Kulturhauptstadt Matera:"Nationale Schande" war einmal

Kulturhauptstadt Matera: Das italienische Matera ist eine gefragte Filmkulisse.

Das italienische Matera ist eine gefragte Filmkulisse.

(Foto: mauritius images)

Die Bewohner lebten einst in den Felswänden, Schriftsteller Carlo Levi sprach vom "höllischen Krater" - und machte das süditalienische Matera erst berühmt. Nun ist ausgerechnet der Ort der Wohnhöhlen Kulturhauptstadt.

Von Thomas Steinfeld

Um Matera zu sehen, als Denkmal und in aller Vollständigkeit, sollte man die Staatsstraße 7 in Richtung Murgia Timone verlassen, bevor sie die Stadtgrenze erreicht. Der Weg führt durch eine Steppe bis an den Rand einer steil abfallenden Schlucht, in deren Tiefe man einen Bach nur ahnen kann. Außerdem gibt es dort Steine, Staub und niedrige Büsche. Auf der gegenüberliegenden Seite der Schlucht erhebt sich steil eine Stadt, deren Anfänge bis ins Dunkel schriftloser Zeiten reichen: Sie ist älter als alt, an ihren Bauten versagen die Epochenbegriffe. Tausende von primitiven Wohnstätten sind in die Felswände auf der anderen Seite geschlagen, neben- und übereinander gebaut, selten voneinander getrennt, sondern ineinander übergehend, von Wegen und vor allem Treppen erschlossen, die als Wände und Dächer für andere Häuser dienen.

Kein Architekt hat diese Anlage geplant, kein Baumeister die Statik berechnet. Hellgelb ist die Farbe, die das gesamte, "Sassi" ("Steine") genannte Gebilde trägt, und hellgelb ist der Kalkstein, aus dem die Landschaft besteht, so dass Natur und Bau miteinander verschmelzen wie in einem Wespennest oder in einer Muschelkolonie.

In diesem Jahr ist Matera, neben Plowdiw in Bulgarien, die Kulturhauptstadt Europas: eine Stadt von sechzigtausend Einwohnern, die auf der Hochebene der Basilikata liegt, im äußersten Süden Italiens. Die Auszeichnung wird seit dem Jahr 1985 vergeben und gehorcht einem Rotationsprinzip, quer durch die Staaten der Union. Matera ist die sechzigste Stadt, die den Titel trägt. Fünfzig Millionen Euro öffentlicher Mittel werden für dieses Ereignis ausgegeben, Verbesserungen der Infrastruktur nicht eingerechnet - das ist mittleres Maß unter den geförderten Kommunen.

Doch unterscheidet sich Matera von gewesenen und kommenden Kulturstädten: Was es dort zu sehen gibt, ist weniger "Kultur", im Sinne von: Erhebung des Menschen aus seiner Abhängigkeit von der Natur, als vielmehr nur ein erster, quälend unvollkommener Anfang einer solchen Emanzipation. Zu sehen gibt es hauptsächlich Wohnhöhlen, Behausungen, die in den Felsen geschlagen, meist aber mit einem gemauerten Vorbau versehen wurden. Dahinter lebten oft große Familien mit ihren Tieren, in einem einzigen Raum, mit einem Loch im Boden als Abtritt.

Carlo Levi schrieb über Matera in seinem Erinnerungsbuch "Christus kam nur bis Eboli"

Mehr als dass Matera also für Kultur stünde, verweisen die historischen Gebäude, auf denen der Ruhm der Stadt beruht, auf eine Abwesenheit von Kultur. Von einem "höllischen Krater" sprach der Schriftsteller Carlo Levi in seinem Erinnerungsbuch "Christus kam nur bis Eboli" (1945), das in Italien sofort nach Erscheinen eine heftige Debatte auslöste und bald darauf zu einem Welterfolg wurde. Als Palmiro Togliatti, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens, im Jahr 1948 die Stadt besuchte, nannte er sie eine "nationale Schande". Damals waren die Sassi noch bewohnt, und sie blieben es noch etliche Jahre, nachdem die italienische Regierung im Jahr 1952 ein Gesetz verabschiedet hatte, das die Räumung der Höhlen und die Umsiedlung der etwa 15 000 Bewohner in neu zu errichtende Wohnblocks am Stadtrand verfügte. In den Sechzigern, als die letzten Höhlen von ihren Bewohnern aufgegeben wurden, müssen Siedlung und Sehenswürdigkeit ineinander übergegangen sein. Denn zu jener Zeit begann, inspiriert auch durch die Schilderung Materas in "Christus kam nur bis Eboli", die Karriere Materas als Filmkulisse.

