Reisebuch "Am See":Fremd in der Heimat

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Kapka Kassabova reist an die beiden ältesten Seen Europas. Und stößt dort, auf dem südlichen Balkan, auf eine ganze Reihe untergründiger Strömungen.

Von Stefan Fischer

Wenn man mit dem Flugzeug anreist und aus dem Himmel hinunter auf diese beiden Seen blickt, so schreibt die Autorin Kapka Kassabova in ihrem Buch "Am See", dann würden sie wie die Augen in einem uralten Gesicht wirken. Der Ohrid- und der Prespasee sind die beiden ältesten Seen Europas. Sie haben die gewöhnliche Lebenszeit, nach der jedes stehende Gewässer irgendwann versandet, bereits um ein Vielfaches überschritten, existieren seit mutmaßlich einer Million Jahren. Vielleicht sind es sogar bereits drei Millionen.

Gespeist werden sie von einigen Zuflüssen, aber auch von Unterwasserquellen, zudem gibt es unterirdische Flüsse, die den Prespa- mit dem Ohridsee verbinden. Ein sich fortwährend erneuerndes System, stets in Bewegung und schwer zu durchschauen. Kassabova erscheinen die Seen dadurch als Symbol für die gesamte Region, die sie weitaus stärker prägen als bloß landschaftlich: Es gebe hier im Südbalkan auch in der Gesellschaft - oder soll man in der Mehrzahl von Gesellschaften sprechen? - untergründige Strömungen, "ein kompliziertes Gewebe der Zivilisationen, aus dem Einheimische verschiedene und manchmal widersprüchliche Versionen der Wirklichkeit herauslesen".

Die Autorin ist beides: eine Einheimische und eine Fremde

Und die Fremden erst? Kapka Kassabova ist beides: Einheimische und Fremde. Ihre Familie hat an jenem Ufer des Ohridsees gelebt, der heute zur Republik Nordmazedonien zählt. Der südwestliche Teil liegt in Albanien, genauso wie beim Prespasee, der jedoch noch einen dritten Anrainer hat: Griechenland. Lange Zeit gehörte die Region zum Osmanischen Reich, danach wechselte beispielsweise die Stadt Ohrid viermal den Besitzer. Sie wurde von Serbien und Bulgarien beansprucht und auch annektiert, war Verhandlungsmasse in den Friedensverhandlungen nach den Weltkriegen.

Die Großeltern Kassabovas sind in den Achtzigerjahren nach Sofia übersiedelt, in die Hauptstadt Bulgariens, waren nur noch gelegentlich in der Stadt Ohrid - Kindheitserinnerungen der Enkelin. Und Kassabovas Eltern wanderten schließlich mit der halbwüchsigen Kapka nach Neuseeland aus. Als Erwachsene zog die Autorin ihrerseits nach Schottland. "Wem gehörst du an?", das ist die gängige Floskel, wenn Menschen aus dem Südbalkan miteinander ins Gespräch kommen - so schildert es Kassabova. Um herauszufinden, ob sie gemeinsame Bekannte haben, vielleicht sogar miteinander verwandt sind. An Großmutter Anastassia erinnern sich viele noch.

Das Private vermischt sich unausweichlich mit dem Politischen

So ist Kapka Kassabova schnell mittendrin, in den Geschichten, in der Historie. Das Private vermischt sich mit dem Politischen, die Wirklichkeit mit dem Wünschenswerten. Wieder ist Kassabova in einer Grenzregion unterwegs, in der die Grenzen sich über die Jahrhunderte als volatil erwiesen haben. Für ihr Reisebuch "Die letzte Grenze" war sie in Thrakien unterwegs, wo Bulgarien, Griechenland und die Türkei aufeinandertreffen. Nun bewegt sie sich wenige Hundert Kilometer weiter im Westen, durch eine Region, mit der sie noch mehr verbindet als Thrakien.

Es gibt auch hier eine Gleichzeitigkeit von scharfen Trennungen und einer erstaunlichen Vermischung. So existieren teilweise noch heute offenbar sehr genaue Vorstellungen darüber, wer sich mit wem blicken lassen, wer sich mit wem einlassen darf. Eine falsche Heirat, und ein soziales Gefüge geht darüber zu Bruch. Andererseits erscheint es nicht als Problem, dass ein türkischstämmiger Muslim die Touristenführung durch Kirchen unternimmt. Eine Kirche, die irgendwann einmal Moschee werden sollte, als solche aber nie akzeptiert worden ist von den Muslimen. Sie haben im 17. Jahrhundert stattdessen Christen für kleine Münze in das Gotteshaus eingelassen, damit die weiterhin dort beten konnten.

Einfache Erklärungen gibt es nicht. Dafür ist die Lage zu kompliziert

Solche Szene schildert Kassabova des öfteren: Es gibt starre Prinzipien. Und zugleich eine Menge Pragmatismus. Die Bewohner rund um den Ohrid-und den Prespasee waren immer wieder gezwungen, zu improvisieren, sich anzupassen. Sie kennt das aus der eigenen Familie, die eine prominente Rolle einnimmt.

Dennoch ist "Am See" weniger eine Familiengeschichte denn ein Reisebuch. Einen unmittelbaren touristischen Nutzwert hat es nicht. Es lässt das Fremde erst einmal fremd bleiben, lässt Fragen offen und Widersprüche stehen. Mit einfachen Erklärungen gibt Kapka Kassabova sich nicht zufrieden. Weil solche nicht wirklich etwas erklären würden.

Von woher auch immer man sich den Zwillingsseen nähere, schreibt Kassabova in der Einleitung: Sie würden sich nicht nahe zu irgendetwas anfühlen - nicht einmal zueinander. Wer der Autorin in das anregende Gewirr ihrer Geschichten folgt, bekommt allmählich jedoch ein Gefühl für diese offensichtlich ganz eigene Region. Der die Autorin den immensen Gefallen tut, sie nicht zu verklären.

Kapka Kassabova: Am See. Reise zu meinen Vorfahren in Krieg und Frieden. Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2021. 416 Seiten, 26 Euro.

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