Süddeutsche Zeitung

Massachusetts:Der Schuh des Moshup

Herman Melville nannte die Einwohner Nantuckets Meeres-Eremiten - heute leben auf der einstigen Walfängerinsel Millionäre und Sommerurlauber.

Von Ekkehart Baumgartner

Nach dem Reichtum durch den Walfang kam der Reichtum durch die Millionäre aus New York und Boston. Dennoch ist Nantucket bis heute eine unbekannte Insel im Schatten der großen Schwester Martha's Vineyard geblieben. Tonnen von Öl, Fett und Knochen haben die Menschen an der Ostküste der USA reich gemacht.

Vor allen die Bevölkerung auf der kleinen Insel Nantucket: Hier entwickelte sich Ende des 18.Jahrhunderts das weltgrößte Walfangzentrum. Ein ansehnlicher Ort entstand, Straßen mit gediegenen Häusern.

"Nantucket! Nehmt eure Landkarte heraus und sucht es auf", ruft Herman Melville seinen Lesern im 14. Kapitel des Walfang-Epos "Moby Dick" entgegen: "Nichts als ein Hügelchen, eine Handvoll Sand, ein Strand nur, und ohne Hinterland."

Von einer recht eigentümlichen Insel spricht Melville, die so weltverloren im Meer liegt, unschön, ein garstiger Landstrich für Eigenbrötler.

Dieser Spötter! Was kann Nantucket dafür, dass es aus der Vogelperspektive wie ein Hufeisen aussieht. Der indianischen Legende nach erschuf der Riese Moshup die Insel, als er einen seiner sandgefüllten Mokassins im Schlaf davonschleuderte. Und da liegt er noch heute. Moshups Schuh. Mitten im Meer.

"Widow Walks"

Und so schlecht lebt es sich in dem Riesen-Mokassin gar nicht. Clapboard-Häuser mit Außenfassaden aus Zedern- und Fichtenholzschindeln säumen die Straßen von Nantucket. Entlang der kopfsteingepflasterten Straßen stehen mehr als 800 Häuser aus der Zeit zwischen 1740 und 1840, das sind weit mehr als in jedem anderen Ort der Vereinigten Staaten.

Auf den alten Gebäuden erheben sich die "Roof-Walks", erhöhte Holzterrassen mit Blick aufs Meer. Was heute die gepflegte Teestunde mit Aussicht garantiert, diente früher den Frauen als Ausguck, die den Horizont nach heimkehrenden Schiffen absuchten. Nicht umsonst heißen diese Dachbalkone auch "Widow Walks".

Manchmal waren die Schiffe bis zu fünf Jahren auf Waljagd, ehe sie wieder den Hafen von Nantucket ansteuerten. Im Walmuseum an der Broad-Street kann man die Stationen der Walfänger nachlesen und die Knochen der riesigen Beuteobjekte bestaunen.

In sich geschlossene Welt

Über die Witwen und Zurückgelassenen erfährt man hier allerdings recht wenig. Da muss man schon ins Walmuseum nach New Bedford fahren, ans Festland, das sich den Frauen der Walfänger widmet.

Die kultivierten ihre eigene, in sich geschlossene Welt, tauschten sich in eingeschworenen Zirkeln über Religion, Politik und Literatur aus, halfen sich gegenseitig, suchten einander Arbeiten und übernahmen zeitweise die Aufgaben der Männer, reparierten Häuser, bestellten Felder. Sie lebten eine Unabhängigkeit und ein Freidenkertum, das für die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA ungewöhnlich war.

Und da spricht Melville von den "armseligen Leuten" auf Nantucket, von "Meeres-Eremiten", die von "ihrem Ameisenhügel aus die Wasserwelt überrannt und erobert haben". Ein hartes Urteil.

Den "Meeres-Eremiten" sind längst die Millionäre gefolgt. Sie leben hier zurückgezogen und lieben vor allem eines: ihre Privatsphäre. Als Bastionen haben sie ihre Sommerhäuser ins Dünengras gesetzt. Das einstige Walfangzentrum hat sich zur Sommeridylle gewandelt und den Reichtum konserviert.

Das verleiht ihr den Charme vornehmer Exklusivität: "Auf unserer Insel fährt man Fahrrad, geht früh schlafen, wer reich ist, muss es nicht zeigen", erklärt ein Anwohner und lobt die Urwüchsigkeit und Romantik der Insel.

In den Häusern lehnen die Preiselbeer-Rechen und die Nantucket-Körbe, die aus Ruten geflochten sind. Viele von ihnen sind teure Antiquitäten. Denn sie wurden noch von Walfängern angefertigt, die sich damit die Wartezeit während der Wintermonate vertrieben. Bis zu 15:000 Dollar sind die alten Körbe heute wert.

Die statische Schönheit der ruhigen Landstriche findet sich in den Gemälden von Edward Hopper wieder. Der verbrachte hier zahlreiche Sommerurlaube und malte die weiten Dünenlandschaften samt ihren in sich gekehrten Bewohnern. Hoppers Menschen starren in einen leeren Himmel oder einen unendlich fernen Horizont.

Neben Rockefellers am Weinregal

Zahlreiche Antiquitätengeschäfte und Galerien säumen die Main Street. Sie bieten allerdings keine Hoppers feil, sondern bunten Touristenkitsch in Wasserfarbe und Öl.