"Ich dachte, man sollte eine Geschichte von diesem Italien schreiben, wenn es möglich ist, eine Geschichte von etwas zu schreiben, das sich nicht in der Zeit abspielt: die einzige Geschichte dessen, was ewig und unveränderlich ist", hatte Levi geschrieben. Dieses "Ewige" ist bei Carlo Levi zugleich Ausdruck einer unendlichen Resignation.

Das Sehen und das Erschrecken liegen in den vielen Filmen, die in Matera gedreht wurden, eng beieinander. Pier Paolo Pasolini war einer der ersten Regisseure, die in dieser Stadt die Heimat aller Menschen in der Grotte suchten, in seiner Verfilmung des Evangeliums nach Matthäus (1964). Seitdem haben es ihm viele Filmemacher nachgetan, mit zunehmend fantastischen Projekten: Francesco Rosi mit der Verfilmung von "Christus kam nur bis Eboli" (1979), Mel Gibson mit "Die Passion Christi" (2004), John Moore mit "Omen" (2006), Timur Bekmambetov mit "Ben Hur" (2016), Patty Jenkins mit "Wonder Woman" (2017). Teile des nächsten "James Bond"-Films sollen in diesem Frühjahr in Matera aufgenommen werden.

Immer sind es dieselben Treppen, die aus der Geschichte hinaus in eine alte Ewigkeit führen, immer dieselben finsteren Höhlen, die den wahren, weil noch nicht mit der Technik in Berührung gekommenen Menschen versprechen, immer dieselben kleinen Plätze, auf denen sich die Gesellschaft in ihrem vermeintlich ursprünglichen Zustand eingefunden haben soll. Zu solchen Vorstellungen vom Authentischen liefert Matera Bilder, bei deren Anblick sich der Betrachter fragt, ob es so etwas auf Erden tatsächlich gebe.

Bringt Matera politische und ökonomische Erneuerung?

In den vergangenen Jahren wurde Matera zunehmend für den Tourismus erschlossen, die Höhlen wurden gereinigt, die ebenfalls in den Felsen geschlagenen Kirchen restauriert. Einige Teile der Sassi liegen zwar noch verlassen, in anderen aber wurden die Höhlen zu Hotels, Bars und Restaurants umgebaut, so dass sich die "nationale Schande" in ein über Tausende von Jahren gehütetes Geheimnis verwandelte, das sich jetzt, plötzlich komfortabel geworden, den Kosmopoliten offenbart. Je mehr von ihnen kommen, desto weniger bleibt zwar von der Stille, die mehr als fünfzig Jahre über dieser Siedlung lag. Aber desto mehr wächst die politische Hoffnung, von dieser Stadt könne eine ökonomische und kulturelle Erneuerung des italienischen Südens in einem seiner verlorensten Gebiete ausgehen: Knapp 600 000 Menschen leben heute in der Basilikata, etwa so viele wie in Luxemburg, aber auf der fünffachen Fläche. "Open Future" lautet deswegen das Motto der Kulturhauptstadt. Die erste große Ausstellung des Festjahres trägt den Titel "Ars Excavandi", gleicht mit ihren digitalen Animationen einem gigantischen Spielsalon und huldigt dem Menschen, der Unterwelt, dem Schamanismus und dem Leben als solchem.

Matera kommt derartigen, sich gleichsam rückwärts und nach unten, in die Urgeschichte und in den Untergrund wendenden Deutungen entgegen: Denn die alte Stadt liegt in einer engen Schlucht, von der man oben auf der Hochebene oder auch noch in der Neustadt nichts sieht. Es ist, als wäre hier die Erde aufgebrochen. Zugleich aber ist der Aufstieg Materas zur Kulturstadt ein Zufall, an dessen Entstehung das Buch "Christus kam nur bis Eboli" einen entscheidenden Anteil hatte. Kaum weniger eindrucksvoll etwa sind, nicht weit von Matera entfernt, die Ruinen der mittelalterlichen Bergstadt Craco. Der Ort wurde in den Siebzigern aufgegeben, als er nach einer misslungenen Reparatur der Zisterne unter dem hoch aufragenden Wehrturm in die Tiefe zu rutschen begann. In Craco wird beinahe so viel gefilmt wie in Matera.

