Dieser Beitrag ist erschienen am 5. Februar 2015. Wir haben die Übernachtungspreise aktualisiert. Darüber hinaus ist der Text unverändert.
Spät ist es geworden, zwei Viertel Wein bereits, aber der Hüttenwirt Hanspeter Frenner will jetzt noch die Küche zeigen. Es ist nicht ganz klar, ob es ihm um die chromstählerne Innenausstattung in dem großzügig angelegten Raum geht oder um seine Frau Michaela, weil er sicher auf beides mächtig stolz ist. Michaela steht vor einer Schüssel mit Speckknödelteig, aus dem die Hände ungefähr im Zehn-Sekunden-Takt kugelrunde Speckknödel formen, und sie übernimmt gleich ziemlich problemlos das Gespräch. Sie hätten damals keinen Koch gefunden, "also habe ich es selbst gelernt". Und neulich, erzählt sie, sind sie in einem Vier-Sterne-Hotel gewesen, gar nicht weit weg, noch in den italienischen Alpen. "Keinen Service hatten die." Sie grinst und schüttelt den Kopf. "Aber vier Sterne an der Tür."
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Mittendrin: die Lavarella-Hütte. Sterne hat die Unterkunft keine. Es braucht auch keine. Denn die Natur ist schließlich das beste Argument zum Kommen.
Und die Wirtsfamilie hat in dem hellen Haus auch gute Argumente fürs Bleiben geschaffen. Einige stehen in vier Sprachen auf der Speisekarte.
Den Frenners käme so etwas nicht an die Hütte. Das Rifugio Lavarella, ein helles Gebäude mit vielen rot-weißen Fensterläden, hat keine Sterne. Es braucht auch keine, denn Hütten fristen seit jeher ein sternenloses Dasein im Universum der Unterkünfte. Das heißt aber nicht, dass sich so eine Hütte einfach dem Fortschritt verweigern kann. Im Gegenteil. Die Lavarellahütte liegt, umgeben von Baumgrenze und dem Reich der Murmeltiere, auf der Hochebene namens Fanesalm auf 2050 Metern. Sie ist vom Parkplatz am Ende eines langen engen Tales nur über einem Forstweg zu erreichen, entweder mit dem Rad oder zu Fuß oder jetzt im Winter auch per Tourenskier. "Vor allem für die Italiener ist das sehr anstrengend", meint Michaela, die sich selbst offenbar nicht als echte Italienerin sieht. Kurzum: Man braucht schon ziemlich gute Argumente, um die Menschen hier hoch zu locken.
Das beste Argument ist natürlich noch immer die Natur, die hier die Felsen ungefähr so phantasievoll modelliert hat wie ein durchgeknallter Töpfermeister im Absinthsuff ein paar Tonklumpen. Auch deswegen firmiert die Gegend unter dem Begriff Naturpark Fanes-Sennes-Prags, wobei "Naturpark" in Sachen Umweltschutz in etwa so viel Qualitätsnachweis bedeutet wie vier Sterne in der Hotellerie. Mehr Gewicht hat da schon das Prädikat "Welterbe Dolomiten" der Unesco.
So unberührt wie anno 1774, als die Gegend der Fanesalm in Peter Anichs Alpen-Urkarte "Atlas Tyrolensis" noch als namenloses Phantasiegelände verzeichnet war, ist die Gegend freilich auch nicht mehr. Aber es brauchte seine Zeit, bis sich der Tourismus dieser Ecke Südtirols bemächtigte. Wahrscheinlich deshalb, weil die deutschen Urlauber noch keine Autos fuhren und die fleißigen Berghäuslebauer des Alpenvereins an der "Halsstarrigkeit der dortigen Grundbesitzer" verzweifelten, wie ein gewisser C. Scholz in den Alpenvereins-Mitteilungen 1898 anmerkte. Den Italienern wiederum war das alles wohl damals schon zu anstrengend.
