Mali:Bamako Blues

Tagsüber wirkt die Hauptstadt eher träge. Nachts aber dreht sie mit ihrem ganz eigenen Sound voll auf.

Von Jonathan Fischer

Krokodil-Tümpel. Das bedeutet Bamako in der lokalen Sprache Bambara. Das Wappentier passt auch metaphorisch - zumindest was die täuschende Trägheit der Niger-Metropole angeht. Als der berühmte schottische Afrika-Forscher Mungo Park die Ufersiedlung 1806 erstmals kartografierte, war sie noch ein kleines Fischerdorf. Ein gutes Jahrhundert später machten die französischen Kolonialherren Bamako zur Hauptstadt Malis. Heute ist die Zwei-Millionen-Stadt die am schnellsten wachsende Metropole Afrikas. Nur: Als Besucher merkt man kaum etwas davon. Denn tagsüber umgibt sich Bamako - ganz wie die am Niger-Ufer dösenden Krokodile - mit einer Aura von Schläfrigkeit.

Alles läuft hier etwas gemächlicher: In bunte Tücher gehüllte Frauen schlurfen aufreizend langsam ihren Besorgungen entgegen. Moped-Trauben gleiten schlafwandlerisch sicher über ungeregelte Kreuzungen. Eselgespanne zuckeln durch den roten Staub. Ja, selbst die Händler auf den Freiluft-Märkten scheinen hier gerade so viel zu schreien wie nötig. Ein Zeichen der wirtschaftlichen Depression nach eineinhalb Jahren Krieg im Norden? Nein, Bamako hatte schon immer seinen eigenen Rhythmus. Der Tag ist hier ein langer, friedlicher Fluss. Man braucht die Kraft noch für die Abendstunden. Erst wenn der Mond über dem Niger leuchtet, wacht das Krokodil auf, beginnt in der Stadt das eigentliche Leben.

"Das musikalische Herz dieser Stadt", sagt Bourama Sidibe, "hat niemals aufgehört zu schlagen. Ganz im Gegenteil: Wir haben heute mehr Live-Clubs als vor dem Bürgerkrieg." Sidibe, dessen massive Oberarme noch den einstigen malischen Meister im Nationalsport Armdrücken verraten, hat sich heute darauf spezialisiert, Besucher durch die tönende Schatzkammer seiner Stadt zu führen. Denn auch wenn von Reisen in den Norden abgeraten wird: Der Süden Malis und besonders Bamako bleibt für Touristen unbedenklich.

Allein die Musik lohnt den Weg: Damon Albarn, Taj Mahal und Manu Chao sind nur einige der Popstars, die zuletzt in diese Stadt kamen, in der jahrhundertealte afrikanische Traditionen ein selbstverständliches Eigenleben führen. Nirgendwo in Afrika trifft man eine aufregendere Fusion lokaler Fula-, Wassulu-, Bambara-, oder Tuareg-Kulturen mit westlichem Pop. Um zehn Uhr abends steht Sidibe mit einem verbeulten Mercedes-Taxi vor der Hoteltür. "Wir können noch etwas essen gehen. Die Shows fangen erst spät an". Gegen Mitternacht rollen wir mit offenen Fenstern die Koulikoro Road entlang. Links und rechts der vierspurigen Ausfallstraße haben in den vergangenen Monaten viele neue Clubs eröffnet. Fetzen von flirrenden Gitarren, Ngoni-Lauten, Trommeln, Raps und Bluesgesänge dringen an die Ohren. Wer den Klangfäden folgt, gelangt selten zu einem Club mit Eingangsbeleuchtung und Getränkekarte. Aber fast immer zu einer musikalischen Offenbarung.

Vor dem Eingang des Club 33 reihen sich Hunderte Mopeds. Der Eintritt kostet umgerechnet einen Euro. Keine Lightshow, kein Video, nur: Musik. Ein Sound, so schmutzig und scharfzahnig wie ein Niger-Krokodil. Unter einem Blechdach wird Bier serviert, die Bühne und die Plastiktische und Stühle aber befinden sich unter freiem Himmel. Nur zwei, drei Neonröhren erhellen den Innenhof. Die Schwüle ist erdrückend. Es riecht nach billigem Parfüm und Benzin. Anderswo würde man so einen Ort nicht mal mit Taschenlampe und Leibwächter besuchen. In Bamako ist das anders. Sidibe sperrt nicht mal sein Auto ab. "Hier wird kaum geklaut. Die Menschen vor und in den Clubs passen aufeinander auf." Nach dem ersten kalten Castel-Bier fällt jede Spannung ab: überall lächelnde Gesichter. Freundlich erwiderte Bambara-Begrüßungen. Sobald Issa Bambas Band den ersten Blues-Akkord anschlägt, lassen die Gäste - Männer im Anzug und Frauen in festlichen afrikanischen Stoffen - ihre Bierflaschen stehen, drehen sich immer mehr Paare selbstvergessen über den Lehmboden. Die bluesigen E-Gitarren und der lose, kreiselnde Groove strahlen eine sehr malische Lässigkeit aus. Darüber die Melismen von Sänger Issa Bamba. Melodien, wie sie zwischen Sahara und Niger schon gesungen wurden, als Pop noch ein Fremdwort war. Eine süchtig machende Mischung aus Wehmut und Stolz.

