Kulturhauptstadt 2000:Bologna - In fleischigen Rundungen

Auch wenn die Stadt ihre Reize nicht sofort offenbart: Warum es sich auf jeden Fall lohnt, Bologna nicht links liegen zu lassen.

Johannes Willms

Während seines Aufenthalts in Bologna vernahm der Besucher aus dem Munde von Einheimischen wenigstens fünfmal die vorsichtig formulierte Klage, dass es die Fremden in der Regel vorzögen, von Venedig kommend möglichst schnell nach Florenz zu gelangen und dabei Bologna links liegen zu lassen. So hatte es auch der Besucher bislang gehalten; die Autobahnausfahrt Bologna war ihm nur eine willkommene Wegmarke gewesen, die ihm verhieß, dass Florenz nicht mehr allzu fern sei.

Kulturhauptstadt 2000: Die Piazza Maggiore in Bologna

Die Piazza Maggiore in Bologna

(Foto: Foto: ddp)

Wer jedoch versucht wäre, aus jener Klage den Schluß zu ziehen, der Bologneser als solcher litte an einem Mangel an Beachtung, der irrt. Bologna strotzt vor Selbstbewusstsein, weshalb aus der Freundlichkeit der Bologneser gegenüber dem Fremden stets auch ein Gran Herablassung herauszuschmecken ist. Das stört nicht weiter. Im Gegenteil. Der Besucher fühlt sich auf diese Weise ganz frei von falscher Rücksichtnahme in seinem Urteil.

Bisher war es immer nur eine Stadt, die sich - bestimmt vom Rat der Kulturminister der Europäischen Union - für jeweils ein Jahr mit dem Titel "Kulturstadt Europas" schmücken durfte. Athen machte 1985 den Anfang. Doch im Jahr 2000 sind es neun Städte: Avignon, Bergen, Bologna, Brüssel, Helsinki, Krakau, Prag, Reykjavik und Santiago de Compostela. Inflation oder Demonstration kontinentaler Vielfalt?

Mittelalterliche Silhouette

Vom Selbstbewusstsein Bolognas und der Bologneser künden unübersehbar zwei mächtige Türme im Zentrum der mittelalterlichen Stadt, zwei von den wenigen heute noch erhaltenen Wolkenkratzern avant la lettre, die - rund einhundert an der Zahl - einst der mittelalterlichen Stadtkrone ihre Silhouette gaben.

Diese Türme waren in einem praktischen Sinne seit je völlig funktionslos, Erektionen, die der Geschlechterstolz der mächtigen Familien der Stadt phallisch in den Himmel trieb. Der höhere der beiden Türme, die Torre Asinelli, in dessen Schatten der kleinere Zwillingsbruder, die Torre Garisenda, vor Gram, wie es scheint, in eine bedrohlich wirkende Schieflage geraten ist, kann bestiegen werden. 498 Stufen sind zu erklimmen, eine alpinistische Leistung, die sich vermutlich kein Bologneser freiwillig abverlangen dürfte, denn oben angekommen gewahrt man nichts anderes als kichernd sich wechselseitig fotografierende Japaner und jenseits dieser ein Geschachtel und Geschiebe dicht an dicht gereihter, in allerhand Rottönen leuchtender Dachungen, zwischen denen kaum eine der engen Gassen, geschweige eines der markanteren Bauwerke der Stadt auszumachen ist.

Bologna - In fleischigen Rundungen

Von hier oben will sich einem der Reiz Bolognas nicht erschließen. Mit einiger Bangigkeit gewahrt man nur die Topographie einer mittelalterlichen Bürgerstadt, deren Bewohner im emsigen Streben nach Nahrung und Gewinst jedes Fleckchen ausnutzten, überbauten und banal-produktiven Zwecken unterwarfen. Bologna, so schließt man daraus, wuchert und geizt auch mit seinen Reizen, verbirgt diese allzu neugierigen Blicken.

