Mexiko:In der Schlucht der Leichtfüßigen

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Der Canyon der Läufer wird zum Abenteuerpark: Vor sechs Jahren hat die Regierung den Kupfercanyon ausgebaut, um mehr Touristen in die Region zu locken. (Foto: Marcos Ferro /Aurora/laif)

Der Bestseller "Born to Run" machte die Tarahumara und den Kupfercanyon in Mexiko berühmt. Jetzt wird ein Kinofilm über die Wunderläufer gedreht. Wie sieht die Wirklichkeit aus? Ein Besuch.

Von Florian Sanktjohanser

Wenn die Tür aufgeht, fällt man vornüber in die Tiefe. Der Magen sackt ab, Urinstinkt, da hilft es nichts, dass der Adrenalinjunkie in einen Sitz geschnallt ist. Immer schneller schießt man am Stahlseil hängend über die Schlucht, Pinien und Kakteen fliegen vorbei, in der Ferne glühen Felswände in der Abendsonne.

130 Stundenkilometer Spitzentempo, sagt Pablo Dominguez Madrid, 2545 Meter weit spanne sich das Stahlseil über die Schlucht. Herr Madrid ist stolz auf diese Zahlen, er ist der Chef des Parque de Aventura Barrancas del Cobre, und der Ziprider ist seine neueste Adrenalinpumpe. Die angeblich längste Seilrutsche der Welt soll mehr Touristen in seinen Abenteuerspielplatz locken und in den Kupfercanyon im Allgemeinen, jenes riesige Schluchtensystem, viermal größer als der Grand Canyon.

Mittlerweile kann man dort klettern, über die Abgründe führen Ziplines. (Foto: Florian Sanktjohanser)

Es sind Zeiten der Dürre für die Tourismuswirtschaft im Nordwesten Mexikos. Seit sich die Drogenbanden im Bundesstaat Chihuahua und im Rest des Landes gegenseitig massakrieren, trauen sich kaum noch Amerikaner über die Grenze. Früher, in den fetten Zeiten vor 2008, machten die Gruppen wohlsituierter Familien und Rentner aus den USA 80 Prozent der Touristen im Kupfercanyon aus. Sie fuhren im alten Bummelzug El Chepe von Los Mochis nach Chihuahua oder umgekehrt, sie stiegen an den Aussichtsplattformen für Fotostopps aus und sie schliefen in den teuren Hotels, die wie Adlernester an die Abbruchkante der Felswände gebaut sind. Sonderzüge chauffierten Urlauber von den Kreuzfahrtschiffen für einen Ausflug in die Sierra Madre Occidental.

Diese fetten Jahre sind vorbei, vorerst. Heute kann man sich auf der Panorama-terrasse des Hotel Mirador entspannt einen Stuhl aussuchen. Bunt gemusterte Vögel landen auf dem Geländer und flattern gleich wieder in den Pinienwald hinab, Eichhörnchen huschen schnuppernd über die Felsen. Und weit unten in der Schlucht glänzen die Ziplines wie Spinnweben in der Sonne. Gerade fliegt wieder ein Mädchen an einem der Stahlseile entlang.

Einer von ihnen soll am Stück 700 Kilometer gelaufen sein. Als Tourist sieht man so etwas nicht

