast.

(Foto: Dirk Lehmann)

Hobbymaler erzählen aus ihrer kriminellen Vergangenheit und Familienväter wollen endlich die Teilung Irlands begreifen. Wer mit dem Rad durch Nordirland fährt, erlebt nicht nur sattgrüne Hügel und Steilküsten - sondern auch die Spuren, die die "Troubles" bei den Menschen hinterlassen haben.

Eine Reportage von Dirk Lehmann

In drei Tagen ist unser Autor auf dem Rennrad durch Nordirland gefahren. Bei der Route hat er sich an der Strecke des Giro d'Italia orientiert - und Begleiter gefunden. Die ersten drei Etappen des diesjährigen Radrennens, das von 9. Mai bis 1. Juni 2014 läuft, führten von Belfast nach Dublin.

Der Strand wirkt wie eine Fata Morgana. Ein Patchwork aus Handtüchern und Decken bedeckt die Bucht, darauf liegen knutschende Paare neben Frauen in Grüppchen und dösenden Männern. "So kann es hier im Sommer aussehen", sagt mein Rennrad-Partner Charlie und zeigt auf das Foto. Von der Idylle auf dem Bild ist Nordirland an diesen Frühjahrstagen allerdings weit entfernt. Charlie stellt seine nassen Radschuhe neben meine auf die Heizung eines Pubs an der Nordostküste und bestellt zwei Tee. Unsere klammen Finger halten die Tassen fest. Meine kribbeln.

Vor einigen Stunden startete die zweite Etappe meiner Radtour durch Nordirland. Und ich bin Charlie mehr als dankbar, dass er sich an unsere Verabredung hält: Er begleitet mich trotz des Regens. Ihn scheint das schlechte Wetter wenig zu stören. Irische Rennradfahrer sind scheinbar härter.

Etappe 1: Belfast, Innenstadt, ca. 20 Kilometer

Die erste Etappe beginnt noch trocken im "Titanic-Quarter". So heißt das Hafenareal auf dem Gelände der Harland-and-Wolff-Werft in Belfast. Hier wurde das Schiff gebaut, dessen Name für eine der größten Katastrophen der Seefahrt steht. Seit 2012 steht ein Museum spitz und schartig wie ein Schiffstorso auf dem ehemaligen Werft-Gelände. Alex McGreevy, einst Sportjournalist, leitet das Erlebniszentrum. In der siebten Etage zeigt er mir die berühmte Treppe. In James Camerons Film schreitet Kate Winslet sie herunter, und Leonardo di Caprio verliebt sich in die strahlende Frau auf den Stufen. Später, wir stehen in einem der Glas-Erker und sehen hinaus in einen trüben Tag, sagt er: "Da vorn siehst du das Dock, auf dem das Schiff gebaut wurde. Und die Höhe, auf der wir stehen, entspricht exakt der Höhe des Bugs der Titanic. Du weißt schon: I'm the King of the World!" Er lächelt und breitet die Arme aus.

Als ich wieder auf mein Rad steige, ist es windig und kühl, die Sicht vom Nebel getrübt. Langsam werden die gelben Brückenkräne der Werft kleiner und ich komme in die Innenstadt Belfasts mit ihren braun-roten Backsteinfassaden. In den engen Gassen um die Kathedrale, wo sich Pub an Pub reiht, ist es besser, sein Rennrad zu schieben.

"Wir haben uns wie Helden gefühlt"

Vor einem Haus stehen zwei farbverschmierte Kerle und bepinseln ein Garagentor. Donny und Marty sind um die 70 und ihnen geht es nicht um einen neuen Anstrich. Sie malen richtige Kunstwerke auf das Tor, wenn auch ziemlich verfremdet. Ach, Winston Churchill soll das sein! Donny tut beleidigt, lacht aber dann. Er hat sich das Malen selbst beigebracht. Wir kommen ins Gespräch und er erzählt von seiner kriminellen Vergangenheit: Früher sei er Mitglied der IRA gewesen und habe eines Tages mit drei Kumpels eine Bank ausgeraubt. Es kam zur Schießerei, zwei Männer starben, er wurde schwer verletzt. Mit vier Kugeln. Sechs Jahre saß er im Knast. So war das "in the troubles", als in den Sechzigern der Bürgerkrieg in Nordirland tobte und es immer wieder zu heftigen Ausschreitungen kam. "Es war eine wahnsinnige Zeit", sagt Donny.

Nordirland Belfast Murals

Donny (r.) und Marty vor ihren Wandmalereien in Belfast.