Dieser von oben gewonnene erste Eindruck bestätigt sich, steht man unten vor der dreischiffigen Basilica di San Petronio, der Kirche des Stadtpatrons von Bologna. Der gotische Bau bietet sich als seltsamer Zwitter dar, denn die Marmorfassade in den Stadtfarben weiß und rot, ist nur bis zur Höhe der mächtigen Portale vollendet worden. Darüber erhebt sich in massiger Kahlheit der rohe Ziegelbau der die Last der Dachkonstruktion tragenden Wände.

Der Architekt der Kirche sei unter der Ausführung der Arbeiten gestorben und es habe sich, so wird erzählt, kein Nachfolger finden lassen, der seine Pläne hätte vollenden können. Vermutlich jedoch überwog bei den Bolognesern der Geiz die Frömmigkeit, denn diese Kirche, mit deren Bau 1390 begonnen wurde, war eine Stiftung der Stadt, die sich damit ein Denkmal setzen wollte für die Wiedereroberung ihrer kommunalen Freiheit und Macht.

Palazzo hinter Plastikplanen

Die unvollendete Fassade von San Petronio korrespondiert in unbeabsichtigter Ironie mit dem gegenüber gelegenen, aber hinter großen Plastikplanen verborgenen Palazzo di Re Enzo, dessen Umbau - er soll künftig für Ausstellungen und Konferenzen genutzt werden - längst abgeschlossen sein sollte. Der Beschluß, Bologna im Jahr 2000 zur "Europäischen Kulturstadt" zu deklarieren, fiel schon vor fünf Jahren, aber offensichtlich will auch in Bologna gut Ding Weile haben.

Diese Vermutung gilt wahrscheinlich auch für die Ausstellungs- und Bibliotheksräume in dem um die Ecke an der Piazza Re Enzo gelegenen Palazzo dei Banchi. Hier sollen auf einer Fläche von insgesamt 90 000 Quadratmetern nicht nur eine öffentliche Bücherei aufgestellt werden, sondern auch 900 Computerterminals mit Internetzugang sowie ein Atrium, in dem maximal vierhundert Personen Platz nehmen und sich "weiterer elektronischer Informationsdienste bedienen können".

So verheißt ein aufwendig gestalteter Farbprospekt, der einem verrät, dass dieses ganze prächtige Zukunftsprojekt in ehrwürdigem mittelalterlichem Gehäuse unter der Leitung von Umberto Eco steht. Das kann man als eine glückliche Personalentscheidung bezeichnen. Allein auch der umtriebige Professor Eco hat es nicht vermocht, dass man diese Wunder des e-century schon jetzt bestaunen und benutzen kann, obwohl besagter Prospekt vollmundig verspricht, dass dieses wie andere Vorhaben mehr, für die 150 Billionen Lire (rund 150 Millionen Mark) ausgegeben werden sollen, "zu Beginn des dritten Jahrtausends" längst vollendet ist.

Bologna - In fleischigen Rundungen

Der Besucher der Europäischen Kulturstadt Bologna muss sich also vorerst mit den schon vorhandenen Attraktionen begnügen, und deren gibt es sonder Zahl. Allein die Einrichtungen und diversen Sammlungen der Universität von Bologna, der ältesten unter den Hohen Schulen Europas, rechtfertigten einen Besuch der Stadt.

Zunächst das "Anatomische Theater", der Seziersaal im Palazzo dellArchiginnasio mit seinen an den vier Seiten des Raums aufsteigenden Bankreihen, von denen die Studenten die Sektion des auf dem Marmortisch in der Mitte des Raums liegenden Leichnams verfolgen konnten.

