Reise nach England, Jersey und Frankreich:Die Spuren des D-Day

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Das Denkmal "Les Braves" am Omaha Beach - einer von vielen Erinnerungsorten auf der Liberation Route Europe. (Foto: EXPA/Hackl/Imago/Eibner Europa)

Am 6. Juni jährt sich die Landung der Alliierten in der Normandie. Touristen können auf der Liberation Route entlang des Ärmelkanals wichtige Erinnerungsorte entdecken.

Von Anja Martin

Nichts sehen sie außer Bäumen, die Besucher, die da auf einem Forstweg in Südengland stehen, gleich hinter dem Dorf Southwick, und in den Wald spähen. Müsste man nicht irgendwie merken, dass hier vor 80 Jahren General Eisenhower und seine Leute ihre Zelte aufgeschlagen hatten? Tarnnetze drüber, Stacheldraht außen rum. Nichts weist darauf hin, nicht mal ein kleines Schild. Aber der Guide ist sich sicher: Genau hier hätten Historiker in den Achtzigerjahren die Betonplatte gefunden, die sich der Oberbefehlshaber der Alliierten vors Zelt hatte bauen lassen, als einzigen Luxus.

Inzwischen ist auch sie verschwunden. Vermutlich wanderte sie auf die Deponie, als Waldarbeiter die Lichtung aufforsteten. Die Orte der Erinnerung an die Befreiung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg sind nördlich des Ärmelkanals flüchtig. Ben Mayne, 41 Jahre alt, schlank, groß, schwarzes Haar und Bart, ist Battlefield Guide. So heißt das in Großbritannien tatsächlich, und keiner findet es komisch. Er hilft Veteranen, sich zu erinnern, oder Hinterbliebenen nachzufühlen, was ihren Vätern und Großvätern im Krieg passiert ist. Die meisten wollen ausschließlich in die Normandie, wo die Kämpfe stattfanden, was er schade findet: "Es begann doch hier!"

Und es stimmt: Die mehr als 150 000 Männer, die am 6. Juni 1944 an fünf französischen Stränden landeten, kamen ja nicht aus dem Nichts. Manche Soldaten waren bereits zwei Jahre vor D-Day im Süden Englands stationiert, trainierten versteckt in Parks und Wäldern. Selbst diese geheimen Vorbereitungen haben Spuren hinterlassen, wenn auch nicht so massive wie der Atlantikwall der deutschen Besatzer auf der anderen Seite. Man muss nur ein wenig genauer hinschauen.

Wem es mit Maynes Hilfe gelungen ist, sich Eisenhowers Zelt vorzustellen, der kann dem General jetzt gleich ins Hauptquartier folgen, zu dem er am Morgen immer zu Fuß und alleine gegangen sein soll, zum Missfallen derer, die um seine Sicherheit besorgt waren. Die halbe Stunde, um den Kopf frei zu bekommen, war ihm demnach kostbar - auch den Gedenktouristen tut das gut. Felder, schmale Straßen und Zäune wechseln sich ab, dann erscheint eine lange Mauer. Durch eins der Tore muss er geschlüpft sein, aber dahinter liegt heute ein Golfplatz. Also führt die Route außen herum und hinein ins Dörfchen Southwick, damals dem Militär unterstellt. Fachwerkhäuschen, Tearoom, Kirche. Vorbei am Golden Lions Pub, einst zur Offiziersmesse umfunktioniert. Eisenhower hat hier immer Bitterbier, der britische General Montgomery Grapefruitsaft getrunken. So steht es jedenfalls auf einer Infotafel an der Fassade.

Das Hauptquartier selbst war in einer weißen Villa untergebracht, dem Southwick House. Bis heute erhalten: der Map Room mit einer wandfüllenden Karte, die ein Spielzeughersteller aus Holz gefertigt hat, samt beweglichen Schiffen. Sogar die ganze europäische Küstenlinie hatte man in Auftrag gegeben und den Rest dann verbrannt, damit das Ziel des D-Day nicht durchsickerte. Der Ausdruck Krieg spielen bekommt in diesem Kartenraum tatsächlich eine neue Dimension. "Das Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts wurde von hier aus gelenkt", sagt Ben Mayne ein wenig andächtig.

