Lärm in der Türkei:Gürültülü ...

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... ist Türkisch und bedeutet laut, ganz prima laut. So glaubten viele Einwohner ihren Ohren nicht, als der Umweltminister vorschlug, Istanbuls Nachtclubs die Musik zu verbieten.

Kai Strittmatter

Der Umweltminister war in Paris und fand dort Erstaunliches vor. Ruhe. Mitten in der Nacht. Wenn die Pariser das können, so sagte er sich, flog zurück in die Türkei und befahl seinen Mitbürgern: Ruhe! Was die Istanbuler zuerst verblüffte und dann in zwei Lager spaltete. Endlich, seufzen die einen. Niemals!, rufen die anderen. Keine Musik mehr im Freien nach Mitternacht? Nicht mehr Tanzen unter dem Mond? Singen, feiern, zechen bis die Posaunenstöße der ersten Vapur, der Bosporusfähren, den Morgennebel durchstoßen? "Wenn du diese Stadt in ein zweites Genf verwandeln willst", sagt ein Istanbuler Restaurantbesitzer, "dann bringst du sie um." Der Istanbuler hört Genf und versteht: Friedhof.

Disco. Feuerwerk fast jeden Tag. Hier beispielsweise wird mit großem Spektakel ein neues Hotel in Antalya eingeweiht. (Foto: ag.getty)

Istanbul springt seine Besucher an. Man landet. Sieht am Kofferband die Nachtclubwerbung ("Lauschen Sie den Klängen der Stadt"). Schreitet durch die Flughafentür - und prallt gegen eine Wand aus Tosen und Tumult. Hupende Taxis, fluchende Busfahrer, trillernde Polizisten. Es legt sich ein akustisches Grundrauschen über die Gehörgänge, das einen für die Zeit in Istanbul nicht mehr verlassen wird.

Was heißt schon "Lärm"?, sagen die einen: Ausfluss von Lebenslust ist das, von Temperament, von Impulsivität. "Jeder hat ein Recht auf Schlaf", erwidert Minister Veysel Eroglu. Das geht gegen die Nachtclubs der Stadt, vor allem gegen die am Bosporus. Reina, Sortie, 8th Hill und all die anderen. Unter freiem Himmel vergnügen sich dort am Wasser, auf dem Wasser, im Wasser die Reichen und die Schönen, die Fremden und die Einheimischen, die dann die Nacht oft im Morgengrauen mit einer Kuttelsuppe ausklingen lassen: Katerfrühstück.

Sie sind nicht die Einzigen, denen zu dem Zeitpunkt der Schädel dröhnt. In Cengelköy zum Beispiel, einem Bosporusörtchen am Ufer direkt gegenüber der beliebten Clubs, hat sich Unmut angesammelt. Schall, das muss man wissen, liebt glatte Wasseroberflächen. Bei ihrer Reise über den Spiegel des Bosporus verlieren die Donnerschläge der DJs kaum etwas von ihrer Wucht. "Im letzten Jahr war es die Hölle", erzählt Osman K., ein Beamter, der in Cengelköy lebt. "Da zitterten die Fensterscheiben bis zum Morgen so, dass keine Fliege dran kleben blieb. Wenn du bis halb eins nicht eingeschlafen warst, hattest du keine Chance mehr." Weil dann der Spaß erst beginnt. Disco. Feuerwerk fast jeden Tag. "Mein Hund verkriecht sich nächtelang unterm Tisch, und zittert vor Angst", sagt eine Schriftstellerin, die in Arnavutköy lebt, einem Bosporusort auf der europäischen Seite.

Im vergangenen Jahr schon hatte die Regierung die Open-Air-Clubs dazu verdonnert, ihre Musik auf höchstens 70 Dezibel herunterzufahren. Rasenmäherlautstärke. Die neuen Pläne des Umweltministers sind radikaler: Vom kommenden Jahr an soll nach Mitternacht gar keine Musik mehr erlaubt sein. Weil dies Futter für all jene ist, die der gemäßigt islamischen AKP eine generelle Spaßfeindlichkeit unterstellen, hatte der Minister noch dies zu sagen: "Jeder, der Spaß haben möchte, soll ihn haben - aber bitte, ohne Lärm zu machen." Das aber berührt eine fast philosophische Frage: Vergnügen ohne Krach - ist das für einen Türken überhaupt vorstellbar? "Natürlich nicht", sagt die von Schlaflosigkeit geplagte Schriftstellerin resigniert: "Gehen Sie doch mal an den Strand. Oder zum Picknick."

