Eine metallene, projektilförmige, neun Meter hohe Skulptur in der Wüste Saudi-Arabiens. Tätowierungen an den Stämmen und Ästen dreier abgestorbener Ulmen in einem süddänischen Wald. Zwei aufgerichtete, wie aus der Erde wachsende, aneinander lehnende Steine, die aussehen wie eine riesenhafte aufgeklappte Auster, auf einer Rinderfarm in Montana, USA. Das sind drei starke Belege dafür, dass Kunst nicht zwingend ein Museum braucht.
Die Herausgeber Robert Klanten und Andrea Servert sowie die Autorin Grace Banks präsentieren in dem englischsprachigen Band "Art Escapes" lustvoll und kenntnisreich solche - oft sympathisch megalomanen - Kunstwerke im öffentlichen Raum. Davon gibt es, jeweils ein bis vier Nummern kleiner, natürlich eine ganze Menge: in jedem Park, vor jedem öffentlichen Gebäude, selbst in der Mitte beinahe jedes Verkehrskreisels steht ein Kunstwerk.
Um die geht es aber nicht. Das Buch kapriziert sich auf Kunst, die einen bestimmten Ort dominiert und durch ihr Dasein umdeutet, meistens indem sie die Umgebung sehr bewusst integriert. Nicht im urbanen Raum, sondern bestenfalls an dessen Rändern, oder, viel häufiger, dort, wo die zivilisatorischen Eingriffe der Menschen weitaus dezenter sind. Vieles davon ist klug, etliches gewitzt, manches extrem politisch. Im Grunde würde keines der in diesem Buch gezeigten Kunstwerke in einem Museum funktionieren - selbst diejenigen nicht, die von ihren Dimensionen her zumindest theoretisch in einem Museumsbau unterzubringen wären.
Das Museo Atlántico vor der Küste Lanzarotes kann man nur tauchend besichtigen
Beispiele? Die schimmernden, eiförmigen, halbmeterhohen Objekte, die das Künstlerkollektiv Team Lab in einem Wald bei Tokio platziert hat. Sie entfalten ihre Wirkung allein dadurch, dass sich die Natur in der glatten Oberfläche spiegelt - und dass das Licht, welches sie selbst abgeben, wiederum die Stimmung in dem Wald verändert. Oder der Pop-up-Store von Prada, den Elmgreen & Dragset in die texanische Wüste bei Marfa gebaut haben. Erst der Umstand, dass die in der Auslage drapierten luxuriösen Schuhe und Taschen an einem Ort (vermeintlich) angeboten werden, an dem sie ihre Funktion verlieren - wer braucht Prada-Schuhe in der Wüste? -, übersetzt das architektonische Zitat eines an sich gewöhnlichen Ladens in eine künstlerische Aussage.
Etliche der gezeigten Kunstwerke sind auf eine atemberaubende Weise raumgreifend. Das gilt etwa für das Museo Atlántico von Jason deCaires Taylor, ein unterseeischer Skulpturenpark vor der Küste Lanzarotes, den man nur tauchend erkunden kann. Oder für die Installation "Inside Australia" von Antony Gormley. Der Brite hat 131 indigene und nicht indigene Einwohner der westaustralischen Stadt Menzies fotografiert, die Bilder nach einem Schema digital verändert und daraus abgeleitet dann rund 50 stählerne Skulpturen geschaffen, die auf Ästhetiken der dortigen Aborigines-Kultur Bezug nehmen. Aufgestellt sind sie in der Wüstenregion um die Stadt herum, über viele Kilometer Entfernung. An einem Standort sieht man bestenfalls ein Dutzend weitere Statuen. Ein gigantisches Bildnis für eine Wiederinbesitznahme des Landes.
Auch das ist ein Aspekt, der viele dieser Outdoor-Werke eint: Sie befinden sich weit entfernt von den Kunstzentren dieser Welt. Wer reist, um sie zu sehen, gelangt zwangsläufig in Regionen, die selten auf den gängigen Tourismus-Routen liegen.
Robert Klanten, Andrea Servert, Grace Banks (Hrsg.) : Art Escapes. Hidden Art Experiences Outside the Museum. Gestalten Verlag, Berlin 2022. 258 Seiten, 39,90 Euro.