Es war Hanspeter Frenners Ahn, der hier 1912 die ersten Gäste beherbergte und seine einfache Kleinfanesalm 1919 wegen der wachsenden Zahl der Sommerfrischler ausbaute. Heute hat die Unterkunft 50 Betten, davon die Hälfte in Zweier- und Dreierzimmern. Dazu: saubere Etagenduschen. Im Keller stehen zwei Schneekatzen, die auch mal lauffaule Gäste transportieren. Frenners Tochter Anna und Schwiegersohn Gàbor kümmern sich um den Service. "Wir sind hier aufgewachsen. Dann kannst du hier nicht mehr weg", sagt der Hüttenwirt. Nur zwei Steinwürfe entfernt bietet das ähnlich familiär geführte Rifugio Fanes noch einmal 70 Betten.
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So sehr die Lavarellahütte ein Familienbetrieb geblieben ist, spiegelt sich in ihr auch die Entwicklung des Alpentourismus.
Wobei sich die Frage stellt, ob zuerst die Hütte zu einem Gebäude von hotelartigen Ausmaßen wuchs oder die Zahl der Freizeitmöglichkeiten außenrum in die Höhe schnellte. Wie die Arme eines Kraken erstrecken sich heute die Skitour- und Schneeschuhrouten von der Lavarellahütte, vorbei an jetzt winterlichen Seen, auf die umliegenden Gipfel wie Neunerspitze, Heiligkreuzkofel oder Monte Castello. "Und es kommen vor allem im Winter sehr viele junge Leute", sagt Frenner, selbst ein 56er-Jahrgang, und zeigt auf die besetzten Tische in der Stube. Im Sommer verteilen sich je nach Wegbreite Mountainbiker, Wanderer und Kletterer auf das Revier.
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Als Erstbesteiger der verschiedenen, nur auf dem Papier einfach klingenden Routen an der Neunerspitze tauchen immer wieder die Namen Reinhold und Günther Messner auf. Wer da nicht über die Hütte hinaus kommt, ist selber schuld. Andererseits haben die Frenners auch Argumente fürs Bleiben geschaffen. An der Westseite des Hauses steht seit einigen Jahren ein altes Fass, das ein bisschen aussieht wie eine dieser Hobbithöhlen. "Original finnische Sauna" steht drüber, aber der Spruch ist wohl dem Marketing geschuldet. Das Fass ist nämlich gar nicht aus Finnland, sondern war laut Frenner "mal eine Art Gartenlaube unten in St. Vigil".
Er hat das Holzgefäß bereits seiner dritten Bestimmung überführt. Bevor es Gartenlaube und dann Schwitzkasten wurde, hatte es nämlich angeblich als Weinbehälter mit einem Fassungsvermögen von exakt 7239 Litern gedient. Heute fasst die original Südtiroler Weinsauna bis zu sechs Personen, wobei die dann eher keine Berührungsängste haben und am Holzofen die Zehen einziehen sollten. Wer es nicht so mit heißen Körpern hält, kann auch in der kleinen, erst 2003 erbauten Kapelle nebenan zu sich finden.
Weitere Gründe zum Bleiben stehen auf der Speisekarte, viersprachig: ladinisch, italienisch, deutsch, englisch. Da sind beispielsweise Michaelas handgekugelte Speckknödel, die sich bestens als Vorspeise für die grünen Bandnudeln mit Wildragout eignen. "Alles selbst gemacht", sagt die Autodidaktin Michaela. Das Wildragout liegt noch als dicker Brocken auf der Chromstahlanrichte.
Zum Glück gibt es am nächsten Morgen nur ein Frühstück, das eher nach Supermarkt aussieht und weniger zum Verweilen einlädt. Deshalb schleppt man zeitig den Bandnudel-Speckknödel-Wildragout-Bauch in den Rausch der Natur, freut sich in der Kälte auf die Sauna am Abend, geht bei der Abfahrt in Gedanken die nächste Menüfolge durch und fragt sich, ob man nach zwei Viertel Wein nicht doch kurz bei Michaela auf einen Sicherheits-Knödel vorbeischauen soll.