London:Das Ende der Anarchie

In Englands Hauptstadt kann man bald nicht mehr in fahrende Busse springen: Die alten roten Doppeldecker sollen von den Straßen verschwinden.

Von Alexander Menden

Wer je versucht hat, mit einem Kinderwagen einen Londoner Bus zu besteigen weiß, was es heißt zu leiden. Ganz schlimm wird es, wenn man zum Beispiel samt Baby von Putney Common in Richtung Piccadilly Circus fahren will. Diese Strecke bedient der Bus mit der Nummer 22.

London's Iconic Routemaster Buses Facing Final Journeys

Bald Geschichte: die Londoner Doppeldecker-Busse.

(Foto: Getty Images)

Sie ist eine von fünf verbliebenen Linien in London, auf denen noch die alten "Routemaster"-Busse zum Einsatz kommen. Einen durchschnittlich großen Kinderwagen über die offene, aber leider zu hohe Heckplattform eines solchen Fahrzeugs in den engen Gang im unteren Geschoss zu bugsieren, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit.

Viele Eltern und so mancher Rollstuhlfahrer werden daher kaum trauern, wenn die Londoner Nahverkehrsunternehmen im Herbst dieses Jahres endgültig die letzten Routemasters ausmustern und durch moderne Niederflur-Doppeldecker und Gelenkbusse ersetzen.

"Hop-on"-Plattform

Doch abseits solch kaltherzig-praktischer Erwägungen ist das Verschwinden der alten roten Doppeldecker fraglos ein herber Verlust. Seit 1954 der erste Prototyp auf Testfahrt ging, haben die verschiedenen Modelle des "RM" mit seiner asymetrischen Front und der offenen "Hop-on"-Plattform am Heck das Straßenbild Londons geprägt.

Maßgefertigt für die - bis zur Privatisierung in den neunziger Jahren - zuständige Nahverkehrsgesellschaft "London Transport", setzte das erste RM-Modell Maßstäbe: Seine Karosserie bestand aus einer leichten Metalllegierung, die es ermöglichte, bei gleichem Gewicht acht Fahrgäste mehr mitzunehmen als die Vorgängermodelle.

Diese extrem belastbare Karosserie benötigte auch kein zusätzliches Fahrgestell: Der Routemaster ist gewissermaßen aus einem Guss. Weitere serienmäßige Neuerungen waren unter anderem eine Servolenkung und Hydraulik-Bremsen, beides Hightech in den fünfziger Jahren. Ursprünglich sollte jeder Routemaster nach 20 Jahren ausgemustert werden.

Doch da Großbritannien eine Nation ist, die in technischer Hinsicht nach dem Prinzip verfährt: "Was noch funktioniert, muss auch nicht ersetzt werden", wurden nur wenige der insgesamt 2876 RMs zum vorgesehenen Zeitpunkt in den Ruhestand versetzt. Die jüngsten der noch verkehrenden Traditionsbusse sind heute 37 Jahre alt.

Aura behäbiger Urbanität

Den Routemaster umgibt eine seltsame Aura geschäftiger und zugleich behäbiger Urbanität.

Als in der Londoner Innenstadt noch nicht das strenge Regime der "Stau-Maut" herrschte und jeder ohne zu bezahlen sein Auto auf Regent oder Oxford Street spazieren fahren konnte, bestanden die ständig verstopften Hauptverkehrsadern der City vor allem aus langen Routemaster-Schlangen, die sich Stoßstange an Stoßstange ihrem Ziel entgegenschoben.

Bushaltestellen waren irrelevant: Man sprang einfach irgendwo auf die offene Plattform, zahlte 50 Pence und ruhte die vom Pflastertreten ermüdeten Füße aus, während sich der Bus im Schritttempo weiterbewegte.

Ständig wuselten Fahrgäste ein und aus. War der Weg endlich frei, fuhr der Doppeldecker mit seinem alten Leyland-Motor doppelt schnell los, um die verlorene Zeit aufzuholen und raste selbst um die schärfsten Ecken, so dass man Sorgen hatte, er werde gegen die nächste Wand knallen.

Das ist nun bald Geschichte. Im August 2003 begann man damit, die verbliebenen Routemasters von der Straße zu nehmen; die letzten sollen im Oktober den Betrieb einstellen. Sie sind nicht behindertengerecht, technisch veraltet und nicht zuletzt deshalb unwirtschaftlich, weil sie als einzige Busse einen Schaffner benötigen.

15.000 Euro für ein Stück Geschichte

All das schreckt freilich nicht die vielen Kaufinteressenten, die in der Ausmusterung die Chance sehen, endlich ihren eigenen RM zu fahren: Familienväter, die sich einen Jugendtraum erfüllen wollen, gelangweilte Jungbanker - auch ein texanischer Doppeldecker-Enthusiast ist unter den Käufern.

Zwischen umgerechnet 3000 und 15.000 Euro kostet so ein Stück Londoner Nahverkehrsgeschichte; einer wurde jüngst beim Internet-Auktionshaus Ebay für rund 7500 Euro versteigert.

Wie bei allem, was Traditionalisten im Königreich als grundlegende Veränderung althergebrachter Lebensumstände empfinden, wurde auch zur Rettung der Routemasters eine Kampagne ins Leben gerufen.

Die Tatsache, dass es auf den RM-Strecken noch einen Schaffner gebe, mache sie doch besonders attraktiv für die Fahrgäste, sagt Ben Brook von der Interessengemeinschaft "Save the Routemasters". Eine Tour mit dem "RM" sei "weniger eine einfache Busfahrt, als vielmehr ein Erlebnis".

Dass Liebhaber-Enthusiasmus den Routemaster vor der Einmottung bewahren wird, ist indes unwahrscheinlich. Es sieht so aus, als werde die Metropole, wie schon bei der Abschaffung der traditionsreichen roten Telefonhäuschen, mit den Routemasters ein Gutteil ihres einzigartigen Charakters einbüßen.

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