Süddeutsche Zeitung

Metropolen:Delhi auf die sanfte Tour

Der Hauptstadt Indiens eilt der Ruf voraus, ein Moloch zu sein. Dabei lässt sich mit einem guten Fahrer und guten Nerven Einzigartiges entdecken.

Wolfgang Müller

Ankunft in der 11-Millionen-Stadt Delhi: Es geht auf Mitternacht zu, aber dennoch herrscht irrsinniger Betrieb am Ausgang des internationalen Flughafens. Hundertschaften von Taxifahrern buhlen um die Neuankömmlinge aus Europa.

Es ist immer noch sehr warm, stickige Luft dringt von Außen in das Gebäude. Neben dem Flughafeneingang lagern von Armut und Krankheit gezeichnete Menschen auf Brettern und Laken. Der Mann vom Hotel-Abholservice bittet, zügig bis zum Parkplatz seines Kleinbusses weiterzugehen. Dann geht es in Richtung Stadtzentrum.

Auf der Straße gilt das Recht des Stärkeren: LKW-Fahrer blockieren stur die äußeren Fahrstreifen, jedes Überholmanöver muss lautstark mit der Hupe angekündigt werden. Dazwischen zwängen sich Mopeds und Motorrikschas, die sich gegenseitig an Lärm- und Abgaserzeugung überbieten.

Rucksacktouristen und Kühe

Die Schlaglöcher nehmen zu, die Straßen werden immer enger. Aus dem Seitenfenster sieht man Menschen am staubigen Boden und auf Lastkarren schlafen, Umrisse von Kühen zeichnen sich gegen die graubraunen Wände ab. Schließlich biegt der Kleinbus in die Main Basar Road ein. Wir sind im Stadtteil Pahar Ganj angelangt. In die günstigen Hotels hier verschlägt es die meisten Rucksackreisenden in Delhi.

Es ist bereits später Nachmittag, als wir uns das erste Mal bei Tageslicht in die Main Basar Road wagen. Ein dicht gedrängtes Durcheinander aus Menschen, Tieren und Fahrzeugen schiebt sich an zahllosen Läden und Verkaufsständen vorbei. Nach einer halben Stunde sind wir erschöpft von den vielen fremden Eindrücken. So fühlt sich wohl ein Kulturschock an.

Rückzug in ein Restaurant: Den Gesprächen anderer Reisender an den Nachbartischen ist zu entnehmen, dass es Ihnen ähnlich geht. Einigen haben die ersten Stunden während und nach ihrer Ankunft so zugesetzt, dass sie so schnell wie möglich an ruhige Strände fliehen wollen. Was aber ist eine Indienreise ohne ein Besuch von Delhi? Eine Stadt, in der das Leben pulsiert inmitten einer vielfältigen Stadtlandschaft, in der ganze Herrscher-Dynastien ihre Spuren hinterlassen haben?

Wir beschließen, uns auf Delhi einzulassen. Die Angestellten des Namaskar-Hotels sind geduldig und auskunftsbereit. Sie raten ab von Ausflügen in überfüllten Stadtbussen oder dem Zeit fressenden Anfahren einzelner Ziele mit Autorikschas.

Das Gefühl der Wichtigkeit

Stattdessen empfehlen sie, ein Touristentaxi inklusive Fahrer zu mieten. Die Ausflugsziele können selbst bestimmt werden. Der Preis und der Leistungsumfang werden selbstverständlich vorab ausgehandelt, diese eiserne Regel ist überall in Indien zu befolgen. Für etwa 20 Dollar kann man sich einen ganzen Tag lang kreuz und quer durch Delhi fahren lassen.

Früh am Morgen wartet ein älterer Herr mit Schnauzbart und Koteletten in der Hotellobby. Er lächelt freundlich und führt uns zu seinem weißen Kleinwagen. Er bekundet nicht ohne Stolz, in früheren Zeiten als Chauffeur in Staatsdiensten bereits die einstige Premierministerin Indira Gandhi sicher ans Ziel gebracht zu haben.

Bindet er uns etwa einen Bären auf, um doch noch einen höheren Preis für seine Dienste verlangen zu können?

