Matera:Wiedergeburt

Lesezeit: 4 min

Der süditalienische Ort war 2019 europäische Kulturhauptstadt - und will die Ideen mitnehmen in die Zukunft.

Von Helmut Luther

Matera in der Basilikata ist bekannt für seine Sassi, uralte, in Stein gehauene Wohnungen. (Foto: H.Loebermann/imago/Westend61)

Am frühen Morgen, bevor die Touristen kommen, gehört die einzige Zufahrtsstraße zu den Sassi den Joggern und Hundebesitzern. Die Via Madonna delle Virtù erstreckt sich am unteren Rand der Höhlenwohnungen, die im lokalen Dialekt "Sassi", Felsen, heißen: wie Schuhschachteln türmen sie sich übereinander. Da die seit der Jungsteinzeit bewohnten Felsen nach Osten exponiert sind, brennt die Sonne im Juli schon morgens vom Himmel, man hält sich besser an den Straßenrand, wo Feigenbäume und Manna-Eschen ein wenig Schatten spenden.

Die verlassenen Sassi dienten jahrelang als Müllkippe. Heute sind sie fast unbezahlbar

Hier ist Italo Massari unterwegs, mit Fotoapparat und Teleobjektiv um den Hals. Dort oben habe er sein Haus, sagt Massari und zeigt hinauf zum Sasso Barisano, der so genannt wird, weil es von dort Richtung Bari geht. "Wir waren unter den ersten, die in die verlassenen Sassi zurückkehrten. Wir bekamen unser Haus fast geschenkt - allerdings mussten wir zuerst alte Matratzen und Kühlschränke wegräumen, die Sassi wurden lange als Müllkippe verwendet." Heute beneiden ihn viele: Er ist Hausbesitzer in den Sassi, die unbezahlbar geworden sind. Immer entdeckt Massari hier neue Motive. "Wenn sich dunkle Wolkenberge bilden und die Sonne hindurch blitzt, ist das Spiel von Licht und Schatten unbeschreiblich", sagt er. Besuchern empfiehlt er, sich treiben zu lassen. "Das Schönste, was einem in den Sassi passieren kann, ist, dass man sich verirrt."

Ein Rat, der leicht zu befolgen ist: Noch gibt es im hühnerleiterähnlichen Gewirr aus Treppen und Gassen - auch ein Jahr nachdem Matera als erster süditalienischer Ort Kulturhauptstadt Europas war - keine Wegweiser wie in Venedig, wo Touristen zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten geschleust werden. Vielleicht landet man vor Vincenzo Galantes Ladenwerkstatt. Er meißelt Krippen aus Tuffbrocken. Die Heilige Familie in einer Höhle, die genau wie die Sassi-Häuser und wie Galantes Werkstatt aussieht: Unten alles aus Stein, Tisch und Kochstelle, Schlafnischen, die Futterkrippe für den Esel. Darüber aus Tuffblöcken ein Häuschen, am Dach tönerne Regentraufen. In einer Höhle wie dieser sei er aufgewachsen, erzählt Galante. "Wenn in armen Familien ein Kind starb, war das traurig, aber das Leben ging weiter. Verendete der Esel, war es eine Katastrophe." Das frühere Leben in den Höhlen will er nicht verklären. Aber in den "Vicinati", den Nachbarschaften mit gemeinsamer Zisterne, entstand Gemeinschaft. "Man teilte Freud und Leid miteinander. Der Zusammenhalt war damals größer", sagt Galante.

Vom Zusammenhalt schwärmt auch Rossella Tarantino. Die Generaldirektorin der Stiftung Matera 2019 sitzt in ihrem Büro in einem ehemaligen Kloster in der Via La Vista. Schaut Tarantino nach links aus dem Fenster, ragt dort auf einem Hügel die alte Stadtfestung empor. Rechts Richtung Sassi dehnt sich der Corso mit der Piazza Vittorio Veneto aus, der "centro storico", der Stadtkern aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Corso und Piazza sind das Wohnzimmer der Materani mit zahlreichen Restaurants und Bars. Schlauchartige Durchgänge führen zu den Sassi hinunter. Fragt man Tarantino, was das Kulturhauptstadtjahr für Matera bedeutete, strahlt sie. Die Auszeichnung habe zu einem Bewusstseinswandel, einer Wiedergeburt geführt. "Wir sind alle sehr stolz. Keiner hätte vor einigen Jahren gedacht, dass sich unser süditalienisches Städtchen gegen nationale Konkurrenten wie Venedig und Siena durchsetzen könnte." Heute heiße es über Bari an der Küste, wo die Besucher mit dem Billigflieger landen: Bari bei Matera. "Nicht umgekehrt, wie es früher immer war!"

