Livingston in Guatemala:Wilde Weihnacht

An Weihnachten geht es in Livingston in der Karibik am gefühlten Ende der Welt alles andere als besinnlich zu: Streithähne zücken Pistolen oder Osama-Knaller.

Marcel Burkhardt

Es hätte ein zauberhafter Heiligabend werden können, mit einer großen Familie am Strand, mit Gesang, frischen Meeresfrüchten, Kokosbrot und gutem Rum. Charles, 28, hatte am Nachmittag im Sand nach kleinen Muscheln gegraben, die zum Festessen serviert werden sollten. Die Frauen bereiteten dazu Gemüse vor. Großzügig lud der 28-Jährige mit den Rastalocken die Fremden zur Feier am Strand ein. Alle waren fröhlich, doch dann hatte Charles' Cousin seinen Auftritt.

Er stürzte betrunken vom Fahrrad, rappelte sich mühsam auf. Im Näherkommen nestelte er am Gummibund seiner Shorts herum, hob das T-Shirt und griff zum Revolver.

Er mochte erstens keine Eindringlinge. Und zweitens brauchte er Geld und Bier, ganz schnell. Die Frauen beschimpften ihn, hier eine Weihnachtsparty einfach so zu sprengen, ob er sich nicht schäme. Er solle abzischen. Bier wollten sie ihm keines geben. Die Kinder unterbrachen ihr Fußballspiel und betrachteten die Szene mucksmäuschenstill mit großen Augen.

"Hey, hey, hey!", rief Charles beschwichtigend und fiel seinem Cousin in den Arm. Das Fest der Liebe war fürs Erste vorbei. Gemeinsam mit Charles und leider auch seinem bewaffneten Cousin marschierten die Urlauber zurück nach Livingston, drei Kilometer am Strand entlang, barfuss im warmen Wasser. Es dämmerte, das Wasser hatte sich bleigrau verfärbt, die Wellen brachen sich glucksend.

In der ersten Bar brannte Licht. Draußen leuchtete die Reklame der Nationalbiermarke Gallo - ein schwarzer Hahn, also schnell drei eiskalte Gallo bestellt. Da huschte für einen kurzen Augenblick ein breites Lächeln über das Gesicht des bedrohlichen Cousins: "Los, wir trinken und feiern zusammen!" Dann ließ er sich zufrieden auf einen Stuhl fallen und begann sofort einen Streit mit den Tischnachbarn.

"Der Fremde ist dein Freund!"

Vielleicht sind es Szenen wie diese, weshalb Livingston an der guatemaltekischen Karibikküste nicht den allerbesten Ruf hat. Feste an diesem zauberhaft abgeschiedenen Ort können im Alkohol- und Drogenrausch leicht aus dem Ruder laufen. Große Schautafeln im Ort stellen die Bewohner von Livingston hingegen von ihrer besten Seite dar: lachende, freundliche Menschen. Darunter steht mahnend: "Der Fremde ist dein Freund - geht es ihm gut, geht es auch dir gut!"

Neben der Hafenstadt Puerto Barrios ist Livingston der einzige bewohnte Flecken am schmalen Karibikküstenstreifen Guatemalas. Zu erreichen ist die Kleinstadt nur über das Meer oder in einer mehrstündigen Bootsfahrt auf dem Rio Dulce, der sich wild und schön durch den Urwald schlängelt. Die meisten sind Garinagu (nur Einzelpersonen dieser ethnischen Gruppe heißen Garifuna), sie sind Nachfahren entlaufener Sklaven aus Westafrika. Die etwas mehr als tausend Bewohner von Livingston leben vom Fischfang und ein wenig Tourismus.

Den Ort umgeben unberührter Urwald und von Palmen gesäumte Strände. In Livingston gibt es eine Hauptstraße mit kleinen Geschäften und ein paar alten, leicht heruntergekommenen, aber charmanten Hotels.

Wie eine Fata Morgana erhob sich am Weihnachtstag über den Baumwipfeln ein buntes Riesenrad. Auf den hölzernen Veranden saßen Einheimische und Rucksackreisende, tranken Gin Fizz und Coco Loco, einen Kokosnuss-Cocktail, aus den offenen Fenstern drang Reggae-Musik. Straßenhändler hatten ihre Auslagen in der Weihnachtszeit mit Raketen und Böllern gefüllt, die mit dem lächelnden Gesicht Osama bin Ladens bedruckt sind.

Stille Nacht ist anderswo

Spät an Heiligabend mischten sich in Livingston die Klänge von Trommeln und Böllerknallen mit dem Gesang der Kirchengemeinde. Um zehn Uhr nachts hatte sich fast der ganze Ort zur Messe versammelt. Die Frauen trugen bunte Festkleider und große Hüte. Sie alle blickten auf eine kleine, blinkende Plastiktanne. Der Pfarrer predigte sich in eine Art Rausch. Sein ekstatisch klingendes Halleluja hallte - getragen von einer knackenden Lautsprecheranlage - bis weit hinaus in den Kirchhof, in dem viele Gläubige die dreistündige Messe verfolgten.

Dabei ließen Jungen und Mädchen die ganze Zeit über dicke, rote Böller krachen, eine lieb gewonnene Tradition in Guatemala. Es stank nach Pulver.

Nach der Kirche liefen die Menschen über zerfetzte Osama-Bildchen hinweg zum nahe gelegenen Festplatz. Vor den Weihnachtsfeiertagen hatten Schausteller tatsächlich ein Riesenrad auf einen Hügel geschleppt. Es drehte sich hoch über der Bucht in Schwindel erregendem Tempo. Nebenan knallte es in einer Schießbude. Die Luft roch nach karamellisiertem Zucker und nach Bratfett. Für die Kinder gab es Süßigkeiten, die Erwachsenen hielten sich an gebratene Bananen und gegrillte Schrimp-Spieße. Kurz vor Mitternacht stiegen Raketen in den regenschweren Nachthimmel.

Stille Nacht, heilige Nacht war anderswo.

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