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Tatsächlich gibt es am Schwarzen Meer kaum einen Strand, der nicht auch schon tagsüber als Freiluftdisco durchginge. Und die Picknicker im Belgradwald, dem Naherholungsgebiet der Stadt, sind gar nicht zu verfehlen: Erst der Rauchsäule nach, dann dem vielstimmigen Konzert der Autoradios, die den Forst erbeben lassen. Andere Picknicker, solche ohne Auto, lassen sich mit Vorliebe auf Verkehrsinseln nieder, um die herum achtspurig der Verkehr tobt: Über mir der blaue Himmel, um mich herum das Tosen der Stadt, das mir versichert, dass ich nicht alleine bin auf der Welt.

Gürültülü. Das ist Türkisch und heißt: Lärmig, krachig. Aber schön krachig halt. Während der Fußball-WM schaltete Coca Cola in der Türkei einen Fernsehspot. Titel: "Düello". Das Duell also. Es tritt auf, von links, ein Afrikaner mit wilden Rastafarilocken. Er hat eine Vuvuzela dabei und bläst, was das Zeug hält. Dann, von rechts, Auftritt Ali: ein älterer Türke mit Hut und Sultansschnauzer. Der Türke zieht seinerseits ein oboenähnliches Instrument hervor - eine türkische Zurna. Die Augen des Afrikaner weiten sich vor Schrecken. Ali hebt die Zurna. Setzt an. Und bläst den Afrikaner einfach weg. Der Spot endet unter großem Tumult mit einer Horde türkischer Trommler, die sich zu dem Zurnabläser gesellt. Krach? Und ob. Aber Krach mit Melodie und Rhythmus. Die Zurna und die Riesentrommel Kös waren übrigens die Waffen der osmanischen Militärkapellen - allein ihr aus der Ferne aufziehendes Getöse schickte dem Feind das Herz in die Hose und war wohl ursächlich beteiligt am Aufkommen jener Türkenangst, von der sich die Europäer bis heute nicht völlig befreit haben.

Und wie ist das mit der Ruhe? Der Istanbuler Blogger Sinan C. erklärt: "Es gibt amerikanische Filme, da brüllt der Lehrer seine tobenden Schüler mit einem Wort an, das in türkischen Untertiteln dann mit 'Sessizlik!' übersetzt wird. Also 'Ruuuhe!'. 'Geräuschlosigkeit' eigentlich. Aber der Begriff ist relativ neu, das klingt in unseren Ohren fast künstlich. Wenn du in eine Menge von Türken hinein 'Sessizlik!' rufst, wird dich kaum einer verstehen. Man muss es ihnen erklären wie man einem Fisch die Trockenheit erklärt."

Überhaupt. "Wir reden hier nicht von Lärm. Wir reden von Musik." Findet Baris Tansever, der Präsident der Vereinigung der Restaurant- und Clubbesitzer. Erstens, sagt er, sei Ruhe in der Türkei ohnehin nur auf einem Wege erreichbar: "Alle Türken knebeln". Und zweitens könne der Minister doch wohl nicht im Ernst einer Industrie den Garaus machen, deren Umsatz er auf zwei Milliarden Dollar im Jahr schätzt. "Was haben wir den Touristen denn sonst zu bieten? Kasinos? Sind hier Illegal. Sexindustrie wie in Thailand? Nein. Drogen wie in Holland? Nein." Baris Tansever zufolge verkauft die Türkei vor allem ihre lauen Nächte, Trubel inklusive. Wenn man ihm von München erzählt, das seine Bürger ja auch vor ihren Biergärten schütze mit einer Sperrstunde um elf Uhr, dann entgegnet er: "Eben. Deshalb sind die Münchner auch alle in Istanbul, wenn sie mal Spaß haben wollen."

Auch in Cengelköy, dem Örtchen in der Einfallsschneise des Discokrachs, finden sich milde Stimmen. Yusuf, der Eisverkäufer, etwa: "Wir machen einfach selber so viel Lärm, dass wir die anderen nicht mehr hören." Oder Hayri, der 54-Jährige mit dem dichten weißen Fischerbart und dem winzigen grünen Fischerboot: "Sind das etwa Hühner? Die sollen nicht so früh ins Bett gehen", sagt er über die Klagenden. "Weißt du, wenn es dunkel wird, dann klettern wir oft zu zweit mit einer Flasche Raki in mein Boot und fahren unter die Bosporusbrücke. Ich lege mich hin, lasse mich schaukeln, schau mir die Sterne an, die Lichter der Brücke, und lausche der Musik. Die Schiffe, die Autos, die Leute. Hier war's noch nie leise. Hier ist Istanbul, Mann. Das lebt."

© SZ vom 14.07.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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