Er muss unsere Gedanken gelesen haben, denn zum Beweis zeigt er ein Foto mit leichtem Gelbstich, auf dem er in schneeweißer Uniform nebst einer Limousine und einer Reihe ernst dreinblickender Herren, teils mit hohen Turbanen, teils in Offiziersuniformen, abgebildet ist. Das Foto bewirkt auf jeden Fall, dass wir uns fortan wie wichtige Persönlichkeiten fühlen. Auch der Umstand, dass der Fahrer uns unablässig mit "Sir" und "Madam" anspricht, trägt dazu bei.

Die Fahrt führt uns zunächst vorbei am berühmten Roten Fort, das Mitte des 17. Jahrhunderts direkt am Ufer des Yamuna-Flusses errichtet wurde. Die gewaltigen, aus rotem Sandstein errichteten Außenmauern sind Zeugen der damaligen Herrschaft der Großmoguln von Delhi.

Von dort aus geht es weiter Richtung Norden, in das muslimisch geprägte Old Delhi. Old Delhi ergibt sich als beinahe zwingend logische Konsequenz aus dem Zusammenpralls einer orientalischen Stadt mittelalterlichen Zuschnitts mit dem Verkehr und dem Bevölkerungsdruck der Neuzeit.

Die Funktion des Chaos

Einige Gebäude weisen Zeichen des Verfalls auf. In den engen Basarstraßen toben das Leben und der Verkehr. Wie selbstverständlich wird jede noch so kleine Nische durch einen Laden, eine Werkstatt oder ein Lager genutzt. Trotz des Chaos scheint alles zu funktionieren.

Mit dem Auto geht es nur noch im Schritttempo voran. Unser Fahrer bleibt erstaunlich gelassen und summt sogar, während überall blechern gehupt wird und Händler lautstark ihre Waren anpreisen.

Inmitten des Labyrinths aus Häusern und engen Straßen steht die größte Moschee von ganz Indien, Jamia Masjid. Bis zu 40 Meter ragen ihre Minarette in den dunstigen Himmel Delhis empor. Zwischen ihnen ziehen Hunderte von Tauben flatternd ihre Bahnen. Im Innenbereich der Moschee hält sich auch außerhalb der Gebetszeiten eine große Anzahl von Menschen auf. Es wirkt so, als würde ihnen der heilige Bau als Wohnzimmer dienen.

Der weitere Weg führt aus Old Delhi hinaus in Richtung Süden, nach New Delhi, der offiziellen Hauptstadt Indiens. Es bildet den größten nur vorstellbaren Gegensatz zu Old Delhi. Seine britischen Erbauer gaben sich alle Mühe, um ihren kolonialen Herrschaftsanspruch im wahrsten Sinne des Wortes zu untermauern. Der Zuschnitt der Straßen lässt selbst Delhis Verkehr auf ein normal wirkendes Maß zusammen schrumpfen.

Die äußerst großzügigen Verwaltungsgebäude aus gelbem Sandstein dienen auch der heutigen Regierung Indiens als Amtssitz. Oberflächlich betrachtet wirkt der Stadtteil öde und leer. Er lebt vor allem von seinee spannungsreichen Geschichte.

Zur Zeit seiner Fertigstellung in den 1920er Jahren war die von der indischen Zivilbevölkerung getragene Revolution unter der Führung Mahatma Gandhis bereits voll im Gange. Auf der breiten Paradestraße zwischen den Regierungsgebäuden und dem Torbogen des India Gates wurde später der aufgebahrte Leichnam Gandhis vorbei an Tausenden von Trauernden gefahren, bevor er verbrannt wurde.

Etwas vom Geist Gandhis bleibt bis heute in Delhi spürbar. Einige der vorbeifahrenden Taxis haben seinen Namen und seine zum Frieden mahnenden Botschaften auf ihren Heckscheiben angebracht.

Nicht so scharf wie befürchtet

Zum Mittagessen empfiehlt unser Fahrer ein für Touristen zugänglich gemachtes Restaurant, in dem sonst nur Regierungsangestellte und deren Angehörige zu günstigen Preisen verköstigt werden.

Der höfliche Kellner fragt mehrmals nach, ob alles zu unserer Zufriedenheit sei. Das Thali ist längst nicht so scharf wie befürchtet. Die verschiedenen Gemüse mit Soßen und Reis schmecken ausgezeichnet und dürfen auch mit dem Löffel - und nicht nur mit der Hand - gegessen werden.