Wenige kennen diese Räume, denn sie sind zwar zugänglich, aber nur auf Voranmeldung, weil das Gebäude auf dem Areal einer Militärpolizeischule liegt. Mayne kennt viele übersehene Orte. Ehemalige Soldatenküchen, deren Reste im Wald liegen. Fundamente von Wachhäusern, an denen Hundespaziergänger achtlos vorbeischlendern. Die "Chocolate Bars", Schokoriegel genannten Bodenplatten, mit denen die Slipways verstärkt wurden, über die die Boote ins Wasser gelassen wurden. Wenn man Geschichte erwandere, findet Mayne, bekomme man mehr mit. Außerdem sei es nachhaltig und dadurch hoffentlich reizvoller für junge Leute als bisher.

In den vergangenen Monaten hat er Hunderte Points of Interest erarbeitet, beschrieben und zu Routen verbunden. Denn er ist nicht nur Guide, sondern auch britischer Direktor der Stiftung Liberation Route Europe, die Erinnerungsorte zum Ende des Zweiten Weltkriegs sichtbar, erlebbar und erwanderbar machen will, mittels einer App.

Diese Arbeit begann 2008 in den Niederlanden. Inzwischen zeichnet Liberation Route Europe den Vormarsch der Alliierten in neun Ländern und auf mehr als 10 000 Kilometern nach. Wer an den historischen Ereignissen dranbleiben will, nimmt die Fähre ab Portsmouth, die in etwa dem Weg britischer Einheiten an D-Day folgt und knapp neben dem östlichsten der fünf Landungsstrände, Sword Beach, in den Hafen von Caen einläuft.

Auf der anderen Seite des Ärmelkanals trifft man dann auf eine viel reichere Erinnerungskultur. Suchen muss man hier gar nichts. An Schildern, Wegweisern, Infotafeln wurde nicht gespart. Dazu flattern allenthalben Flaggen. Denkmäler gibt es überall, sie sitzen sogar direkt auf dem Strand wie "Les Braves" am Omaha Beach oder in den Dünen wie das 18 Meter hohe Lothringer Kreuz am Juno Beach. Da sind die riesigen Soldatenfriedhöfe, massig Museen, in der Regel finanziert von den Herkunftsländern. Dazwischen viele betroffene, neugierige, teils auch begeisterte und meist ziemlich alte Menschen. Fast fünf Millionen Besucher kommen jährlich wegen der Spuren des Zweiten Weltkriegs hierher, in Jubiläumsjahren können es auch sechs Millionen werden.

Eingeschrieben hat sich der Kampf um die Normandie überall. Die Codenamen der Strände haben längst Eingang in offizielle Landkarten gefunden. Straßen heißen nach Generälen. Und selbst das Passwort fürs Wlan im Hotel: 6. Juni 44.

Im ganzen Weltkriegstrubel tut es gut, dem orchestrierten Gedenken ein wenig zu entfliehen und allein in aller Ruhe die Landungsstrände entlangzuwandern. Etwa Omaha Beach, den wohl bekanntesten der fünf, auf dem besonders viel Blut vergossen wurde und der in Filmen wie "Der Soldat James Ryan" oder "Der längste Tag" wie auf den berühmten, verwackelten Fotos von Robert Capa verewigt ist.

Ein Bild vom 6. Juni 1944 zeigt US-Soldaten, die am Omaha Beach an Land waten. (Foto: National Archives/AFP)

Die Bilder laufen vor dem inneren Auge mit. Wie leise es hier heute ist. Wie ohrenbetäubend laut es damals gewesen sein muss. Nur ein paar Möwen kreischen, wettersicher gekleidete Kinder schaufeln Gräben, selbst die Reisebusparkplätze für die Kriegstouristen sind außer Sicht. Es könnte ein Strand wie jeder andere sein, wüsste man nicht um die fast 10 000 weißen Kreuze auf dem amerikanischen Soldatenfriedhof oben auf der Klippe, der übrigens nach dem Mont-Saint-Michel der am zweithäufigsten angesteuerte Ort der Normandie ist, mit 1,2 Millionen Besuchern im Jahr.

