Lost in Japan:Wo liegt 25-56-23355?

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Wo bin ich? Woher komme ich? Wohin will ich? Tokio raubt die Orientierung. Und das nicht nur den Touristen.

Stefan Nink

Moment mal. Wo war noch eben die Buchungsbestätigung? Hier, also: "Sehr geehrter Gast", steht da, "willkommen in Tokio! Fahren Sie bitte mit dem ,JR East Narita Express' bis zur Station Ikebukuro. Unser Haus befindet sich nach 100 Metern links, wenn Sie aus dem Bahnhof kommen."

Im Vergnügungsviertel von Tokio, AP

Im Vergnügungsviertel von Tokio

(Foto: Foto: AP)

Scheint ein nettes Hotel zu sein. Ging bis hierher auch alles gut, aber jetzt ist man mit seinem Japanisch am Ende: Das kleine Ikebukuro hat nämlich leider mehr als nur einen Ausgang. Es hat etwa 67 Ausgänge. Und zwischen Ausgang 1 und Ausgang 67 liegen schätzungsweise drei bis vier Kilometer mit Menschenmassen verstopftes Subway-Labyrinth.

Die Hinweisschilder sind in Englisch, weisen aber bloß kryptisch auf etwas hin, das "Toshima-Ku" heißt. Oder auf "Jozai-ji", was dem Namen des Hotels ebenfalls nicht ähnelt. Und jetzt?

Vier Rolltreppen später hat einen das "Trial-and-Error"-Prinzip zwar vier Mal in die Tokioter Nacht hinauf gebracht, nicht aber ans Ziel. Vorbeistürzende Menschen, nach dem Hotel befragt, schütteln den Kopf und eilen weiter. Zwei Polizisten verbeugen sich mit zackigem "Hai! Hai!" und weisen anschließend in zwei verschiedene Richtungen.

Zum Glück funktionieren in Tokio Mobiltelefone auch unterirdisch, und bevor man hier verloren geht, wird angerufen. Das Hotel entschuldigt sich vielmals. Das Hotel lässt sich den Standort durchgeben und schickt einen Hotelangestellten, der den irritierten Gast abholt. An der Rezeption wartet eine große Schale dampfender Tee. Zur Beruhigung.

Damit hat man den wichtigsten Zustand der kommenden Tage dann auch gleich schon erlebt: Wer in Tokio unterwegs ist, wird erbarmungslos mit dem eigenen Nichtwissen konfrontiert, was zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Orientierungslosigkeit führt, die sich wiederum zeitlupenartig zu einer gewissen Hilflosigkeit verformt, mit beinahe existenzialistischen Zügen: Wo bin ich? Woher komme ich? Wohin will ich? Und das geht die ganze Zeit so.

Bevor man aber wie einst E.T. jenen Grad der Verzweiflung erreicht hat, an dem man nur noch "Ich will heim!" denkt, beginnt Tokio wirklich Spaß zu machen. Was wahrscheinlich daran liegt, dass diese Stadt ihre Besucher aus dem Westen zurück katapultiert in eine Lebensphase, in der sie weder sprechen noch lesen konnten.

Wer Tokio besucht, fühlt sich wie ein kleines Kind, das empirische Rückschlüsse aus einem Lächeln oder einem Nicken zieht, während es mit großen Augen durch die Welt tapst. Und keine Ahnung hat, wo es eigentlich ist.

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