Reisebuch "Cold Mountain":Granitgespenster

COLD MOUNTAIN; COLD MOUNTAIN
. Credit: Michael Lange. Die Bilder dürfen nur im Zusammenhang mit einer Buchbesprechung des Titels "Cold Mountain" aus dem Verlag Hartmann Books verwendet werden. Für die Illustration einer Buchbesprechung können im Print 3

Oft sind die Gipfel in dem Bildband "Cold Mountain" gar nicht zu sehen, weil von Wolken umwabert.

(Foto: Michael Lange)

Mit viel Geduld hat der Fotograf Michael Lange in den französischen Alpen Momente abgepasst, in denen das Unsichtbare sichtbar wird.

Von Stefan Fischer

Das Schwerste und das Leichteste finden zusammen im Gebirge. Hier der massive, scheinbar unverrückbare Fels, Tausende Meter hoch aufgetürmt, schrundig und mächtig, bedeckt mitunter von zusätzlichen tonnenschweren Schneelasten. Und dort Nebel- und Wolkenfetzen, vom Wind zusammengetrieben und sofort wieder auseinandergeblasen, ohne Ort und ohne Halt. Mal blickdicht, dann wieder wie ein Schleier, der noch eine Ahnung erlaubt von dem, was dahinterliegt. Oder, ähnlich schwerelos: weiße Flocken, die leicht durch die Luft taumeln. Selbst die Bergdohlen, schwärzer als der dunkle Fels, den Michael Lange mit seiner Kamera erforscht, wirken, als hätten sie kein Gewicht und könnten den Kräften des Windes nicht standhalten.

Langes Fotografien aus den französischen Alpen, die er in seinem Fotoband "Cold Mountain" zeigt, sind außergewöhnlich. Weil sie die Grenzregion ausloten zwischen dem gerade noch Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Weil sie den Moment bannen, in dem sich aus der Dunkelheit der Nacht oder aus dem Dickicht der Wolken soeben erste Strukturen herausschälen - oder, umgekehrt, sich ein Vorhang zuzieht und ein letzter flüchtiger Blick auf das möglich ist, was eine Sekunde später komplett verborgen sein wird. Weil die Bilder, auch das, in dem Augenblick entstehen, in dem sich die vielen Abstufungen von Grau für das gesamte Farbspektrum öffnen. Es ist jener Moment, wenn erst nur mehr zu erahnen als tatsächlich schon zu sehen ist, dass die Bäume und Wiesen grün sind, dass eine Felswand ihre zarten Rottöne preisgibt oder das violette Licht der Dämmerung den Stein schimmern lässt.

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. Credit: Michael Lange. Die Bilder dürfen nur im Zusammenhang mit einer Buchbesprechung des Titels "Cold Mountain" aus dem Verlag Hartmann Books verwendet werden. Für die Illustration einer Buchbesprechung können im Print 3

Flüchtige Naturzustände, die sich auch auf die Stimmung des Fotografen auswirken.

(Foto: Michael Lange)

Die Gebirgsformationen haben selten einen Anfang oder ein Ende auf Langes Fotografien. Manchmal sieht man einen Gipfel, dann lösen sich die Berge jedoch meistens gen Tal hin auf. Oder aber der Blick hinauf wird immer diffuser, und ein Gipfel lässt sich nur vor dem inneren Auge als die logische Fortführung der Linien imaginieren, die noch wahrnehmbar sind. Oft fokussiert sich Michael Lange ohnehin auf eine Flanke oder eine Wand, wählt also einen Ausschnitt statt den gesamten Berg oder gar ein Massiv. Einige der Bilder sind so blass, dass die Struktur der hellen Grautöne nicht ohne Weiteres als eine Gebirgslandschaft zu erkennen ist.

Es gibt einige Bilder, die wecken sogar eine Assoziation an den legendären Holzschnitt "Die große Welle vor Kanagawa" des japanischen Künstlers Hokusai. Der Gedanke kommt einem vielleicht auch deshalb in den Sinn, weil Michael Lange seine Fotografien in Beziehung setzt zu fernöstlicher Poesie. Das Buch enthält kein Vorwort, keine Erläuterungen dazu, wie die Bilder entstanden sind. Nur ein Gedicht Langes, das ebenfalls den Titel "Cold Mountain" trägt: "Lernen, im Dunkeln zu sein, im Schmerz. Zu Vertrauen - zu singen. Zu fliegen ..." Lange lädt ein zu einer Art Meditation, dazu tragen die wenigen Zeilen Text der vier Zen-Mönche Hanshan, Ikkyu, Basho sowie Ryokan aus dem 7. bis 18. Jahrhundert bei - Gedankenfetzen, die durch das Buch wabern wie die Nebelschwaden durch die Fotografien.

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. Credit: Michael Lange. Die Bilder dürfen nur im Zusammenhang mit einer Buchbesprechung des Titels "Cold Mountain" aus dem Verlag Hartmann Books verwendet werden. Für die Illustration einer Buchbesprechung können im Print 3

Diffus, aber voller Details. Die Bilder verlangen den langen Blick.

(Foto: Michael Lange)

"Cold Mountain" entfaltet jedoch auch dann eine große Kraft, wenn man dem Esoterischen wenig abgewinnen kann. Die Bilder sind extrem detailreich, das entdeckt man, je länger man sie betrachtet. Sie haben, und das ist eine Qualität, kein Zentrum, alles in ihnen ist gleichermaßen wichtig - und explizit nicht: gleichermaßen unwichtig. Die Fotografien halten einem langen Verweilen, einem Stöbern des Blickes stand. Und entfalten so ihre Erhabenheit.

Michael Lange: Cold Mountain. Hartmann Books. Stuttgart 2021. 136 Seiten, 48 Euro.

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