Kulturhauptstadt 1999:Weimar - Ein Denkmal für Ideen

Wie sich Epochen und Traditionen verbinden: Die Klassikerstadt Weimar präsentiert Vergangenheit, ohne museal zu sein.

Hilmar Klute

Am frühen Morgen des 7. November 1775 trifft Goethe in Weimar ein. Bekleidet - aber vielleicht ist das Legende - mit jener Kombination, die für die gebildeten jungen Herren jener Zeit so etwas wie die Uniform der Empfindsamkeit bedeutet: blauer Frack, gelbe Weste, Stulpenstiefel - die Applikationen des Werther.

Goethe-Schiller-Denkmal ueberrascht mit dritten Mann

Goethe, Schiller und Liszt.

(Foto: ddp)

Wieviele junge Männer hat man in dem einen Jahr nach dem Erscheinen des Briefromans in dieser Montur aufgefunden: mit einer Kugel im Kopf. Der Werthersche Selbstmord ist eine grausige Mode geworden. Genieästhetik in ihrer praktischen Anwendung - das muss im Blutbad enden.

Oder im Kulturparadies. Und dafür sind die Zeiten im schmuddeligen und kaffigen Weimar der siebziger Jahre günstig, und so ließe sich die Legende des Ruhms weiter erzählen: Der jugendliche Erfolgsautor trifft auf den noch jugendlicheren, bildungssatten Herzog Carl August.

Der Achtzehnjährige lässt Goethe in seinem Gartenhaus wohnen, sie jagen gemeinsam, schlafen im Freien und zelebrieren die Lust am Natürlichen auf den Fundamenten der Rousseauschen Lehre. Knabenhaft ist das und gleichzeitig schon eine Art kulturpolitischer Protest.

Satiren und Erotik

Denn mit dieser Vitalität verabschieden sie das alte Weimar der Herzogmutter Anna Amalia, die der Stadt das Gepräge der Frühaufklärung gegeben hat: mit der prachtvollen Bibliothek im Grünen Schloss, die inzwischen in einem großen Brand zerstört wurde.

Dann natürlich mit der Verpflichtung des Erfurter Philosophieprofessors Christoph Martin Wieland als Hoferzieher des jungen Carl August. Wieland war berühmt und auch gescholten wegen seiner gelehrten Satiren, denen auch das Erotische gut stand. Aber er konnte schlecht leben von der Literatur, und seine dreizehn Kinder wollten ernährt sein. Die Herzogin spendierte ihm Rente auf Lebenszeit.

Und der Sohn prescht durch die jetzt offene Schneise: Carl August setzt die Elite seiner eigenen Generation auf die alten Posten. Superintendent und Pfarrer von St. Peter und Paul wird Johann Gottfried Herder. Goethe empfiehlt sich bald als Finanzminister mit rigiden Sparplänen.

Nach und nach zeigt sich, dass die jungen Wilden sich zu besonnenen Politikern und Würdenträgern mausern. Allesamt souveräner und gestrenger als der Landesfürst. Mit dessen Hilfe lassen sie eine geistige Weltprovinz entstehen.

Vom Herzogtum absolutistischer Prägung wird Weimar zum Bürgerstaat, in welchem innerhalb weniger Jahren das auf Mäzenatentum beruhende kulturelle Zentrum Deutschlands entsteht. Und damit ein ideelles und architektonisches Erbe, das heute erfahrbar ist in Gedenkstätten und Museen.

Weimar - Ein Denkmal für Ideen

Das ist - verknappt und auf das sogenannte goldene Zeitalter beschränkt - die Geschichte von der Größe Weimars. Und es ist heute das Elend der Stadt Weimar, die mit einem Welterbe werben muss, das scheinbar nur aus Assoziationen besteht. Viele Reisende, so hört man allen Ernstes, wüssten nicht einmal genau, wo Weimar liegt.

Goethestatue in Weimar; ddp

Goethestatue in Weimar

(Foto: Foto: ddp)

Und wer es weiß, fährt nicht hin, weil es sich nicht auf Anhieb als Ort konkretisiert. Weimar als Symbol für deutsches Bildungsgut - das ist gerade noch vorstellbar, weil es so sinnbildlich verschmolzen ist im Goethe-Schiller- Denkmal vor dem Landestheater. So, als gäbe es nicht das Belvedere, die Orangerie und den wunderschönen Schlosspark in Tiefurt. Nicht die Bauhausstätten von Gropius und van de Velde, die ja als architektonische Erbestätten auf der Unesco-Liste stehen.

Teil des Ganzen

Seit 1998 gehört das Weimar der deutschen Klassik zum Kulturerbe. Und wenn man in Weimar steht und nicht weiß, wie man dieses Erbe begreifen soll, besucht man die ständige Ausstellung im Nationalmuseum des Goethehauses am Frauenplan.

Und spätestens hier wird klar, worum es in Weimar geht: um Goethe und die Notwendigkeit, den Dichter einzuordnen in ein groß angelegtes Beziehungsspektrum. Denn dieses Museum präsentiert nicht mehr diese eine Dichterfigur, sondern das Bild einer Bildungsgesellschaft, deren Teil Goethe war.

Sein privates Leben und auch die Rituale seiner öffentlichen Präsenz lassen sich in den Wohnräumen nachempfinden. Im blauen Salon mit der Junobüste. In den privaten Zimmern, die fast so schlicht sind wie die Arbeitsräume Brechts in der Berliner Chausseestraße.Man bestaunt diese greifbaren Zeugnisse des Alltagslebens zwischen Kunst und politischer Verpflichtung.

