Süddeutsche Zeitung

Kunst in Sevilla:Das kleine Glück am Rande

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Bartolomé Esteban Murillo erlebt den wirtschaftlichen und politischen Abstieg seiner Heimatstadt. In all dem Elend entdeckt der Maler aber immer wieder Menschlichkeit.

Von Michael Rohlmann

Vor fast vierhundert Jahren wurde in Sevilla als Sohn eines Wundarztes der Maler Bartolomé Esteban Murillo geboren. Sevilla, die alte Römergründung, Gotenresidenz und Maurenstadt war 1248 von den Christen zurückerobert worden. Im 16. Jahrhundert stieg die Hafenstadt am Guadalquivir zum Welthandelszentrum auf: Die größte Stadt Spaniens besaß das Monopol für den Handel des Königreichs mit der Neuen Welt. Hierher brachten die Schiffszüge das Gold und Silber Amerikas, von hier zogen Eroberer, Händler und Missionare, Waffen, Waren und Glauben über den Atlantik. Aus ganz Europa kamen Kaufleute herbei, um am Reichtum der Stadt teilzuhaben. Hierher strebten auch die alten und neuen Orden der katholischen Kirche mit unzähligen Klöstern und Gotteshäusern. Diese Metropole des Kapitals und des Glaubens wurde im frühen 17. Jahrhundert auch zum Zentrum der Kunst. Von Sevilla aus gewann die spanische Malerei des "Siglo de Oro" ihren europäischen Rang.

1617, in Murillos Geburtsjahr, hatte Velázquez in seiner Vaterstadt Sevilla die Malerlehre bei dem weitgebildeten Pacheco abgeschlossen. Der junge Maler machte mit neuartigen niederen Sujets Furore: Szenen aus Küche oder Gastmahl, sparsam in Farbwahl und Motivik, doch wie greifbar in atemberaubendem Oberflächennaturalismus. Hier sahen die Kunden nicht die ferne Welt flämischer oder italienischer Bildimporte, sondern Elemente heimischer Identität. Sie waren jedoch gemalt im modernen Stil römischer Hell-Dunkel-Malerei, mit der Caravaggio um 1600 den Stil der europäischen Malschulen revolutioniert hatte. Einfachstes Leben wurde erhoben und ästhetisch geadelt zu meditativer, nüchterner Würde. Der Naturalismus und der Wahrheitsschein seiner Porträtkunst öffneten Velázquez 1623 den Aufstieg zum Hofmaler des Königs in Madrid. Hier galt es, im großen Format und in großen Themen aus Glaube, Mythos und Geschichte den Wettstreit mit den Meistern europäischer Malerei aus Vergangenheit und Gegenwart, mit Tizian und Rubens aufzunehmen, die in den Kunstsammlungen Philipps IV. zu finden waren. Velázquez entwickelte eine Virtuosität der Pinselführung, eine geniale Belebung der Farbmaterie. Die Präsenz seiner Gestalten ging einher mit einer zu ästhetischem Selbstzweck veredelten Machart der Bilder. Zwerg und Narr, Minister und Bettelphilosoph, König und Papst sind in ihrer vergänglichen Menschlichkeit, unvollkommenen Individualität durch Velázquez' Pinselkunst in gemalte Ewigkeit enthoben.

Velázquez macht in seiner Heimatstadt Sevilla Furore mit neuen Sujets wie Szenen aus der Küche. Einfachstes Leben wird ästhetisch geadelt

Während im fernen Madrid Velázquez an der Rangerhöhung des Adels der Malerei arbeitete, hatte im heimischen Sevilla der aus der Provinz eingewanderte Francisco de Zurbarán seit den 1620er-Jahren die Marktführerschaft erkämpft. Dies gelang ihm vor allem mit großen Zyklen von Mönchsbildern. In diesen rivalisierten alte und neue Orden miteinander. Zugleich arbeiteten sie dabei jeweils an einem eigenen Profil, geprägt von Kargheit, Strenge, Rigorosität oder feierlicher Ruhe, gelehrter und edler Würde. Zurbaráns Heilige und Mönche wirken vor oft dunklem Grund im Licht wie ins Greifbare festgefroren. Als Wunderbilder scheinen sie zwischen Skulptur und Malerei, zwischen Wirklichkeit und Abbild zu changieren. Das Medium des Bildes erlaubt es Zurbaráns Gestalten, Zeiten und Orte zu durchmessen, um vor uns wie eine mystische Vision in Erscheinung zu treten.