Vor sechs Jahren hat die Regierung den Abenteuerpark eröffnet, bisher hat er 500 Millionen Pesos gekostet, umgerechnet rund 25 Millionen Euro. Es gibt eine Konzertbühne und Leih-Quads, einen Kletterturm und eine Minigolfbahn. Das Restaurant mit seinen Panoramafenstern sieht aus wie die Bergstation eines Skigebiets. Und tatsächlich schwebt draußen gerade eine rote Gondel aus der Tiefe herauf. Die Seilbahn wurde zuerst gebaut, sagt Pablo Dominguez Madrid bei Tacos und Cola, es folgten der Flying Fox, ein Klettersteig und schließlich vor gut einem Jahr der Ziprider. Mit seinen Rekordwerten ist er natürlich die Marketing-Lokomotive. Aufregender ist aber der Flying Fox. Den hat mittlerweile zwar jedes zweite Alpental, hier kommt der alte Hut allerdings in radikalem Stil daher: mit sieben Seilrutschen hintereinander. Rücklings in der Luft hängend, die Beine überkreuzt, rast man über die Canyons, zum Bremsen muss man den Handschuh aufs Stahlseil drücken. Wer danach immer noch nicht genug Nervenkitzel hat, stürzt sich mit dem Mountainbike die Hänge hinab. Oder steigt in den Klettergurt und hangelt sich auf Stahlbügeln, an Seilen und Schlingen die Felswand unter dem Restaurant entlang, inklusive Tarzanschwung über einen Abgrund.

Doch damit sei der Abenteuerpark noch lange nicht fertig, sagt Pablo Dominguez Madrid. Weitere Hotels sollen gebaut werden und eine zweite Seilbahn über den Urique Canyon. Für dieses Jahr sei ein Sky Coaster geplant, eine Art Riesenpendel.

Eine Gondel bringt die Gäste durch die spektakuläre Bergwelt. (Foto: Florian Sanktjohanser)

Am Rand dieses überdrehten Adrenalin-Besäufnisses stehen die Tarahumara. Genauer gesagt sitzen und kauern sie an den Wegen und auf den Treppen. Frauen in knallbunt geblümten Röcken, Blusen und Kopftüchern. Vor sich haben sie Reihen von Körben ausgebreitet, die sie aus den langen Nadeln der Apachen-Kiefer flechten.

Die Indígenas wirken arm und abgehängt, wie an so vielen Touristenorten in Süd- und Mittelamerika. Doch ihre Kultur hat im Westen Fantasien vom edlen Wilden beflügelt wie kaum eine andere. Die Tarahumara seien "eine fast mystische Rasse von Steinzeit-Superathleten", fabuliert Christopher McDougall in seinem Bestseller "Born to Run". In ihrem Land gebe es kein Verbrechen und keinen Krieg, keine Gier und keine Herzkrankheiten. Sie seien wahrscheinlich die gesündesten und gelassensten Menschen auf der Erde - "und die besten Läufer aller Zeiten".

Ein mexikanischer Historiker berichtete von einem Tarahumara, der 700 Kilometer am Stück gelaufen sei. Selbst ihre Spiele sind extrem: Beim Rarajipari rennen zwei Teams durch die Berge und kicken dabei einen kleinen Holzball vor sich her, tagelang ohne Pause, nachts im Schein von Fackeln. Und all das in Sandalen. Sich selbst nennen die Indigenen übrigens Rarámuri. Die Leichtfüßigen.

Klingt fantastisch. Das Problem ist, dass man als Tourist kaum eine Chance hat, die Rarámuri laufen zu sehen. Zwar inszenieren sie ab und an ein Rarajipari für Reisegruppen, aber natürlich nur als Kurzdemo. Wer das volle Programm will, muss zu einem Rennen. Mittlerweile gibt es vier Ultramarathons im Kupfercanyon. Der berühmteste ist der Ultra Caballo Blanco, gut 80 Kilometer bergauf und bergab, benannt nach dem amerikanischen Aussteiger, dem McDougall mit seinem Buch ein Denkmal setzte. Die Teilnehmer reisen bis aus Argentinien an, um einmal gegen Tarahumara zu laufen, also zu verlieren.