(Foto: Dirk Lehmann)

Seine Worte begleiten mich noch auf der anschließenden Fahrt durch die Vororte von Belfast. Es geht an niedrigen Ziegelhäusern mit schwarzen Dächern und hohen Schornsteinen vorbei. Als ich durch die katholische Falls Road fahre, über der die irische Fahne weht, denke ich an Donnys Satz: "Wir waren vor allem jung und wütend." Außerdem erklärte er: "Wir waren nicht sehr gläubig, aber die Religion einte uns". Dann fahre ich durch die Shankhill Road mit dem Union Jack, ein Symbol für die protestantischen Einwohner, die sich zu Großbritannien gehörig fühlen. Die Straße führt vorbei an den "Murals" genannten Propagandagemälden mit pathetisch-peinlichen Slogans, an Häusern hinter meterhohen Zäunen und schließlich zu einem Tor in der Peaceline. Zu früheren Zeiten wurde es nach Einbruch der Dunkelheit geschlossen. Was hatte Donny noch gleich gesagt? "Wir haben uns wie Helden gefühlt. Aber wir waren Idioten."

Kurz erklärt
Der Nordirlandkonflikt

Im Nordirlandkonflikt stehen sich republikanische Katholiken und pro-britische Protestanten gegenüber. Die Republikaner fordern eine Abtrennung Nordirlands von Großbritannien und eine Vereinigung mit der Republik Irland. Von Ende der Sechziger Jahre bis 1998 prallten beide Seiten in einem bewaffneten Untergrundkampf aufeinander. Insgesamt kamen mehr als 3000 Menschen ums Leben. Tragischer Höhepunkt war der "Bloody Sunday" 1972 im nordirischen Derry, bei dem britische Fallschirmjäger irisch-republikanische Demonstranten töteten und es daraufhin zu mehreren Bombenanschlägen durch die IRA ("Irish Republican Army") kam. Im sogenannten Karfreitagsabkommen wurde der Nordirland-Konflikt 1998 formal beendet. Seitdem hat sich das Verhältnis entspannt. Im Juli 2005 schwor die IRA außerdem der Gewalt ab und will ihre Ziele nun auf demokratische Art erreichen.

Stop bei einem alten Radprofi

Auf der Giro-Route geht es weiter zum Parlament hinauf, auf eine 60 Meter hohe Kuppe. Auf dem Weg zurück in die Innenstadt halte ich vor dem Laden von David Kane. Der ehemalige irische Radprofi hatte übers Internet Kontakt zu mir aufgenommen und mir geschrieben, sein Laden liege direkt an der Strecke - und er sei giro-rosa angestrichen. Tatsächlich ist das Geschäft schon von weitem zu erkennen. David Kane ist ein feingliedriger alter Mann, seine Mimik gezeichnet von einem leichten Schlaganfall. In einer Vitrine bewahrt er Naben und Bremsen, Schaltungen und Hebel früherer Räder auf. Er sagt, dass der Norden schön, aber anspruchsvoll sei. Und wetteranfällig. Und dass er mich beneide.

Dave Cane Fahrradgeschäft Belfast Nordirland

Extra für den Giro d'Italia hat David Kane sein Radgeschäft in Belfast rosa gestrichen.

(Foto: Dirk Lehmann)

Am Abend kehre ich zurück in mein Hotel, laut Wikipedia das "most bombed hotel" in Europa. Während der troubles soll es hier 28 Bombenanschläge gegeben haben. Ich treffe Norm, bei dem ich mir ein Rennrad ausgeliehen habe - das eigene mitzunehmen wäre teurer geworden. Norm hatte mir angeboten, mich an die Küste zu fahren, um die zweite Etappe zu halbieren. Mit seinem VW-Bus dauert es rund eine Stunde ins 80 Kilometer entfernte Bushmills.

Auch im Norden Nordirlands, wo grüne Wiesen in silbrig-wildes Meer übergehen und ständiger Wind die Felsen feilt, werden die troubles immer wieder zum Gesprächsthema.

In einem Pub in Bushmills treffe ich Charlie. Ich habe ihn über Facebook kennengelernt. Im Internet war er noch ein altersloser Rennrad-Freund. Nun sitzt mir ein drahtiger Herr gegenüber, 62 Jahre alt, mit schmalem Gesicht und kräftigen Händen. Er war Manager bei einer Versicherung in Belfast und lebt nun an der Küste in seinem Ferienhaus. Früher war es sein Rückzugsort aus dem Gewalt-Alltag. Inzwischen wohnt er gern hier, im Whisky-Dorf Bushmills, auch wenn seine Frau zurück in die Stadt will. Ihr ist es zu ruhig.

In den rauen Norden

Etappe 2: Von Bushmills aus an der Küste entlang, 120 Kilometer

Nordirland Bushmills

Mit Blick auf das aufgewühlte Meer geht es von Bushmills aus Richtung Süden.

