Kulturhauptstadt 2005:Cork - Die Insel der Heiligen war gestern

Cork in Irland erinnert sich ihres Erbes und feiert die Gegenwart: Die Kulturhauptstadt 2005 präsentiert sich als "City of Making".

H.G. Pflaum

Die Iren betreiben eine seltsame Fluglinie. Nicht nur, weil die Ansagen bei Aer Lingus auch in gaelischer Sprache erfolgen, die kaum einer versteht. Seit vielen Jahren zieren die Handschriften berühmter irischer Autoren die Sitzbezüge, aber so kontrastarm, dass nur wenige Spezialisten eine Ahnung davon haben, ob sie gerade auf Joyce, Yeats, O'Casey oder irgendeinem anderen prominenten Autor Platz nehmen.

Immerhin gehörte die Literatur viele Jahrzehnte zu den wichtigsten Exportgütern der Grünen Insel. Doch es gibt kein irisches Bier an Bord, nur Produkte zweier weltweit operierender Konzerne. Unlängst hat Aer Lingus seinen zweiten Direktflug eröffnet und fliegt drei Mal in der Woche von München nach Cork. Denn Irlands zweitgrößte Stadt boomt, vor allem dank der chemischen Industrie.

Exportschlager Viagra

Vorbei sind die Zeiten, als man sich das Attribut "Insel der Heiligen" verlieh. Heute verpasst sich Cork stolz das an Wahlkampfparolen erinnernde Etikett "City of Making", Stadt des Machens, und Viagra gilt als einer ihrer Exportschlager. Das Jahr 2005 bescherte den 138.000 Einwohnern einen weiteren Titel: den der Kulturhauptstadt Europas.

Je schneller und radikaler sich Irland von der Vergangenheit löst, desto mehr "Heritage Centers" werden eröffnet. Die Geschichte, die gestern noch im Bewusstsein der älteren Generation gegenwärtig war, ist heute Gegenstand musealer Betrachtung. Ein anschauliches Beispiel dafür gibt das "Cork City Gaol". Die Stadt verfügt kaum über irgendwelche bedeutsamen historischen Baudenkmäler - also hat man das 1824 eröffnete Stadtgefängnis zum Museum gemacht.

Für viele politische Rebellen war der Bau die letzte Station vor der Deportation nach Australien oder Tasmanien; neben armen Dieben, kleineren und größeren Straftätern (der Henker von Cork hat wegen Räuberei drei Jahre hinter Gittern verbracht) mussten dort Mitglieder der Bewegung "Young Ireland" und der legendären "Fenier" einsitzen.

Cork - Die Insel der Heiligen war gestern

Corks berühmtester Schriftsteller, Frank O'Connor, gehörte ebenso zu den Häftlingen wie die tapfere Countess Markievicz, die eine wichtige Rolle beim Osteraufstand von 1916 gespielt hatte und die erste Frau im britischen Parlament war - wenngleich sie dieses politische Amt nie antrat.

1923 wurde das Gefängnis geschlossen; später beherbergte es zeitweise den örtlichen Radiosender sowie die Post- und Telegraphen-Zentrale, bevor es zum Museum wurde, an dessen Wänden noch die Graffiti der Häftlinge zu entziffern sind, während in anderen Zellen Wachsfiguren im Stile der Madame Tussaud an die schaurigen Szenen von einst erinnern.

Mäßiges Interesse bei den Bürgern

Es gab zwar in der Planungsphase eine Umfrage, in der die Einwohner der Stadt aufgerufen waren zu sagen, was sie bei den Kulturhauptstadt-Veranstaltungen gern sehen würden, doch allzu großen Anteil scheinen die Bürger von Cork nun an den Ereignissen nicht nehmen zu wollen. Selbst die örtliche Station von RTÉ, dem irischen Fernsehen, hat erst im Mai mit der Ausstrahlung eines Kulturhauptstadt-Magazins begonnen, dem bis Oktober monatlich nur jeweils 30 Minuten Sendezeit zur Verfügung stehen.

Den späten Einstieg erklärt die zuständige Redakteurin mit dem Hinweis, sie habe ihren Auftrag selbst erst vor wenigen Wochen erhalten. In ihrer ersten Magazin-Sendung hatte sie auch einen Bericht über eine Ausstellung im Triskel Art Centre; die Exponate und eine Video-Dokumentation kamen aus "Her Majesty's Prison" Maze, das zum nordirischen Internierungslager "Long Kesh" gehörte und als Schauplatz von Protest und Widerstand zum Symbol für den Nordirlandkonflikt wurde, bevor es im September 2000 geschlossen wurde.

Kritik am offiziellen Programm

Über Jahre hinweg hat dort ein Wach-Offizier alle möglichen Gegenstände und Erinnerungsstücke gesammelt und 15 Jahre lang insgeheim unter Verschluss gehalten, obwohl er sie offiziell hätte vernichten müssen. Manche davon haben inzwischen den Status von Reliquien. Nach seiner Pensionierung hat Billy Hull damit eine Art Privatmuseum eingerichtet. Dazu zeigte Amanda Dunsmore, die im Maze Prison als "Artist in Residence" tätig war, die Ergebnisse ihrer Arbeit mit den Häftlingen. Eine Ausstellung wie "Keeper" hat nichts von der Beliebigkeit vieler Veranstaltungen, die man extra nach Cork geholt hat. Aber sie zählt nicht zum offiziellen Programm. Die Fernsehredakteurin hält dies für symptomatisch: "The official program is the crux of the program".