Woher kommt diese sagenhafte Ausdauer? "Die Tarahumara trainieren nicht", sagt Guadalupe Aguero Loya, seit zwölf Jahren Guide im Kupfercanyon. "Sie laufen ihr ganzes Leben." Zur Schule, zum nächsten Dorf, zu ihren Feldern. "Überall, wo du Terrassen in den Hängen siehst, leben Tarahumara", sagt Loya, dort bauen sie Bohnen, Kürbisse und vor allem Mais an. Er deutet hinaus auf die steilen Hänge des Urique Canyon, in die ein Netz von Trampelpfaden eingraviert ist. Weit unten glänzt der Fluss wie eine silberne Schlange in einem zerwühlten, grünen Samtkissen. An seinem Ufer stehen winzige Häuschen. Dort unten sei das Klima tropisch, sagt Loya. Wenn der Winter komme, zögen viele Tarahumara zum Grund der Schluchten.

Bis vor 400 Jahren lebte das Volk von Bergläufern im Flachland. Aber als die Spanier sie als Sklaven in ihre Silberminen peitschen wollten, reagierten die Tarahumara auf ihre Weise: Statt zu kämpfen, zogen sie sich immer weiter in die Schluchten zurück. Heute zwingen Drogenbanden sie, auf ihren Feldern Marihuana anzubauen. Kein Wunder, dass viele Tarahumara alle Weißen und Mestizen meiden. Sie nennen die bärtigen Fremden Chabochi, "Menschen mit Spinnweben im Gesicht".

Um vor den Chabochi sicher zu sein, haben sich die Tarahumara in Höhlen hoch oben in den Klippen eingerichtet. Eines ihrer früheren Verstecke sieht man heute vom Hotelbalkon, gleich unterhalb in der Felswand. Das Hotel hat extra Stufen betoniert für den Kurzausflug in die andere Welt. Wir spazieren vorbei an Hühnerställen auf Stelzen und an Steinbecken unter einer natürlichen Regenrinne. Die Höhlen sind längst zu eng geworden, viele Familien haben fünf bis zehn Kinder, sagt Guadalupe Aguero Loya. Also haben sie vor die Höhlen zusätzliche Zimmer aus Lehmziegeln gemauert und sich daneben Häuser gebaut. Auf eines der Wellblechdächer sind sogar Solarpaneele montiert.

SZ-Karte (Foto: SZ-Karte)

Zwischen den Häusern sitzen Mädchen in bunter Tracht hinter Bergen von Halsketten, Masken und Körben. Was denken sie über die komischen Weißen, die viel Geld dafür zahlen, um vor ihrer Haustür kreischend durch die Luft zu fliegen? Auf die Frage geben die Mädchen keine Antwort. Sie sagen höflich, sie verstünden nur "un poquito" Spanisch. Dann lächeln sie scheu und senken wieder den Blick.

Bisher konnten die Tarahumara ihre Kultur in der selbstgewählten Abgeschiedenheit bewahren. Ihre Zahl wird heute auf 70 000 bis 100 000 geschätzt. Sie sind das größte Volk, das nicht in der Mestizaje, der Mehrheitsmischkultur Mexikos, aufging. Aber wie werden jene Kinder später leben wollen, die überall zu den Geländewagen der Touristen gerannt kommen und um Süßigkeiten betteln? Werden sie weiter stundenlang durch die Schluchten laufen und Pinole schlürfen, den Brei aus geröstetem, gemahlenem Mais und Wasser? Oder werden sie lieber Tacos essen und fernsehen? Und welche Rolle wird es spielen, wenn mehr und mehr Chabochi in ihre Berge kommen?

In ein paar Jahren soll die Straße zwischen Chihuahua und Los Mochis geteert sein. Der neue Flughafen im Touristenzentrum Creel hätte eigentlich schon im vergangenen Jahr eröffnet werden sollen, der Lonely Planet setzte den Kupfercanyon deshalb auf seine Top-Ten-Liste 2015. Und Hollywood verfilmt gerade "Born to Run". Angeblich übernimmt Matthew McConaughey die Rolle des Caballo Blanco. Der hagere Ex-Boxer, der sich Micah True nannte, hatte sich im Urique Canyon eine Hütte gezimmert. Er wollte dort mit den Tarahumara laufen und in Ruhe leben. Am Ende wurde er fotografiert wie ein Filmstar.

© SZ vom 24.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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