Bevor es weitergeht, müssen wir unbedingt noch einen süßen und einen salzigen Lassi probieren. Unser Fahrer scheint im Gegensatz zu uns ein Asket zu sein; jedenfalls genügen ihm zum Mittagessen ein Tee und etwas Fladenbrot, dass zum Thali gereicht wird.

Als bauliches Ensemble der besonderen Art stellen sich die fünf Sternwarten des "Jantar Mantar" dar. Diese auch unter dem Namen "Kalenderbauten" bekannten astronomischen Instrumente wurden in astronomisch anmutenden Dimensionen errichtet.

Sie wurden von Jai Sing II, einstiger Maharadja von Jaipur, in Auftrag gegeben und 1724 fertig gestellt. Heute haben bunte Papageien die Nischen und Winkel dieser Bauten als Nistplätze für sich entdeckt. In den komplexen Geometrien der rot und weiß bemalten Baukörper spielen Kinder Verstecken und junge indische Ehepaare finden einen Platz für Zärtlichkeiten.

Im Licht der tief stehenden Sonne erscheinen die ihrer ursprünglichen Funktion beraubten Instrumente wie ein wundersamer und zugleich wunderschöner Spielplatz inmitten der lärmenden und hitzigen Großstadt.

Ein Elefantengott zwischen den Teppichen

Am Abend bietet sich noch einmal die Gelegenheit zu einem Spaziergang durch Pahar Ganj. Die Läden entlang der Main Basar Road bieten eine schier unendliche Auswahl an Teppichen, Stoffen und Kleidern. Aber auch Abbilder oder Steinfiguren hinduistischer Gottheiten wie dem Glück verheißenden Elefantengott Ganesha lassen sich hier finden.

Nach einer Weile stellt man fest, dass es wenig gibt, was es hier nicht gibt. Am Schönsten ist jedoch, sich an einem der Straßenstände einen Masala-gewürzten Chai zu bestellen und einfach nur zu staunen über den vorbeiziehenden Strom bunten Lebens.

Nach und nach entdeckt man auch die Vielzahl kleinerer und größerer Straßentempel, in denen sich zu jeder Tageszeit gläubige Hindus zum Gebet einfinden. Oder weitere interessante Passanten wie die dicke, in edle Stoffe gehüllte Brahmanin, die sich samt ihrer beiden Töchter in einer Fahrradrikscha zum wöchentlichen Großeinkauf chauffieren lässt.

Ist der erste Schock überwunden, kann man in der brodelnden Metropole Delhi das Gefühl genießen, völlig in den Mikrokosmos des indischen Alltags einzutauchen. Die sich auf eigenartige Weise zu einer Einheit fügenden Kontraste zwischen Alt und Neu, Religiös und Profan, Arm und Reich lassen Delhi auf ihre Art einzigartig erscheinen.

Wer sich zur Bewältigung der Distanzen im Stadtgebiet für ein Miettaxi entscheidet, bekommt neben einem ortskundigen und für individuelle Wünsche offenen Fahrer die wichtigsten drei Zutaten für eine erfolgreiche Besichtigung der Metropole: "Good Breaks, a Good Horn and Good Luck."

Informationen:

Unterkunft und Touristen-Taxis: Hotel Namaskar / Stadtteil Pahar Ganj, Tel: 0091-11-23582233, E-Mail: namaskarhotel@yahoo.com

Transportmöglichkeiten in Delhi: Indisches Fremdenverkehrsamt, india-tourism.com/de_traffic.0.html

Deutsche Botschaft in Delhi: No. 6/50G, Shanti Path, Chanakyapuri, New Delhi 110021, Tel: (0091-11) 2687 18 31 - 37, Fax: (0091-11) 2687 31 17, E-Mail: info@new-delhi.diplo.de, www.germanembassy-india.org

Flüge nach Delhi: Preise ab 625 Euro Hin- und Rückflug, British Airways: Direktflüge ab London Heathrow, Zubringer von mehreren deutschen Städten, Lufthansa: Direktflüge u.a. ab Frankfurt und München

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