Komischerweise dienen weder die Hauptstraße noch der Marktplatz am Hafen den Insulanern als Treffpunkt. Man trifft sie am Flughafen, wo die Privatjets und die kleinen Linienmaschinen aus Boston, New York, New Bedford und Connecticut landen. Ihre Wagen parken sie bequem, um von dort aus in den Jet zu steigen.

Im Supermarkt "Stop & Shop" kommt es schon vor, dass man neben Familie Rockefeller am Weinregal steht. Rockefellers kommen vor allem nach Chatham auf Cape Cod, um dort ihre Barbecue- und Cocktailpartys zu feiern. Und weil Nantucket mit dem Flugzeug gerade mal eine Viertelstunde entfernt ist, fliegen sie auch mal schnell nach Nantucket rüber.

Die versnobten Nachbarn

Selbstbewusst genug haben die Insulaner ihrer berühmten Nachbarin Martha's Vineyard den Kampf angesagt. Klar, dorthin fuhren die Kennedys und die Clintons zur Sommerfrische und alle möglichen Hollywood-Filmstars.

Zu "artsy" sei die Insel, sagen die Menschen auf Nantucket, zu versnobt. Doch Prominente gibt es mittlerweile auch auf Nantucket. Der Modedesigner Tommy Hilfinger etwa kaufte sich in der Lincoln Avenue 1997 für 4,6 Millionen Dollar ein und erweiterte das Haus auf Nummer 3 nach strengsten Vorgaben.

Denn der Denkmalschutz reglementiert die Baugesetze nach rigiden Kriterien. Wehe dem, der auf der Insel anderes Baumaterial verwendete als Holz oder auch nur eine Neonröhre an der Außenfassade anbrächte.

Am 30.Dezember 1997 konfrontierte ein gestrandeter Wal an der Küste von Nantucket die Besucher erneut mit ihrer Vergangenheit. Das verendete Tier, das Wolken von fischigen und tranigen Gerüchen über das Land schickte, musste so schnell wie möglich zerlegt werden.

Man besann sich auf die Werkzeuge im Museum und machte sich mit den alten Säbeln und Speeren an die Arbeit. Die Inselbehörde rief sogar bei der Nasa an, ob sie Walöl gebrauchen könnte, da Teile der Raumstationen damit wegen der besseren Isolierung bestrichen werden.

Die Nasa deckt sich inzwischen anderswo ein, denn Wale werden bekanntlich nicht mehr gejagt, sondern nurmehr beobachtet. Von Schiffen aus inspizieren heute die Gäste die einstigen Jagdgründe: Von Provincetown, Barnstable, Vineyard Haven und Straight Wharf auf Nantucket legen die Schiffe ab.

Welch prächtiger Bursche!

Die weißen Bäuche der Wale spiegeln sich moosgrün unter der Oberfläche des Meeres. Um die 160 Tonnen schweren Kolosse zu finden, steuern die Kapitäne Delphinschwärme an. Denn die Delphine kreisen um die Wale.

"Ein prächtiger Bursche auf zehn Uhr!", heißt es plötzlich an Deck. Und schon dreht sich jeder, den Blick in Fahrtrichtung, den Wal zu entdecken.

Die Wale kommen auf Nahrungssuche zwischen April und Mai an die Ostküste der USA. Der Augenblick, da man sie auftauchen sieht, ist kurz. Wie eine große Blase zerplatzt das Wasser, wenn sich der schwarze Rücken des Wals wie eine Insel aufwölbt, ehe der Wal mit kräftigem Gegurgel wieder in der Tiefe verschwindet.

Wenn die friedlichen Riesen wüssten, dass einst Walölkerzen aus Nantucket die Straßen Londons beleuchtet haben. Am 3. Februar 1783 startete das Walschiff Bedford nach London, um die Walöllichte zu verkaufen. Das war das erste Mal überhaupt, dass die amerikanische Fahne in England gesichtet wurde.

Hauch des Mondes

Was 1712 mit dem ersten Walfang auf Nantucket begonnen hatte, endete 1871, als das letzte Schiff auslief. Petroleum ersetzte die Walölkerzen und schmälerte die Einnahmen der Walfangindustrie enorm. Nach 1871 setzte der wirtschaftliche Niedergang Nantuckets ein, der allerdings nur wenige Jahre anhielt.

Bereits 1880 wurde eine Eisenbahn durch die Insel gebaut, damit sie die ersten reichen Gäste aus New York und Boston bequem erkunden konnten. Ein beispielloses Immobiliengeschäft entwickelte sich in der Nachbarschaft von Martha's Vineyard und vertrieb die Walfänger und Fischer. Sie suchten ihr Glück als Goldsucher in den Bergen Alaskas oder heuerten auf anderen Walfangflotten in Norwegen oder Japan an.

In der Bibliothek der Historischen Gesellschaft an der Fair Street werden die alten Logbücher aufbewahrt. Bei allem Spott hatte auch Melville großen Respekt vor den Bewohnern Nantuckets und seinen Seefahrern:

"Jahre und Jahre kennt er das Festland nicht, und kommt er endlich dorthin, so atmet er den Geruch einer fremden Welt, befremdlicher als der Hauch des Mondes für seine Erdbewohner wäre."

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