Cork - Die Insel der Heiligen war gestern

Für das offizielle Programm war ein Komitee verantwortlich, dem auch der City Manager, ein Vertreter der Handelskammer, der Finanzchef der Stadt und ein Mitglied des Tourismus-Verbands angehörten. An der Vielfalt des Angebots gibt es keinen Zweifel. Der offizielle Katalog enthält auch ein Grußwort von John O'Donaghue. Der Mann ist Minister für "Arts, Sports and Tourism", alles in einer Person.

Mit seiner immer noch vergleichsweise gemütlichen und überschaubaren, gerade für rund 200 Millionen Euro renovierten Innenstadt, seinen zahlreichen Pubs, mit Denkmälern für Father Matthew, den prominenten irischen Antialkoholiker, oder für den ermordeten Freiheitskämpfer Michael Collins, mit dem verwinkelten, dem irischen Wetter angepassten, also überdachten "English Market" und den Billigläden am alten Kohlenkai, den beiden Flussarmen des Lee, der sich am Stadtrand zum Lough Mahon, einem der weltweit größten natürlichen Häfen weitet, ist Cork auf jeden Fall den Besuch wert.

Küsschen für den Blarney Stone

Doch - Kulturhauptstadt hin oder her - wer reist schon nach Irland wegen einer Stadt? Auch wenn die eine lange Geschichte seit ihrer Gründung durch die Wikinger aufzuweisen hat, sich seit 150 Jahren eine eigene Oper und seit 50 Jahren ein Filmfestival leistet. Selbst jenes schon erwähnte "Pflichtprogramm" lässt die urbanen Grenzen hinter sich, empfiehlt etwa, den außerhalb der Stadt, im Park von Blarney Castle gelegenen Blarney Stone zu küssen: Nach alter Legende würde dem Küssenden die Gabe der Beredsamkeit verliehen werden.

An den Ufern des Lough Mahon entlang führt der Weg in das Küstenstädtchen Cobh, früher als "Queenstown" bekannt. Von dort aus liefen einst die Auswanderer-Schiffe aus, auf denen von der Mitte des 19. Jahrhunderts an, den Jahren der großen Hungersnot, bis ins Jahr 1950 rund zweieinhalb Millionen irischer Emigranten ihre Heimat verlassen haben. Schon 1791 segelten von hier aus die "Convict Ships" mit irischen Strafgefangenen nach Australien.

Cork - Die Insel der Heiligen war gestern

An die Geschichte und die Geschichten von Queenstown erinnert nun ein Heritage-Centre, untergebracht im alten viktorianischen Bahnhof. Der Besuch lohnt sich, schon wegen eines alten, in einem höllischen Sturm auf einem Schiff gedrehten Dokumentarfilms. Und die sorgfältigen Nachbauten geben durchaus einen Eindruck von der düsteren Enge, der die Emigranten auf den "Coffin-Ships", den Sargschiffen, manchmal wochenlang ausgesetzt waren.

Tagestouren über die Stadtgrenzen hinaus

Wer schon im County Cork, also im Südwesten unterwegs ist, sollte zwei in ruhigen Stunden fast magische Orte nicht versäumen. Beide sind bequem in Tagestouren zu erreichen. Im Westen, bei den Quellbächen des Lee nahe Ballingeary in den dunklen Shehy Mountains, liegt im Lough Gougane Barra eine kleine Insel, auf ihr stehen die Reste der Eremitage und des Klosters des heiligen Finbar, des Schutzpatrons von Cork.

Man braucht allerdings ein wenig Glück, die Insel für sich zu haben, denn meist ist sie heillos überlaufen; die kleine Kapelle hat sich in den vergangenen Jahren zum beliebten Ort für Trauungen und große Hochzeitsgesellschaften entwickelt.

Nur wenig weiter von Cork entfernt, aber im Norden, im County Tipperary, erhebt sich der sagenumwobene Rock of Cashel; auf dem knapp 80 Meter hohen Fels, am Rande der gleichnamigen Ortschaft, stehen die Ruinen einer gewaltigen Anlage: ein Rundturm aus dem 9. Jahrhundert, die romanische "Cormac's Chapel", von der die Kunsthistoriker sagen, ihr Bau sei beeinflusst worden von irischen Mönchen, die vom Schottenkloster St. Jakob in Regensburg in ihre Heimat zurückgekehrt waren. Dazwischen erheben sich die Reste einer riesigen gotischen Kathedrale.

Der Fels war schon in keltischer Zeit besiedelt; später wurde er Sitz der Könige der Provinz Munster. Im 5. Jahrhundert soll dort Irlands Nationalheiliger Patrick den König Aengus zum Christentum bekehrt und ihm anhand eines Kleeblatts die Dreifaltigkeit erklärt haben. Womit das grüne Nationalsymbol erfunden war.

Als Kontrastprogramm zu den Events in der Kulturhauptstadt 2005 sind der Rock of Cashel und Finbars Eremitage am Lough Gougane Barra schon um der eigenen inneren Ruhe willen dringend anzuraten. Und es ist eine Chance, die versunkenen Reste eines gänzlich anderen, einzigartigen Irlands zu sehen und zu spüren, die Insel der Heiligen.

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