Der stark gesüßte, schäumende Grüntee hält wach. Das ist gut. Die Nacht ist lang in Bamako

Gegenüber der Pforte des Duplex Clubs kann man dem Kommen und Gehen der Nachtschwärmer zusehen. Frauen und Männer, die in bunten wallenden Gewändern von ihren Mofas steigen, sich ein letztes Mal Frisur und Kleider richten, bevor sie auf die Bühne des Nachtlebens treten. Doch erst um ein Uhr nachts füllen sich all die Polstersesselecken in dem niedrigen, violett erleuchteten Kellerklub. Eine junge Sängerin im weißen Abendkleid übernimmt das Mikrofon. Eine von Hunderten, die den großen malischen Bluesdiven Oumou Sangaré oder Nahawa Doumbia nacheifert. Ihre Besonderheit ist die Tanztruppe mit einem kleinwüchsigen, akrobatischen Breakdancer. Mindestens genauso wichtig: Die Selbstdarstellung der Gäste. Sie werfen sich in Pose vor den Kameras der vielen Fotografen, deren Bilder man am nächsten Tag im Laden kaufen kann. Malick Sidibes' weltberühmte Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Klubleben Bamakos der 1960er Jahre fingen damals den Optimismus einer Jugend ein, die sich mit den westlichen Pop-Insignien aufrüstete. Heute wirkt die Kleidermode der Klub-Besucher sehr viel traditionell afrikanischer. Auf der Treppe in den Keller posieren sie für den Fotografen. Eine Hand um den Partner gelegt, in der anderen das teure Handy. Auch im benachbarten Club Obama Balafon trifft man eine ähnliche Mischung aus buntem Stoff, afrikanischer Nonchalance und Global Chic. Zwei Rapper ballern unter dem Konterfei des amerikanischen Präsidenten ihre Bamana-Sprechgesänge, während Gruppen von Jugendlichen Shishas rauchen und sich über ihre iPhones beugen. Ein Klub, den man sich auch gut in Istanbul oder Berlin vorstellen könnte. Bis man wieder vor der Tür steht und einem die schlafenden Ziegenherden am Straßenrand ins Auge fallen.

Sidibe lenkt seinen Mercedes durch das nächtliche Bamako Richtung Süden, passiert die Brücke über das schwarze breite Band des Niger. Schlafende Bettelkinder und unbeleuchtete Laster säumen die Straße. Aus dem Radio dringt quirliges Balafon-Geklöppel: "Ben Zabo", erklärt der Guide, "ist der junge Rockstar Malis." Wir wollen zu seinem wöchentlichen Auftritt in Niamakoro nahe des Flughafens, im Club Radio Libre. Vor der Tür hocken Wachmänner und Taxifahrer um ein Stövchen mit glühenden Kohlen - Teil der malischen Teezeremonie. Bon soir Monsieur! Ein Glas gefällig? Der stark gesüßte, schäumende Grüntee hält wach. Und die Nacht in Bamako ist lang. Der aus der Elfenbeinküste stammende Reggae-Sänger Tiken Jah Fakoly begrüßt die Gäste persönlich in seinem Laden, in dessen Obergeschoss er ein eigenes Tonstudio betreibt. Jeden Freitag und Samstag steht Fakoly selbst oder Nachwuchs-Musiker auf der Bühne des in den Reggae-Farben grün-gelb-rot gestrichenen Hauses. In grüner Armeejacke und mit umgehängter E-Gitarre steht Ben Zabo, ein schmaler Sänger, auf der Bühne, seine Truppe jagt eine schweißtreibende Mischung aus uralten Balafon-Melodien, Fela Kuti und James Brown durch die Boxen. Jeder kennt hier Hits wie "Wari Vo" oder "Cinquentennaire". Und auch wenn sie in der Sprache des kleinen Volkes der Bo gehalten sind, kommt ihre politische Botschaft an: "Die Reichen feiern mit Champagner, während die jungen Malier keine Arbeit finden."

