Reisebuch:Klischeefrei durch Lappland

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Die Sami haben eine eigene Flagge und eine eigene Sprache mit verschiedenen Dialekten, sie sind das einzige Urvolk Europas, vergleichbar mit den indigenen Völkern Amerikas. (Foto: Jorge Castellanos/IMAGO/ZUMA Wire)

Das Urvolk der Sami, Großindustrie und Polarlichter - der äußerste Norden Europas ist spannend und voller Widersprüche. Der ehemalige ARD-Korrespondent Tilmann Bünz bringt Lesern die Menschen der Region nahe und kommt dabei ohne viel Skandinavien-Romantik aus.

Rezension von Gunnar Herrmann

Beim Thema Skandinavien-Urlaub lassen sich Touristen grob zwei Lagern zuordnen. Jeder kennt das: Beim Grillabend mit Freunden oder Familie beantwortet jemand die Frage nach dem nächsten Reiseziel mit Småland oder Ålesund. Zuverlässig beginnen einige Gesichter zu leuchten, es fallen Worte wie "Idylle", "Fjord", "Elch", bei Runden mit hohem Hipster-Anteil auch gerne "Hygge" oder "Lagom". Dann gibt es jene, die verhalten in ihr Getränk blicken und erklären, niemals im Norden Ferien machen zu wollen. Gründe sind oft: "Mücken", "Kälte" und "wir machen gerne Urlaube, wo man auch was anschauen kann". Gemein ist beiden Lagern, dass ihre Urteile oft auf Klischees beruhen.

Abhilfe kann ein neues Buch schaffen. "Vorfahrt für Rentiere" heißt es, und es beschäftigt sich ausschließlich mit Lappland, dem nördlichsten Ende Europas. In wohl keiner anderen Gegend treten die Widersprüche und Konflikte, die den wahren Kern vieler Nordeuropa-Klischees bilden, so deutlich zutage. Autor Tilmann Bünz hat schon mehrere Skandinavien-Bücher mit Titeln wie "Wer die Kälte liebt" und "Wer die Weite sucht" geschrieben, deswegen erübrigt sich die Frage, welchem der beiden eingangs genannten Lagern er wohl nähersteht. Als ehemaliger ARD-Nordeuropa-Korrespondent hat er aber lange in Skandinavien gelebt und es intensiv bereist - darum kennt er auch jene Facetten, die in den Prospekten und Reiseführern oft ausgeblendet werden. Er nimmt seine Leser nun also mit in den hohen Norden, einer Gegend, wie es in der Einleitung heißt, "noch nicht ganz zu Ende zivilisiert, im Guten wie im Schlechten".

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Im übrigen Europa ist erstaunlich wenig über Lappland bekannt. Es fängt schon beim Begriff Lappland an, der so eigentlich nur noch im Tourismusmarketing verwendet wird. Sápmi nennt die Urbevölkerung der Sami ihre Heimat am Polarkreis, die sich von der norwegischen Küste über den Norden Schwedens und Finnlands bis hinter Murmansk auf die russische Kola-Halbinsel erstreckt. Mit Ausnahme des russischen Teils werden die meisten Gebiete in dem Buch kurz beschrieben, wobei - der Autor hat lange in Stockholm gelebt - ein deutlicher Fokus auf dem schwedischen Teil liegt.

Viel Natur, aber keine Wildnis: Polarlichter bei Rovaniemi, der Hauptstadt von Lappland. (Foto: Alexander Kuzn/REUTERS)

Die Sami haben eine eigene Flagge und eine eigene Sprache mit verschiedenen Dialekten, sie sind das einzige Urvolk Europas, vergleichbar mit den indigenen Völkern Amerikas. In Tilmann Bünz finden sie einen wohlwollenden Fürsprecher. Sein Buch ist in acht Kapitel unterteilt, benannt nach den acht Jahreszeiten des samischen Kalenders. Er lässt auch sonst keine Zweifel aufkommen an seinen Sympathien für das Urvolk, das am Ende der letzten Eiszeit mit seinen Rentieren die Gegend besiedelt hat und es deswegen heute nicht gerne hört, wenn Reisende von "Wildnis" sprechen (das Wort würde ja bedeuten, dass das Land vor der Ausbreitung der Nationalstaaten niemandem gehört hat).

Um Rentiere zu züchten, braucht man heute Helikopter

Bei aller Sympathie romantisiert Bünz aber nicht, er beschreibt nüchtern, was er gesehen hat. So sind moderne samische Rentierzüchter sicher immer noch naturverbundener als Stadtbewohner, aber sie leben nicht mehr als Nomaden, sondern in normalen Häusern, und zu ihren Hilfsmitteln zählen längst Schneescooter, Geländewagen, Helikopter, Drohnen. Und sie müssen sich die weite Landschaft und ihre Rohstoffe mit Bergbaukonzernen, Holzfabrikanten, Wasser- und Windkraftunternehmen und nicht zuletzt mit den Touristen teilen. Es ist eine Region im Wandel, deren Einwohner mit der Natur und von der Natur leben, sich aber immer bewusster werden, wie knapp diese Ressource ist.

"Vorfahrt für Rentiere" erzählt von den Konflikten und dem Alltag der Menschen. Obwohl die Sami im Mittelpunkt stehen, bekommen auch alle anderen ihren Platz. Der Leser lernt etwa eine ungarische Husky-Züchterin kennen, die sich am Polarkreis niedergelassen hat, er trifft eine Minenarbeiterin, die 1365 Meter unter Tage Sprengungen beaufsichtigt, und einen Manager, der mehr als 1000 Windräder in einem Wald aufstellen möchte. Er begleitet Tilmann Bünz auch zum Polarlicht-Gucken oder auf mehrtägige Skitour durch den Nationalpark.

Die acht Kapitel sind in viele kurze Szenen und Anekdoten unterteilt, gelegentlich unterbrochen von Ausflügen in die Geschichte der Region, die ein Teil der europäischen Kolonialgeschichte ist, mit den dazugehörigen düsteren Einflüssen von Rassismus und Unterdrückung. Eine große Erzählung entsteht auf diese Weise nicht, sondern ein spannendes, gut lesbares Mosaik aus Geschichten, das Stück für Stück das moderne Lappland abbildet.

Wer einen Reiseführer mit Hoteltipps und Restaurantempfehlungen sucht, ist hier falsch. Da Bünz den Tourismus ausführlich beschreibt, können Skandinavien-Urlauber trotzdem viele Anregungen für die nächsten Ferien finden. Mücken und Kälte werden natürlich auch nicht ausgespart. Selbst wenn man davon abgeschreckt ist, kann man mit dieser Lektüre ganz ohne Mühe eine der spannendsten Regionen Europas erkunden.

Tilmann Bünz: Vorfahrt für Rentiere, Lappland für Anfänger, btb Verlag, München 2024, 304 Seiten, Taschenbuch 12 Euro

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