Von hier, so lautet das Versprechen, werde die Erneuerung Europas ausgehen

Und weitaus schrecklicher ist die "città vecchia" von Tarent, die Altstadt zwischen den beiden Meeren: eine Geisterstadt aus barocken Palästen, gotischen Kirchen, Turmhäusern und engen Gassen, im Elend versunken, aber eben nicht ganz aufgegeben, sondern noch von ein paar vielleicht zweifelhaften Gestalten bewohnt. Matera besitzt gegenüber diesen Stätten den Vorteil, dass die Höhlen nicht nur seit Langem verlassen sind, sondern auch, dass man sie ohne bautechnische Begleitung und Schutzhelm betreten kann: Sie sind wie alte Schneckenhäuser, strukturell intakt und wunderbar anzusehen, aber von ihren unheimlichen Insassen befreit. Sie bieten dem Tourismus keinen Widerstand, was womöglich eine schlechte Voraussetzung für den Plan darstellt, von dieser Stadt eine Wiederbelebung des äußersten Südens ausgehen zu lassen.

DIE PASSION CHRISTI

Unter anderem Mel Gibsons „Die Passion Christi“ wurde in Matera gedreht.

(Foto: mauritius images)

Dem Tourismus vorausgegangen ist die Kunst. Im Palazzo Lanfranchi ist ein großer Teil der Gemälde zu sehen, auf denen Carlo Levi die Bewohner der Sassi porträtierte, zusammen mit den Fotografien, die diesen Bildern zugrunde liegen. Das archäologische Museum vermittelt, im Unterschied zu den restaurierten Sassi mit ihren Badewannen von Philippe Starck, eine Vorstellung davon, was zehntausend Jahre Siedlungsgeschichte tatsächlich bedeuten, an einem Ort, der blieb, während die Völker - Lukaner, Griechen, Römer, Langobarden, Sarazenen, Normannen - wechselten. Das Museum für zeitgenössische Skulptur ("Musma"), untergebracht in einem ehemaligen Herrensitz, halb Palazzo, halb Höhlensystem, lässt schlagend offenbar werden, dass die angeblich primitive Kunst der ästhetischen Moderne nicht nur Inspiration ist, sondern auch Ideal: in Gestalt weniger von Kunstwerken als von Fetischen, die Zugang zu zeitloser Spiritualität versprechen.

Kein Tag, sagen die Veranstalter der Kulturstadt, soll in diesem Jahr ohne ein künstlerisches Ereignis vergehen. Etliche Verbesserungen der Infrastruktur in Stadt und Region, die für die Feierlichkeiten angekündigt worden waren, sind nicht rechtzeitig fertig geworden: Das gilt für die Straße nach Bari ebenso wie für einen Bahnanschluss, an dem nicht nur die alten Regionalzüge halten können. Viele Projekte werden nie abgeschlossen werden. Doch diese Versäumnisse schaden wenig, weil die zeitgenössische Kunst schon da ist und, wie immer, verspricht, es werde alles gut werden, in Gestalt von allen möglichen "Dialogen" und "Begegnungen". Und zudem: Was bedeutet ein verpasster Eisenbahnanschluss angesichts einer Geschichte von zehntausend Jahren?

Als der amerikanische Landschaftsarchitekt Lawrence Halprin vor Jahren Matera besuchte, sprach er von einer "Urerfahrung" ("primeval experience") und verglich die Stadt mit Jerusalem. An diesem Vergleich ist mehr Wahres, als es selbst die vielen Filme erscheinen lassen, in denen Matera für Jerusalem einsteht: Von Matera, so hatten die Arrangeure der Kulturhauptstadt versprochen, aus der ältesten Zivilisation, werde die Erneuerung Europas ausgehen, in der Besinnung auf das elementar Menschliche, dessen vermeintliche Hinterlassenschaften man offenbar leibhaftig in Besitz nehmen muss, um daran zu glauben (was ein hohes Maß an Zweifel einschließt). Mit den Mitteln des modernen Kulturmanagements, berechnet auf den Besuch von vielen hunderttausend Touristen, soll in Matera offenbar neue Art heiligen Bodens entstehen.

Von einem solchen Erdkult werden zwar weder die Künstler noch die Veranstalter sprechen. Sie betreiben ihn dennoch, zur Begeisterung der Besucher, die, nach dem Willen der Arrangeure, alle als vorübergehende "Bürger" der Stadt behandelt werden sollen - um gemeinsam mit den Einheimischen die Zukunft nicht nur Süditaliens, sondern ganz Europas im Ältesten zu finden.

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