Der Blick in Goethes Bibliothek dagegen: die mit moderner Technik temperierte Materialsammlung eines Schriftstellers, der gegen Ende seines Lebens bekannte, was sein Genie ausgemacht habe - die Fähigkeit, Erfahrenes im Werk zu bündeln.

Begehbare Vergangenheit

Vielleicht lässt sich auch diese allzu oft zum "Mythos Weimar" verklärte Stadt besser begreifen, wenn man in ihr die Bündelung vieler kultureller Bemühungen sieht. Und gleichzeitig die Brüche miteinbezieht. Die Paradiese des Goldenen Zeitalters sind als begehbare Landschaften in die Gegenwart gerettet.

Das alte Stadtschloss, mehrfach abgebrannt und mit den Stilen verschiedener Epochen wieder aufgebaut, liegt dem herrlichen Park an der Ilm vor. Goethes Gartenhaus, vielfach erneuert, ist ein Postkartenmotiv. Der Park selbst ein lebendiges Denkmal der klassischen Ästhetik.

Wer heute durch Weimar geht, erlebt eine dezent ins Alte eingefügte Alltagswelt, die weit davon entfernt ist, ein Freilichtmuseum der deutschen Klassik zu sein. Der Marktplatz ist ein lebendiger Stadtmittelpunkt. Geschäftleute haben auf grelle Ladenschilder verzichtet, und in der Fußgängerzone bekommt man eine leise Ahnung vom Promenieren: zu Schillers Zeiten führte hier die Stadtmauer entlang.

Ein Klassiker zum Anfassen?

Weimars Kulturstätten sind weder zu sterilen Ausstellungsräumen mutiert noch einem falschen Begriff von Authentizität verpflichtet. Der neue Eingang zu Schillers Wohnhaus an der früheren Esplanade führt durch einen modernen Glasbau direkt in die historischen Räume. Man muss bei Tageslicht hineingehen, denn das Haus, in welchem Schiller den Wilhelm Tell schrieb, ist frei von Deckenstrahlern und anderweitigen dezenten Leuchtkörpern. In den Räumen wird die private Lebenswelt eines Dichters gezeigt.

Gleichzeitig fehlt es nicht an der nötigen historischen Distanz - in seinen privaten Räumen wird Schiller kein Klassiker zum Anfassen. Das runderneuerte Stadtensemble ist vermutlich der gelungenste Versuch, Weimar als lebendigen Ort wiederzubeleben. Vorangegangene waren an Intoleranz und Unverständnis gescheitert.

Man denke an Harry Graf Kessler, den großen Kunstmäzen und Tagebuchautor des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Er wollte Nietzsches Idee von der Kraft der Kunst in konkrete Kulturpolitik umsetzen. Gemeinsam Henry van der Velde hätte er Weimar in dieser Zeit zum Portal zur künstlerischen Moderne machen können. Aber das Projekt scheiterte am geschmäcklerischen Stumpfsinn der preußischen Hofschranzen und des Kaisers, der van der Veldes Werk als "ultramodernen Unsinn" abqualifizierte.

Weimar - Ein Denkmal für Ideen

Goethe und Schiller in Weimar; AP

Das Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar

(Foto: Foto: AP)

Statt Kunst bekam Weimar miefigen Provinzchauvinismus, den Nietzsches Schwester mit ihrer abgeschmackten Biographie des Philosophen garnierte: Elisabeth Förster- Nietzsche verkaufte ihren Bruder als Bismarck- und kaisertreuen Deutschnationalen.

So stand Weimar und seine Tradition immer in der Gefahr, Projektionsfläche für politische Interessen und Machenschaften zu sein. Adolf Hitler stellte Weimar neben die Kultstätte Bayreuth und machte es zur gespenstischen Kulisse seines völkischen Wahns. Spuren davon sind heute noch zu sehen und zu betreten.

Das sogenannte Gauforum des Weimarer Gauleiters Fritz Sauckel etwa. Dieser Freund Hitlers und Eiferer, der sich selber gerühmt haben soll, völlig frei von Bildung zu sein, bewirbt sich bei Himmler um die Errichtung eines Konzentrationslagers für Mitteldeutschland in seinem Gau. Im Juli 1937 wird das Konzentrationslager Buchenwald errichtet, mit seinen mehr als achtzig Außenlagern eines der größten im Dritten Reich.

Völkisch oder volksfremd

Bis 1945 wurden hier mehr als 40.000 Menschen ermordet. Die Nähe des Lagers zu den Orten der deutschen Klassik ist natürlich kein Zufall: Weimar sollte auf ewig mit beiderlei verbunden sein: mit den Symbolfiguren des deutschen Geistes und der Macht des Nationalsozialismus, der entscheidet, was völkisch ist und was volksfremd.

Die Zeugnisse der alten und der jüngeren Vergangenheit sind in Weimar gesichert. Sie lassen den Besucher Querverbindungen herstellen. Denn es geht ja nicht nur darum, einzelne Epochen als abgeschlossene Einheiten zu begreifen.

Die Stadt beschränkt sich nicht darauf, ihr Erbe zu feiern. Sie zeigt, wie sich auf kleinem Raum kulturelle und historische Epochen verschränkt und über Jahrhunderte hinweg deutsche Geschichte repräsentiert haben. Somit ist diese Stadt kein assoziatives Erbe, sondern ein Lernort im umfassenden Sinn.

Dem Klassiker müssen heute keine Lorbeerkränze mehr gewunden werden. Dieser Kopf ist Teil eines Denkmals und Teil einer Epoche, die verzweigter ist, als mancher Besitzer einer Goethebüste meint.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: