London von oben:Fluchtpunkte mit Perspektive

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London hat eine neue Touristenattraktion: den Wolkenkratzer The Shard mit Aussichtsplattform. Allerdings gibt es in der Stadt noch viel schönere Orte mit Perspektive zu entdecken. Die besten sind gratis.

Von Alexander Menden, London

Der französische Schriftsteller Guy de Maupassant ging angeblich regelmäßig im Restaurant auf dem Eiffelturm essen, weil das, wie er sagte, "der einzige Ort in Paris ist, wo man das verdammte Ding nicht sehen kann".

Dieser Logik folgend sollte, wer dem Anblick des Londoner Hochhauses The Shard entgehen will, so oft wie möglich dessen Aussichtsplattform besuchen. Sie ist seit diesem Monat für die Öffentlichkeit zugänglich. Wenn man unter Sinusitis leidet, muss man sich einen Besuch von Londons jüngster Touristenattraktion jedoch zweimal überlegen: Der Aufzug, der das zahlende Publikum zur Aussichtsplattform hinaufbefördert, schießt mit einer Geschwindigkeit von sechs Metern pro Sekunde nach oben. Der dabei entstehende Druck kann bei verstopften Nebenhöhlen ziemlich schmerzen. Auf 224 Metern Höhe angekommen, wird man mit einem spektakulären Rundumblick belohnt: Zu Füßen des Glasriesen von Renzo Piano erstreckt sich die Themse; bei klarer Sicht kann man fast bis zu ihrer Mündung blicken. Tower Bridge und Westminster Palace nehmen sich hier wie Legoland-Kopien aus.

Sonst ist der 310 Meter hohe Glasturm mit der unregelmäßig gezackten Spitze wirklich von überall zu sehen, er dominiert die Londoner Skyline. Sein geistiger Vater, der Immobilienunternehmer Irvine Sellar, wollte ein Gebäude errichten, mit dem London "dem Eiffelturm in den Hintern treten kann" - und das sich ebenso selbstverständlich zum Teil des touristischen Pflichtprogramms in London entwickelt, wie es in New York das Empire State Building ist. Die Aussichtsplattform war von Anfang an Teil dieses Plans. Und der Besuch ist nicht billig - pro Person kostet der Eintritt umgerechnet rund 30 Euro.

Aussichtsplattform eröffnet in "The Shard"
:Londons Turm mit "The View"

"The Shard" heißt Londons höchster Wolkenkratzer. Diese Höhe können nun auch Besucher für den besonderen Weitblick über die Metropole nutzen. Wenn sie bereit sind, den Preis zu zahlen.

Überhaupt locken viele kostspielige Aussichtserlebnisse Londons mit der Vogelperspektive. Etwa die Emirates Air Line, eine Seilbahn, die seit vergangenem Sommer zwischen Greenwich und den Royal Docks über die Themse gondelt. Sie ist nicht viel mehr als ein glorifizierter Skilift zwischen dem O2-Veranstaltungszentrum und den Excel-Messehallen, Orten also, die nicht unbedingt nach einer direkten Verbindung schrien. Für Pendler weder das schnellste noch das preiswerteste Transportmittel (Hin- und Rückfahrt für zehn Euro), ist es für Touristen immerhin eine ausgefallene Möglichkeit zur Flussüberquerung.

Rein ästhetisch passt die Air Line gut zum London Eye flussaufwärts, das die Stadt auf seine Art ebenfalls ein wenig wie ein Kirmesvergnügen wirken lässt. Dreißig Minuten auf dem Riesenrad, das früher Millennium Wheel hieß, kosten zwischen 20 und 44 Euro. Man hat dafür, wenn es nicht regnet, einen ordentlichen Blick - wieder auf die Houses of Parliament, die von hier allerdings deutlich massiger wirken als vom Shard aus.

Dabei gibt es durchaus traditionelle Orte, um sich eine ähnlich gute Übersicht zu verschaffen. Christopher Wren errichtete 1677 das Monument to the Great Fire of London in der City. Es sollte an den großen Stadtbrand 1666 erinnern und ist mit 61 Metern die höchste frei stehende Steinsäule der Welt. Unterhalb der goldenen Urne auf ihrer Spitze gibt es eine Aussichtsplattform. Sehr lohnend ist auch der Aufstieg zum Campanile der katholischen Westminster Cathedral bei Victoria Station - ein wunderbarer Fluchtpunkt von hier aus ist der gotische Glockenturm der anglikanischen Konkurrenz, Westminster Abbey.

Guy de Maupassant genoss bei seinen Eiffelturm-Besuchen nicht nur eine schöne Aussicht, sondern vermutlich auch eine gute Mahlzeit. Diese Kombination bietet London an diversen Orten. Ein Fenstertisch im Portrait Restaurant der National Portrait Gallery etwa ist zugleich ein Logenplatz zur Betrachtung der Taubenmassen, die Nelson's Column umflattern. Die beste Fernsicht inklusive (Bar-)Menü hat man von der Vertigo 42 Champagner Bar aus. Sie liegt im 42. Stock des sogenannten Tower 42, einem architektonisch nichtssagenden Wolkenkratzer in der City. Die Hochhäuser der umgebenden Banken, darunter Norman Fosters Gherkin, schaffen Manhattan-Atmosphäre. Buchungen sind allerdings schwierig, die Bedienung herablassend und die Höhe der Preise in der Bar stellt die ihrer Lage noch in den Schatten.

(Foto: N/A)

Wunderbarer Blick vom Parliament Hill - und gratis

Angenehmer ist da Harvey Nichols im obersten Stockwerk des Oxo-Turms am Südufer der Themse. Das Restaurant bietet eine interessante Mischung aus britischer und asiatischer Küche und hat den Vorteil, dass die Gäste bei schönem Wetter auf der großen Terrasse sitzen können. Hauptblickfang ist St. Paul's Cathedral am anderen Ufer. Das Restaurant Babylon in den Kensington Roof Gardens schließlich ist umgeben von einer grünen Parklandschaft, die in den Dreißigerjahren auf dem Dach eines Kaufhauses angelegt wurde. Es gibt drei verschiedene Gärten, Flamingos durchwaten flache Gewässer und Enten brüten seit Generationen hier. Babylon selbst bietet vorzügliche Küche und einen wunderbaren Blick auf Kensington.

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Die besten Orte, um ganz London visuell in sich aufzusaugen, sind erfreulicherweise gratis. Unerlässlich ist ein Besuch auf der Kuppe des Parliament Hill in Hampstead Heath. Der majestätischste Blick von Norden umfasst in der Ferne die Hochhäuser in den Docklands, und, etwas näher, die der City. Geradeaus heischen der Shard und der Telecom Tower (dessen sich drehende Plattform auch ein großartiger Aussichtspunkt, aber nicht immer in Betrieb ist) um Aufmerksamkeit. Dieses wunderschöne Panorama bleibt auf absehbare Zeit unangetastet, denn ein Gesetz untersagt jede Verbauung.

Manche Aussichtspunkte funktionieren nur im Winter. Das gilt ganz besonders für Cox's Mount in Greenwichs Maryon Park. Die kleinen Eichen, die an seiner Flanke emporwachsen, lassen einen Durchblick nur zu, wenn ihre Äste winterlich kahl sind. Ohne grüne Sichtsperre kann man den Hügel durchaus als Süd-Londoner Entsprechung des Parliament Hill begreifen. Er ist nicht ganz so hoch, und auf seiner Kuppe haben jeweils auch nur ein halbes Dutzend Menschen Platz. Aber die Blickachse nach Nordwesten vervollständigt gleichsam das Panorama, das sich von Hampstead aus bietet: linker Hand das Stadion des Fußballclubs Charlton Athletic. Geradeaus der Shard und die Wolkenkratzer der Docklands, weiter rechts die silbern gleißenden Stahlkapuzen der Thames Barrier, der großen Schutzwehrschleuse gegen Nordsee-Sturmfluten.

Der Cox's Mount ist nicht nur wegen dieses vielleicht schönsten Blicks in ganz Süd-London bemerkenswert. Auf ihm erhob sich vor mehr als 2000 Jahren ein eisenzeitliches Kastell, dessen Reste man über einen Zaun hinweg betrachten kann. Im Maryon Park drehte Michelangelo Antonioni 1966 große Teile seines Thrillers "Blowup". Aber London ist ja nicht nur eine viel genutzte Filmkulisse, sondern vor allem ein gigantischer, dreidimensionaler Theaterprospekt. Und im Theater sind die besten Plätze nicht oben, sondern im Parterre, also auf Augenhöhe. Das zeigt sich nirgends deutlicher als auf der Millennium Bridge, die im Gegensatz zum London Eye ihren Namen auch nach der Jahrtausendwende behalten durfte.

Am Nordende der Fußgängerbrücke über die Themse thront St. Paul's, am Süd-Ende bilden Tate Modern und Globe Theatre ein ungleiches, aber reizvolles Gespann. Flussabwärts hält die Tower Bridge Stellung. Flussaufwärts, jenseits der Blackfriars Bridge, macht die Themse eine gemächliche Kurve. Wenn man ihrem Verlauf mit den Augen folgt, bleiben sie an einem gigantischen gläsernen Zacken hängen. Aber nicht nur der Shard wirkt von unten noch beeindruckender. Die Stadt entfaltet ihr ganzes Drama nicht von oben, sondern dann, wenn man sich mittendrin befindet.

© SZ vom 14.02.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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