Als in den 1640er-Jahren Murillo in Sevilla als Maler auf sich aufmerksam macht, geschieht dies zunächst mit einem Mönchszyklus im kalten, plastischen Stil Zurbaráns. Doch bald weitet sich sein Können, bereichert um Malstile von pastosem Farbleuchten bis zu duftender Farbauflösung. Auch die Themen ändern sich. Es ist eine Kunst in einer veränderten Stadt.

Die politischen Krisen der spanischen Monarchie, staatliche Misswirtschaft, die langsame Versandung des Flusses verbunden mit dem Aufstieg von Cádiz als neuem Hafen, der Rückgang, das teilweise Ausbleiben der Schiffszüge aus Amerika führten die Metropole in die Krise. Den Niedergang begleiteten furchtbare Epidemien, bei der schrecklichsten starben 1649 Zehntausende. Sevilla verlor die Hälfte seiner Bevölkerung, Hungeraufstände folgten. Murillos Kunst begleitet diese Entwicklung. Einfachheit, Armut, mitfühlende Menschlichkeit, Nächstenliebe, die Sehnsucht nach Glück und Versöhnung sind immer wieder Grundzüge seiner Bilderwelt.

Zerlumpte Kindergestalten mit schmutzigen Füßen schmücken die Galeriebilder reicher Kunstsammler. Murillo zeigt, wie auch die Armen Momente des Ausruhens und des Vergnügens genießen. Früchte erfrischen, ein guter Trank. Ein leckerer Brei erfreut, ein unterhaltsames Spiel. Hier findet sich Freizeitvergnügen, unschuldige Sinnenfreude den Kunstgenießern wie als Rechtfertigung ihres eigenen Tuns vor Augen gestellt. Immer wieder wird der naive, urmenschlich-kindliche Genuss in den Bildern betrachtet, von sehnsüchtigen Hundeaugen, von lachenden Begleitern, herausfordernd, neugierig, im plötzlichen Blicken und im langen Schauen genießend. Murillo lädt ein, sich der Täuschung seiner Naturnachahmung hinzugeben: Bilder als Leckereien für das Auge des Kenners, dessen Blicke die Bilder wie auf der Suche nach Trauben oder Flöhen durchwandern.

Murillos Hauptwerk schmückt die Kirchenwände einer karitativen Bruderschaft. Wessen Bilder hätten die Mitglieder besser zu Werken der Barmherzigkeit auffordern können? Im Altarbild sehen wir die hl. Elisabeth, wie sie umringt von Armen und Kranken die Kopfwunde eines Jungen auswäscht. Dies geschieht mit der Würde einer vor dem Gemälde am Altar abgehaltenen heiligen Liturgie: über eine Stufe erhoben, vor einem altarähnlichen Kasten. Gabenbereitung, Taufe, Salbung klingen motivisch an. Murillo verklärt im Altarbild Nächstenliebe zu heiligem Gottesdienst. Er negiert nicht das Hässliche, die Runzeln des Alters, die schmutzigen, rissigen Laken, die offenen Wunden, das zwanghafte Kratzen. Ganz vorn klafft die Beinwunde offen bis zum Knochen. Doch all dies wird umfangen von dem zentralen Merkmal von Murillos großer Kunst. Alles durchwirkt der Maler mit Grazie.

Gratia meint nicht einfach nur ästhetische Anmut, sondern eine geheimnisvolle, übermenschliche, unbeschreibbare Schönheit, eine göttliche Gnade und Gabe. Anders als Raffael, der auch für Murillo vorbildhafte andere große Maler der Grazie, leugnet Murillo nicht Schmutz und Abstoßendes, enthebt das Irdische nicht in Idealisierung, sondern rückt die Schattenwelt des Gebrechens ins Licht einer göttlichen Gnade. In der Kunstschönheit gewinnt Murillos so menschliche Welt ihre Hoffnung. Das über der Wasserschale gebeugte Gesicht der Jungen, dessen Kopfwunde die Heilige umsorgt, leuchtet wie geheimnisvoll auf, gewärmt vom Reflexschimmer himmlisch-menschlicher Nächstenliebe.

Michael Rohlmann lehrt Kunstgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal.

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SZ vom 10.12.2016
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