Die Generaldirektorin erzählt von einer Umfrage, mit der nach dem Großereignis 2019 die Stimmungslage in der Stadt ausgelotet werden sollte. Die große Mehrheit habe gefordert, dass Matera künftig, wie 2019, auf Kultur setze, sagt Tarantino. "Zum Beispiel mit einem traditionellen Brotfest, unsere Region war einst die Kornkammer Italiens."

Den Energieschub von 2019 nutzen wollen auch die zahlreichen Freiwilligen, ohne die das Kulturhauptstadtjahr nicht möglich gewesen wäre. Etwa Maria Trento. Die Französischlehrerin am städtischen Sprachengymnasium sitzt am Corso vor einem Café und kramt aus ihrer Tasche ein Päckchen zusammengehefteter computerbeschriebener Blätter hervor und legt es auf den Tisch. "Manifesto" heißt es in rotem Fettdruck auf dem Deckblatt.

Festivals mit Bürgerbeteiligung sollen die Stadt künftig noch lebenswerter machen

Mit dem Bürgermanifest, an dem Trento mitgeschrieben hat, wollen die Bewohner ihren Erwartungen für die Zukunft Ausdruck geben. Bei "Matera 2019" hat Maria Trento mit Gesang und Tanz an einer Aufführung von Dantes "Purgatorio" in den Straßen und Kirchen der Stadt mitgewirkt. Sie spricht von Gänsehauterlebnissen. Es sei großartig gewesen, Matera habe ganz den Einheimischen gehört. "Wir gaben unserer Stadt ein neues, fröhliches Gesicht." Ähnliche Festivals mit Bürgerbeteiligung zu veranstalten, wäre das Ziel der Manifesto-Verfasser, sagt Trento. "Es liegt an uns, ob alles nur ein Traum war - oder ob wir Matera schöner, lebenswerter machen".

Geht man die Via del Corso weiter nach Süden, vorbei an Geschäften internationaler Ketten, an steinernen Totenköpfen vor der Kirche, an barocken Palazzi, gelangt man über die lang gezogene Via Lucana zum Rione Le Piane am hügeligen Stadtrand. Umringt von Neubauten, steht hier auf einer Streuobstwiese das Casino Padula. Im rot-weiß getünchten Gebäude mit Bogentor und Flachdach, früher ein herrschaftlicher Bauernhof, ist die Open Design School untergebracht. Pasquale Montemurro, Lab Manager an der Schule, führt durch sein verwinkeltes Reich. Jetzt am Abend sind sämtliche Türen und Fenster geöffnet, um die Hitze des Tages zu vertreiben. Montemurro stapft voran durch Säle mit 3 D-Drucker, Schneidemaschine für Kunststofffolien, zeigt die Metall- und die Tischlerwerkstatt mit Schraubstock und Hobelbank. Montemurro erklärt das Besondere dieser dank "Matera 2019" eröffneten Schule: "Die Verbindung von Theorie und Praxis. Hier wurden vom Entwurf bis zur Gebrauchsfertigkeit aus Einzelteilen Podien und Gerüste für Bühnen und Festivals gebaut."

Als Beispiel nennt der Manager die 2019 in Matera aufgeführte Oper "Silent City". An den Projekten der Open Design School haben zu je einem Drittel Teilnehmer aus dem europäischen Ausland, aus Italien sowie der Stadt Matera mitgewirkt. Ein junger deutscher Absolvent ist gleich in Matera geblieben. "Natürlich müssen wir künftig auf den eigenen Beinen stehen", also ohne Fördermittel auskommen, erklärt der Manager. Ein Anfang immerhin ist gemacht. Für das kommende Jahr sei die Zusammenarbeit mit der Stiftung VAC in Venedig sowie dem Parco Paduli in Apulien vereinbart.

Verlässt man die Schule durch den Westausgang, führt ein Kiesweg vorbei an einem alten Steinbruch, zu einem eisernen Gartentor. Etwas unterhalb, flankiert von zerzausten Apfelbäumen, entdeckt man Gartenbeete, eingerahmt von hölzernen Minipalisaden. "Gardentopia" hieß das Projekt, mit dem "Matera 2019" die Stadtbewohner dazu ermutigen wollte, eigenes Gemüse anzubauen. Angesichts mickriger Bohnen- und Tomatenstauden, die sich an Bambusstangen empor ranken, und viel brachliegender Erde liegt allerdings die Schlussfolgerung nahe: Vom Selbstversorgerpotenzial sind die Materaner offenbar noch nicht vollständig überzeugt.

© SZ vom 11.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: