Mexiko:Hühnerblut und Coca Cola

Das Dorf San Juan Chamula widersetzt sich fünf Jahrhunderte nach Eroberung des Kontinents der westlichen Welt. Doch für ihre archaischen Zeremonien machen die Eingeborenen eine Ausnahme.

Lisa Sonnabend

Die Kirche ist untypisch für ein Gotteshaus: Messen werden hier nicht abgehalten, es gibt keinen Altar und keine Bänke zum Hinknien. Menschen laufen herum und sprechen laut miteinander. Sogar Tiere haben sie mitgebracht. Es herrscht dichter Nebel und riecht nach Räucherstäbchen, Harz und Alkohol.

Mexiko: Der Marktplatz und die Kirche von Chamula

Der Marktplatz und die Kirche von Chamula

(Foto: Foto: son)

Die Kirche steht in San Juan Chamula, einem kleinen Ort in den Bergen der südmexikanischen Provinz Chiapas.

Die spanischen Eroberer drängten vor etwa 500 Jahren die Nachfahren der Maya bis hierher zurück. Heute leben in Chamula 400 Menschen hin- und hergerissen zwischen Tradition und Moderne, zwischen alten Maya-Bräuchen und dem katholischen Glauben der Eroberer.

In dem hinteren Bereich wird ein Huhn geschlachtet für eine religiöse Zeremonie. Es schreit lauthals. Auf dem Boden der Kirche, der mit Piniennadeln bedeckt ist, sitzt eine Frau in blauer Tracht vor einer Kerze. Sie reibt ihre Arme mit Hühnerblut ein.

Dann nimmt die Frau eine Flasche Cola, trinkt sie in einem Zug aus und ein lauter Rülpser entfährt ihrem Mund.

"Nach dem Glauben der Dorfbewohner ist die Frau nun gereinigt, sie wird von einer Krankheit geheilt oder von einer Sünde befreit", erklärt Fremdenführer Alex, der gemeinsam mit einer Touristengruppe in der Kirche steht. Alex sieht ein wenig wie Che Guevara aus: Er hat dunkles welliges Haar, einen Drei-Tage-Bart und einen freundlichen, selbstbewussten Blick. Er trägt Jeans und ein Karo-Hemd.

Die Leute in Chamula widersetzen sich - auch fünf Jahrhunderte nach der Invasion - den Nachfahren der spanischen Eroberer: Die Chamulas sprechen ihre eigene Sprache: Tzotzil. Sie haben eine eigene Administration und Rechtsordnung. Traditionelle Heirat kennen sie nicht: Mann und Frau schließen lediglich einen auf ein Jahr befristeten Vertrag. Ein Mann darf dabei bis zu drei Frauen, die oft schon mit 13 heiraten, haben.

Viele Chamulas weigern sich, Krankenhäuser aufzusuchen. Stattdessen vertrauen sie auch bei schweren Krankheiten den Kräften des Schamans und der heilenden Wirkung der Kirchenrituale. "Darüber kann man denken, was man will", sagt Fremdenführer Alex. "Sicherlich mutet dies für unsere Gesellschaften seltsam an. Aber man muss die Tradition von Chamula kennen, um zu verstehen."

Alex wäre gerne Mitglied in der Gemeinde; denn er hat Vorfahren aus Chamula. Zu Alex sind die Menschen freundlich. Sie grüßen ihn, klopfen ihm auf die Schulter, einige sprechen mit ihm Tzotzil, die Eingeborenensprache. Doch die Menschen hier sehen ihn als Fremden - fast wie jeden anderen auch.

Der Konflikt der Unvereinbarkeit von alten Traditionen und neuen Einflüssen ist vielleicht in keinem Ort Südamerikas so deutlich zu sehen wie in Chamula. Das Leben im Dorf, das sich eigentlich der Modernität verweigert, wird von drei Dingen bestimmt: Tourismus, Coca-Cola und Schnaps.

Überall werden Coca-Cola-Flaschen angeboten, die Körbe auf dem öffentlichen Basketball-Platz tragen das Sprite-Logo. Die Chamulas bieten die traditionelle blaue Tracht und Schafsdecken bestickt mit Maya-Motiven an, aber auch T-Shirts mit dem Antlitz mexikanischer Revolutionshelden wie in jedem Touristenzentrum Mexikos.

Auf den Straßen liegen Betrunkene herum. Wenn sie von der Sonne geweckt werden, raffen sie ihren schlaffen Körper auf, schleppen sich einige Meter schwankend voran und lassen sich fluchend wieder nieder - in der Hoffnung, dass ihre Ehefrauen sie trotz ihrer verquollenen Gesichter noch erkennen und nach Hause bringen.

In Chamula kann man aber auch viele alte Traditionen beobachten: Schafe sind hier heilige Tiere, da Johannes der Täufer, der Schutzpatron von Chamula, ein Schaf im Arm trägt. Die Tiere werden nicht geschlachtet, nicht einmal die Milch trinkt man. Allein ihre Wolle wird genutzt. Stirbt ein Schaf, wird es liebevoll im Garten beerdigt.

Im Dorf sieht man Frauen Schafe treiben, die einen Maulkorb tragen. Sie sollen nicht das schmutzige Gras in Dorfnähe fressen. Erst auf den grünen Wiesen der umliegenden Hügel wird der Maulkorb entfernt. Die wichtigsten Männer des Dorfes - der Bürgermeister, Polizisten und Mayordomos - tragen Ponchos aus weißer Schafswolle.

Alex nimmt die Touristen schließlich mit in die Wohnung eines Mayordomos, dessen Aufgabe es ist, eine Heiligenstatue zu bewachen. Der Mayordomo muss auf die Statue aufpassen, wenn sie nicht in der Kirche steht. Die Touristen sitzen auf Stühlen, die für Kindergartenkinder gemacht scheinen, in einem Kreis um den Mayordomo und die Heiligenstatue herum. Der Mann ist braun gebrannt, ein bisschen dicklich und bohrt unaufhörlich in der Nase. Sein Leben scheint er zu genießen: Frauen bringen ihm etwas zu trinken, wenn er es wünscht, sie waschen seine Wäsche, unterhalten ihn.

Er musste viel Geld zahlen, um für ein Jahr lang Bewacher der Statue von San Mateo zu sein. Doch es lohnt sich für ihn: "Mein Leben lang habe ich von nun an einen hohen Status in der Gesellschaft", sagt der Mayordomo. Als er sich von den Touristen verabschiedet, bittet er, ihm eine Spende dazulassen.

Im Laufe der Zeit kam es immer wieder zu Konflikten zwischen den Eingeborenen in Chamula und der mexikanischen Staatsgewalt: 1867 griffen tausende Chamulas im "Krieg der Rosen" das benachbarte San Cristobal de las Casas an, heute kämpfen sie in der Armee der Zapatisten für soziale Gerechtigkeit. Auch Touristen sind nicht immer erwünscht. Manche Menschen in Chamula beobachten die Reisenden argwöhnisch oder gar aggressiv, andere dagegen grüßen freundlich oder nähern sich ihnen mit bettelnden Händen.

Für Touristen, die im acht Kilometer entfernten San Cristobal de las Casas wohnen, ist ein Ausflug nach Chamula fast Pflicht geworden. Viele finden, das Leben der Mayas lasse sich in Chamula viel besser nachvollziehen als in den rekonstruierten Ruinen von Chichen Itza oder Palenque. Und so strömen jeden Tag Hunderte in das Dorf, um zu staunen und zu kaufen.

Mancher Reiseführer preist den Ausflug in das Eingeborenendorf als Abenteuertrip an. Denn ähnlich wie eine Rafting- oder Klettertour kann der Ausflug nach Chamula böse enden: Fotografieren ist hier gefährlich.

Die Chamulas sagen: "Die Touristen rauben unsere Seele, wenn sie uns fotografieren." Zwei aufdringliche Japaner haben neulich Schläge der wütenden Chamulas abbekommen, als sie Fotos machten. Die Kameras wurden ihnen abgenommen. Drei Tage später mussten sie beim Alcalde, dem Bürgermeister des Dorfes, vorsprechen, um ihre Kameras auszulösen.

Informationen

San Juan Chamula liegt etwa 12 Kilometer nordwestlich von San Cristobal de las Casas. Die Touren von Alex & Raul finden täglich um 9.30 Uhr statt. Man findet die beiden an der Kathedrale auf dem Hauptplatz in San Cristobal de las Casas. Sie stehen bei einem dunkelblauen VW-Bus. Eine Anmeldung ist nicht nötig.

Die Tour nach Chamula und Zinacantán, ein zweites Indígena-Dorf, dauert etwa fünf Stunden und kostet zehn Euro. Es gibt Führungen auf Spanisch und Englisch. Email: alexyraultours@yahoo.com.mx

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