(Foto: Dirk Lehmann)

Charlie begleitet mich auf den ersten 70 Kilometern. Von den Plateaus der Steilküste aus reicht der Blick über das aufgewühlte Meer. Wir passieren einsame Kirchen, Friedhöfe, verlassene Ruinen. Die Route führt über Hochebenen und durch Wälder mit vom ständigen Wind gebeugten Bäumen, aus dichtem Nebel tauchen immer wieder Dörfer auf. Schließlich kehren wir durchgefroren in einem Pub ein, aus den Schuhen tropft Wasser. Voller Mitleid schickt uns die Inhaberin vor einen Kamin im Nebenraum. Dort sind die Leute neugierig. Warum wir so seltsam angezogen seien, wollen sie wissen. Noch merkwürdiger finden sie, dass wir mit den Rädern Distanzen zurücklegen, für die sie ins Auto steigen. Und nahezu verrückt erscheint ihnen, dass ich dafür aus Deutschland nach Nordirland komme. Sie setzen sich zu uns und erzählen bald von seltsamen Nordiren und bezichtigen sich gegenseitig, sonderbar zu sein. Wir lachen. Charlie und mir fällt es schwer, aber wir müssen weiter. Bevor Charlie zurück nach Bushmills fährt, zeigt er noch das Foto mit der Strandidylle.

Zurück in Belfast geht es für mich mit dem Bus weiter nach Armagh. Die kleine Stadt, angeblich vom Heiligen Patrick gegründet, gilt als das spirituelle Zentrum Irlands. Außerdem ist sie der Sitz sowohl des anglikanischen als auch des römisch-katholischen Bischofs. Vom Stadtbild kriege ich nicht viel mit, todmüde falle ich nach dem Essen ins Bett.

Nordirland Armagh

Spirituelles Zentrum Irlands: das Städtchen Armagh.

(Foto: Dirk Lehmann)

Etappe 3: Armagh bis kurz vor Dublin, 135 Kilometer

Am Tag zeigt sich Armagh hell, grün und weitläufig. Von Regen und Wind keine Spur. Es ist Sonntag, alle Geschäfte haben geschlossen. Nach einer stillen Stadtrundfahrt folge ich meinem Navigationsgerät aus dem Ort heraus, Richtung Südwesten. Hinter Keady kämpfe mich hinauf zum Fews Forest, dem mit 315 Metern höchsten Punkt des Giro d'Italia in Irland. Dann geht es durch satt grüne Hügel. In manchen Pfützen glitzert die Sonne.

Über die unsichtbare Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland fahre ich in Begleitung von Jeff. Auch wir hatten uns auf Facebook kennengelernt und uns bei Forkhill verabredet. Einander Windschatten gebend, radeln wir Richtung Dundalk. Dort überragt die gotische St. Patrick's Church die Stadt, ein Ebenbild der King's College Chapel in Cambridge. Jeff erzählt von seiner Kindheit während der troubles - vom allgegenwärtigen Lärm der Helikopter, vom gleißenden Licht der Suchscheinwerfer, von der Angst vor Heckenschützen. Und doch wollte er hier nie weg, er lebt jetzt mit Frau und zwei Kindern in einem Dorf in der Nähe. Auf dem Rad fährt er ganz bewusst durch beide Länder. Es soll sich endlich normal anfühlen, sagt er. Und fügt hinzu: "Aber ist ungewohnt. Noch immer."

Die Radtour können Sie in fünf bis sieben Tagen nachfahren. Wer es sportlicher mag, rechnet mit drei Tagen.

Informationen

Karte Nordirland Radtour

Bitte klicken Sie hier zum Vergrößern.

(Foto: SZ Grafik)

Iron Donkey: Das Ein-Mann-Unternehmen aus Belfast bietet geführte Radreisen, organisierte Individual-Touren mit Gepäcktransport und verleiht solide Räder.

Hotel Europa: "the most bombed hotel". Die Halle hat historischen Grand-Hotel-Chic, die Zimmer entsprechen dem Business-Hotel-Charme der 1980er Jahre. Aus der zehnten Etage haben Hotelgäste einen schönen Blick über die Stadt.

Causeway Hotel: Direkt am Giant's Causeway - Damm des Riesen - mit seinen rund 40.000 Basaltsäulen, liegt dieses einfache Landhotel. Im nahen Ausstellungszentrum des National Trust wird die vulkanische Entstehung dieser Küstenlandschaft erzählt.

De Averell House: Ein schlichtes Bed and Breakfast mitten in der Stadt, mit Fahrradabstellplatz im Innenhof. Auf das Frühstück kann man jedoch gut verzichten, in der Nähe gibt es zwei "Bagel Bean"-Cafés.

The Grand Hotel: In Malahide, 30 Kilometer vor Dublin, liegt dieses im Stil klassizistischer Architektur errichtete Haus direkt an der Küste. Mit großen Zimmern, teils mit Meerblick, die Wellness-Abteilung bietet den perfekten Abschluss einer Radtour.

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