Die nächste Fähre bringt den Besucher auf eine Insel, an die beim Thema D-Day kaum einer denkt: Jersey. Hitler war davon überzeugt, dass die Kanalinsel eine zentrale Rolle spielen würde, hat sie ganz besonders gut gesichert. Grundlos, wie sich später herausstellte. Die Insel wurde von den Alliierten regelrecht übersehen. Obwohl sie nur 30 Kilometer vor der Küste der Normandie und 70 Kilometer entfernt vom Landungsstrand Utah Beach liegt, erreichte die Invasion sie nicht. Am Tag nach dem offiziellen Kriegsende wurde sie von den Briten friedlich befreit, die Deutschen hatten kapituliert.

Entsprechend muss man das Erbe des Zweiten Weltkriegs hier nicht mit besonderem Spürsinn suchen wie in Südengland. Es besteht großteils aus massivem Beton: Batterien, Bunker, Schartentürme, Widerstandsnester finden sich überall, sogar ein unterirdisches Krankenhaus. Besonders eindrücklich ist der mit sieben Kilometern längste Sandstrand der Inseln in der Ouen's Bay ganz im Westen. Wer hier in der Sonne liegt, surft oder den Hund ausführt, hat immer eine Panzermauer im Rücken. Die Bewohner haben sich längst daran gewöhnt, sogar die Vorteile entdeckt. Sie schützt vor Erosion.

An diesem Tag bei Nieselregen ist am Strand kaum jemand zu sehen, außer einer Gruppe Schulkinder, die mit Eimern bewaffnet oberhalb der Panzermauer um einen Bunker herumkriechen, denn nicht mit allen Hinterlassenschaften der Deutschen kann man sich arrangieren: "Kommt mal alle zusammen, wir machen ein Foto, um zu zeigen, wie viel wir schon geschafft haben", ruft eine Frau. Manche machen noch einen Moment weiter, weil sie so schön im Flow sind. Sie reißen grüne, dickfleischige Pflanzen aus der Erde, die den Boden um den Bunker herum bedecken wie ein Teppich. Die Essbare Mittagsblume, auch Hexenfinger genannt, sei eine invasive Art, die hier nichts zu suchen habe, sagt ein Mitarbeiter der Stadt. Tatsächlich haben die Deutschen die Spezies bewusst um die Bunker herum angepflanzt, zur Camouflage, weil sie so anspruchslos ist und schnell wächst. Die Perfidität der Nazis und die Durchdachtheit des Atlantikwalls, sie reichte bis in die Pflanzenwelt.

Für den Bau der Anlagen schufteten 16 000 auf die Insel gebrachte Zwangsarbeiter unter schlimmsten Bedingungen. In Zwölf-Stunden-Schichten, unzureichend ernährt, sprengten sie Tunnel ohne Schutz, wurden einfach ersetzt, wenn sie es nicht mehr schafften. Nur wenige konnten fliehen. Wer das Schicksal eines von ihnen verfolgen will, biegt fast am Ende der Ouen's Bay ins Inselinnere ab, etwa auf dem Weg des Russen Fjodor Burrij, der aus einem Lager vorn an der Bucht entkam. Über schmale, mit Trockenmauern begrenzte Straßen geht es hinauf. Hier muss er über die Felder gehastet sein. Bis er verzweifelt an einer Tür klopfte und bei Louisa Gould Zuflucht fand. Sie wurde von Nachbarn verraten, nach Deutschland verschleppt und im KZ Ravensbrück ermordet.

Diesen und viele andere Erinnerungsorte auf Jersey hat Chris Addy für die Stiftung erarbeitet. Der Kurator von Jersey Heritage ist 50 Jahre alt, hat ein freundliches Gesicht, und er kann nicht genug bekommen von den Geschichten der Besatzungszeit. Und von Details. Er hat auf jede Frage eine Antwort, außer einer: Keiner kann sagen, wie viele Bunker auf Jersey gebaut wurden, sie sind überall.

Chris Addy, Kurator bei Jersey Heritage, vor der Batterie Lothringen am Noirmont Point. (Foto: Anja Martin)

Genutzt werden können heute wenige. Da ist ein Beobachtungsturm, in dem Touristen übernachten. Auf manchen stehen Sitzbänke, weil es gute Aussichtspunkte sind.

