Lawinen:"Die Natur hat uns im Griff, nicht umgekehrt"

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Wie der Schweizer Touristenort Wengen sich gegen die Bedrohung durch den weißen Tod wappnet.

Titus Arnu

Oben auf dem Gipfel des Eiger bläst der Föhnsturm eine weiße Fahne aus Schnee in den blauen Himmel. Unten im Skigebiet an der Kleinen Scheidegg ist es angenehm sonnig, der frisch gefallene Pulverschnee verlockt viele Wintersportler, sich abseits der markierten Pisten zu bewegen.

Schutzgitter oberhalb von Wengen (Foto: Foto: Titus Arnu)

Ein Verhalten, das mehr als fahrlässig, fast schon gemeingefährlich ist: In der Region gilt an diesem Tag die Lawinenwarnstufe 3, die Schneedecke an den Steilhängen hat nur wenig Halt. Schon einzelne Skifahrer können Lawinen auslösen. Am Grat des Männlichen haben sich durch den starken Wind meterhohe Wächten gebildet. Dennoch fährt ein Snowboarder vom Gipfel aus alleine in den Tiefschnee.

Szenario des Schreckens

Wer vom Gipfel des Männlichen in 2343 Meter Höhe die Westflanke hinab nach Wengen schaut, kann sich gut vorstellen, was Lawinen hier für einen Schaden anrichten können. Das Zentrum des mehr als tausend Meter tiefer gelegenen Dorfes liegt genau in der Bahn mehrerer Lawinenzüge. In einer der felsigen Rinnen ist eine kleinere Lawine in Richtung des Ortes abgerutscht, aber auf halber Höhe hängen geblieben.

Massive Stahlgatter am Steilhang, die wie rostige Balkongeländer aussehen, sollen verhindern, dass größere Schneemassen direkt in das Dorf abrutschen. Es ist ein Szenario des Schreckens: Nur eine knappe Minute würde eine Nassschneelawine für die tausend Meter Höhendifferenz brauchen. Staublawinen aus kaltem Pulverschnee werden sogar bis zu 200 Stundenkilometer schnell. Für eine Flucht bleibt da kaum Zeit.

Wengen muss seit Jahrhunderten mit der Bedrohung durch Lawinen leben. Der Touristenort mit Blick auf die Viertausender Mönch und Jungfrau im Berner Oberland wurde immer wieder von zerstörerischen Schneemassen getroffen. "Alle 20 bis 30 Jahre" sei dort ein solches "Großereignis" zu erwarten, sagt Heinrich Buri, Leiter der Abteilung Naturgefahren beim Kanton Bern.

Zuletzt donnerten im Winter 1999 mehrere Lawinen bis in den Ort. Sie beschädigten die Talstation der Seilbahn, die anschließend an anderer Stelle wieder aufgebaut wurde. Eine weitere Lawine zerstörte nachts das Café Oberland, das Besitzer-Ehepaar kam ums Leben. Aus solchen Unglücksfällen haben die Einwohner gelernt, besser mit der Gefahr umzugehen. Wengen gilt als Vorzeigeort für umfassenden Lawinenschutz.

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Wobei es einen kompletten Schutz gegen Naturgefahren niemals geben könne, wie Peter Brunner einschränkt. Der 65-jährige ehemalige Direktor der Wengener Luftseilbahnen kennt sich mit der Lawinengefahr in seinem Heimatort aus wie kaum ein anderer. Er arbeitet seit Jahrzehnten in einem Krisen-Komittee der Gemeinde mit, das sich um Schutzmaßnahmen gegen Lawinen, Erdrutsche und Stürme kümmert.

Jeden Morgen um kurz nach sieben trägt er Wetterdaten in ein Schneetagebuch ein und meldet die Lage an das Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos, das dann offizielle Lawinen-Warnungen veröffentlicht. Obwohl er die Gefahr fast perfekt einschätzen kann, sagt Brunner: "Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es in den Bergen nie, die letzten zehn Prozent gibt die Natur nicht preis."