Die Reichen: Man trifft sie in westlich designten und klimatisierten Klubs wie dem Bla Bla an der Rue Princesse, wo sie ihre teuren Uhren, Handys und Freundinnen vorführen. "Hier kannst du erfolgreiche Geschäftsleute kennenlernen", witzelt Sidibe. "Oder malische Frauen, die diese gerne heiraten würden." In den Discos auf der anderen Straßenseite dröhnt ein Mix aus Jennifer Lopez, Bruno Mars und Salif Keita. Wer angelockt von der Longdrink-Karte zur strohgedeckten, offenen Bar La Terrasse im Obergeschoss aufsteigt, passiert dort erst einmal ein paar Tische mit offenherzigen jungen Damen auf der Suche nach Begleitung.

Das kann verwirren: Ist Mali nicht ein zutiefst islamisch geprägtes Land, wo sich Frauen tagsüber keusch bedecken und beim Ruf des Muezzin am Straßenrand die Gebetsmatten entrollt werden? Einerseits. Andererseits stört sich hier kaum jemand an Prostitution, Alkoholkonsum und Nachtklubs mit angehängtem Bordell. "Wir Malier pflegen eine Kultur des Leben-und-leben-Lassens", erklärt Sidibe. Nur ein paar hundert Meter von den Luxus-Enklaven der Rue Princesse trifft sich der ärmere Teil Bamakos zum nächtlichen Rendezvous. Sidibe zögert ein wenig, bevor er den mit auffälligen "Bavaria-Beer"-Reklame bemalten Schuppen namens Club Africaine betritt: "Zu billig für Touristen." Zu billig. Das bedeutet abgerissene junge Männer, die sich vor wackelnden Fernsehbildern an ihren Bierflaschen festhalten. Das bedeutet Selbstgebranntes an der Bar. Einen aufblasbaren Schwan als einzige Dekoration. Und nigerianische Prostituierte, die ihre Dienste für umgerechnet drei Euro anbieten. "Hier bekommst du alles, was ein Muslim meiden sollte", sagt Sidibe und lässt seinen Freund, den Barmann, einen großen Karton mit ausgekochten Schweineköpfen unter der Theke hervorzerren. Es riecht streng an diesem Ufer des Krokodil-Tümpels.

Draußen aber ist die Tropenluft elektrisch geladen. Vollgesogen mit Musik, die sie nun bis zum Sonnenaufgang auf die Stadt niederregnen lässt. Am Club Maquis gleich um die Ecke ist ein weltbekannter Kora-Spieler angekündigt: Toumani Diabaté. Doch die Tische und Stühle sind bei unserer Ankunft leer, der Meister sei leider wegen einer Europatournee verhindert. Wir entscheiden uns, stattdessen den Bluesklängen zu folgen, die aus einer ungeteerten Seitenstraße kommen. Allein die Scheinwerfer der an- und abfahrenden Autos erleuchten den Club Baobab. Es duftet nach gegrilltem Capitaine-Fisch. Und die Band pluckert im Dunkeln. Der Sound von sechs Ngoni-Lauten lässt an einen Juke Joint im Mississippi Delta der dreißiger Jahre denken. War der Blues nicht sowieso einst aus der Subsahara gekommen? Zur fülligen Sängerin mit dem Turban und den Goldkreolen hat sich eine Gruppe von Frauen in traditionellen Damast-Kleidern gesellt, alle schreiten mit synchronem Hüftschwung im Kreis. Eine Endlosschleife. Ein Song ohne Anfang und Ende. Doch das ist es ja gerade: Diese euphorische, tranceartige Selbstvergessenheit. In Mali schafft eine Akustikband, wozu man in Europa Techno-Raves benötigt. Leben im Krokodilbecken! Am Ende sind alle auf den Beinen.

"Unsere Kultur hat ein unermessliches Reservoir an Rhythmen und Melodien", erklärt Bandleader Madou Kouyate, Nachfahre eines bekannten Griots. "Aber ich spiele die alten Songs nicht wie mein Vater oder mein Großvater. Sondern bringe moderne Ideen hinein." Es ist weit nach Mitternacht. Doch die Musiker werden kaum Rast finden. Sonntagmittag, am traditionellen Hochzeitstag in Bamako, wartet schon der nächste Auftritt. Das Fest findet auf einer abgesperrten Straße statt. "Alle Passanten sind willkommen", sagt Kouyate, bis morgen, "a demain."

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