Und es gibt Sean Faulkner. Um ihn zu treffen, muss man wieder hinunter an den Strand, ganz ans Ende der St. Ouen's Bay, vorbei an Feldern, auf denen gerade die Royal Jersey aus dem Boden geholt wird, die ganz besondere, kleine, schmackhafte Kartoffel der Insel, die an der Straße gegen Vertrauenskasse verkauft wird.

Sean hat sich schon vor 43 Jahren einen dieser vermeintlich unnützen Bunker gekauft, in denen er schon als Kind spielte. Denn er hatte eine Idee, die bis heute funktioniert. Hinter den zwei Meter dicken Mauern herrschen perfekte Bedingungen, um frisch gefangene Krabben, Hummer und Austern in Becken, in die er Meerwasser pumpt, bis zum Verkauf zu halten. Er beliefert Restaurants auf Jersey und macht mittags Barbecue für Besucher. Heute war wenig los, vermutlich das Wetter. Denn drinnen sitzen kann man natürlich vergessen, in einem fensterlosen Bunker. Gerade hat er von lokalen Fischern ein paar Körbe der Tiere geliefert bekommen. Er wiegt sie und zählt, während er sie einzeln ins Becken wirft. "Das Loch, aus dem die Kanone ragte, habe ich zugemauert", sagt er. Und den Beton weiß gestrichen. Das sei doch ein wenig wie auf Santorin. Man habe ein bisschen Urlaubsfeeling, hofft er. Und gibt zu: "Aber hässlich bleibt so ein Bunker natürlich trotzdem."

Hässlich ist tatsächlich so einiges an der Weltkriegserinnerung. Aber nicht nur die brutale Architektur. Auch die Ideologie, die Gräueltaten, die Toten. Soll man wirklich freiwillig in dieses düstere Kapitel eintauchen? Können die Schauplätze des Zweiten Weltkriegs Urlaubsdestination sein? Oder Etappenziele eines Wanderurlaubs? Man könnte sagen, das ist geschmacklos. Aber vielleicht ist es auch einfach wichtig. Gerade jetzt, wo wieder Krieg herrscht in Europa.

Reiseinformationen

Die Liberation Route Europe ist eine zertifizierte Kulturroute des Europarats und verbindet wichtige Erinnerungsorte zum Ende des Zweiten Weltkriegs. 10 000 Kilometer Wegenetz sind es inzwischen, in neun Ländern. Die Hauptroute reicht momentan von London bis an die deutsch-polnische Grenze, zusätzlich gibt es Themenrouten. Man kann sie auch mit dem Rad erfahren oder zu Fuß erwandern. Für praktische Angaben zu Gehzeiten, Schwierigkeit, Einkehr- oder Übernachtungsmöglichkeiten muss man sich die Routen allerdings herunterladen und in anderen Apps anzeigen lassen, etwa in Komoot. Die Stiftung arbeitet mit nationalen Wandervereinen zusammen und nutzt Open-Source-Daten, doch das Netzwerk muss in manchen Ländern erst aufgebaut werden. Frankreich, England und Jersey sind erst seit Kurzem dabei, deshalb ist manches erst im Werden, und es sind auch noch nicht alle Themenrouten eingepflegt. Infos: www.liberationroute.com

Anreise: Flug z. B. mit British Airways von München nach London, ab 82 Euro, zurück ab Jersey über London nach München, ab 243 Euro, britishairways.com.

Übernachten: Portsmouth: Queen's Hotel, auch Eisenhower und Churchill haben hier übernachtet, ab 128 Euro, www.queenshotelportsmouth.com; Normandie: Le Manoir de Mathan, in Crépon, ab 140 Euro/DZ mit Frühstück, www.normandie-hotel.org; Jersey: Pomme d'Or, 180 Jahre alt und während der Besetzung temporär Naval Headquarter der Deutschen, ab 190 Euro DZ, www.seymourhotels.com, Übernachten in historischen Gebäuden, etwa im Beobachtungsturm aus dem Zweiten Weltkrieg, ab 233 Euro, heritagelets@jerseyheritage.org, jerseyheritage.org

Weitere Informationen: liberationroute.com, jersey.com, jerseyheritage.org, normandie-tourisme.fr, visitportsmouth.co.uk

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