Peter Brunner, seine Kollegen von der Lawinen-Kommission und die Abteilung Naturgefahren in Interlaken arbeiten daran, das Restrisiko so gering wie möglich zu halten - etwa mit höchst professionellen Notfallplänen und Schutzbauten.

Rote, blaue und gelbe Zonen

In Wengen entstand vor 50 Jahren auch die erste Lawinengefahrenkarte. Sie unterteilt das Gemeindegebiet in rote, blaue und gelbe Zonen. Gelb bedeutet mäßige Gefahr; in der blauen Zone müssen Gebäude mit Stahlbetonwänden geschützt werden, in der roten Zone ist bei einem Lawinenabgang mit schweren Schäden und Toten zu rechnen.

Die rote Zone reicht bis mitten in den Ort. In der Gefahrenzone befinden sich kaum Gebäude, dafür aber eine Eisbahn und der Sammelplatz der Skischule. Beinahe wäre dieser Umstand bei einem großen Lawinenabgang vor 22 Jahren zum Verhängnis geworden.

Konsequenzen aus der Beinahe-Katastrophe

Im Februar 1978 hatte es tagelang stark geschneit. Die Skilifte hatten ihren Betrieb eingestellt, die Lawinengefahr wuchs von Stunde zu Stunde. Die Skikurse fielen aus, deshalb war das Skischulgelände glücklicherweise leer. Um den Touristen eine Beschäftigungsmöglichkeit zu geben, entschloss man sich jedoch, die Eisbahn zu öffnen. Als eine gewaltige Lawine in den Ort rauschte und bis ins Eisstadion vordrang, wurde wie durch ein Wunder niemand getötet.

Aus der Beinahe-Katastrophe hat das Dorf Konsequenzen gezogen: Seit 1979 haben Kanton und Bund 14 Millionen Franken für massive Stützverbauungen aus Stahl ausgegeben, die "das Anbrechen von Lawinen verhindern, sodass Grundlawinen nicht anreißen können", wie Heinrich Buri erklärt.

2009 wurde mit dem Abschnitt "Mossenegg" begonnen. Sechs Männer leisten dort im 40 Grad steilen Hang harte und gefährliche Arbeit. Das Projekt wird weitere 5,6 Millionen Franken kosten und soll 2017 fertiggestellt sein - die letzte größere Lawinenverbauung im Kanton Bern.

Seit 1951 investierte die Schweiz eine Milliarde Franken in den Lawinenschutz von Siedlungen, Straßen und Schienen. Untersuchungen des SLF haben gezeigt, dass 1999 durch Stützverbauungen über 300 Schadenlawinen verhindert wurden.

Zahl der Lawinenopfer kaum verändert

Doch trotz der teuren Schutzmaßnahmen verändert sich die Zahl der Lawinenopfer seit Jahrzehnten kaum; in der Schweiz sterben jährlich im Schnitt 25 Menschen den weißen Tod, in Österreich ebenso viele. Das liegt nach Einschätzung des SLF in Davos daran, dass sich immer mehr Menschen in immer abgelegeneren Bergregionen vergnügen. Von den 1751 Lawinentoten in der Schweiz seit 1937 fiel der überwiegende Teil selbstausgelösten Schneebrettlawinen zum Opfer, nur eine geringe Zahl wurde in Orten von Lawinen getötet.

Am Abend des föhnigen, ungewöhnlich warmen Wintertages melden die Nachrichten des Schweizer Radios, dass ein Skitourengeher bei den Lobhörnern in der Nähe von Wengen von einer Lawine erfasst, 200 Meter weit mitgerissen und getötet wurde. Peter Brunner schüttelt den Kopf über die Unvernunft mancher Wintersportler: "Die Natur hat uns Menschen im Griff, nicht umgekehrt."

Selbst in vermeintlich sicheren Gebieten könne in Extremfällen etwas passieren, warnt er: "Wahrscheinlich wird es in Wengen auch in diesem Jahrhundert ein katastrophales Lawinenereignis geben, das wir nicht verhindern können."

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© SZ vom 10.2.2010/dd - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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