Lebensechte Wachsmodell in den anatomischen Sammlungen

Über dem Katheder des Anatomieprofessors an der Stirnseite des Raums wölbt sich ein Baldachin, der von zwei holzgeschnitzten, lebensgroßen écorchés, anatomischen Modellen männlichen Geschlechts, getragen wird, denen die Haut abgezogen wurde, um das Zusammenspiel der Bänder und Muskeln zu zeigen. Möglich, dass diese beiden grausen, faszinierenden "Muskelmänner", 1734 von Silvestro Gianotti geschaffen, den Heidelberger Anatomen Gunter von Hagens zu seinen umstrittenen "Plastinaten" menschlicher Körper angeregt haben, die in der Ausstellung "Körperwelten" zu sehen sind.

Wer bei einer Besichtigung dieses Anatomiesaals seinen Sinn für das Makabre entdeckte, der wird in den berühmten anatomischen Sammlungen der Universitätsmuseen unschwer auf seine Kosten kommen. Lebensechte Wachsmodelle, die alle Organe des menschlichen Körpers und ihre Funktionen abbilden, sind hier ebenso zu sehen, wie Embryonen in allen Stadien und Lagen ihrer Entwicklung im Mutterleib.

Wer jedoch die Konfrontation mit soviel Lebensechtheit scheut, dem sei ein Besuch in der ebenfalls im Universitätsviertel gelegenen Kunstakademie von Bologna, der auch heute noch angesehensten Institution ihrer Art in Italien, geraten. Gleich nach dem Eingang zur Linken tritt man in den herrlich proportionierten neoklassizistischen Hauptvorlesungssaal der Akademie, in dem allerhand Gipsabgüsse bedeutender antiker Figurengruppen aufgestellt sind, deren pädagogischer Hintersinn es vermutlich war und vielleicht noch ist, die Studenten mit dem Widerschein des Guten, Wahren und Schönen vertraut zu machen.

Stadt der Künste

Unmittelbar neben der Kunstakademie ist die Pinacoteca Nazionale gelegen, eine Gemäldegalerie, die alle jene Bilderschätze birgt aus Kirchen und Klöstern, die während der Okkupation der Emilia Romagna durch Truppen der Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts profaniert oder aufgelöst wurden. Die Pinacoteca versammelt eine repräsentative Schau aller jener Maler-Talente, denen Bologna nicht zum wenigsten seinen Ruhm und Ruf als Stadt der Künste verdankt.

Für die Gültigkeit dieser Tradition Bolognas in der Gegenwart steht die 1975 eröffnete Galleria dArte Moderna, eine der wenigen öffentlichen Sammlungen moderner und zeitgenössischer Kunst in Italien. Was den Fremden beim Besuch dieser Galleria irritiert, ist, dass sie weit außerhalb des kulturgesättigten Stadtzentrums, jenseits der Bahngeleise - Bologna ist der Eisenbahnknotenpunkt Italiens - neben dem Haupteingang der Fiera di Bologna, dem Messegelände, gelegen ist.

Bologna - In fleischigen Rundungen

Darauf angesprochen, verweist Danilo Eccher, Leiter dieses Instituts, darauf, dass im historischen Kern der Stadt kein für Ausstellungszwecke zeitgenössischer Kunst geeigneter Bau zu finden gewesen sei. Allerdings hoffe er, binnen weniger Jahre im centro storico Räume für eine Dependance zu finden.

Eccher hat sich kompromisslos der zeitgenössischen Kunst verschrieben, ein Programm, das ihn, wie seinen vorsichtigen Äußerungen zu entnehmen ist, in gewisse Konflikte mit der Stadtregierung bringt, die im einst "roten" Bologna seit zwei Jahren von einer Mitte-Rechts Koalition gebildet wird.

Erzrivalin Florenz

Für Ecchers Konzept haben viele, die jetzt politisch das Sagen haben, keinerlei Verständnis. Sie favorisieren dagegen lokale Künstler, von denen nicht wenige in der sklavischen Nachfolge Giorgio Morandis stehen, dessen anämisches Oeuvre, das ein Künstlerleben lang kaum ein anderes Sujet als leere Flaschen zu kennen schien, in einer eigenen Galerie im Rathaus an der Piazza Maggiore gezeigt wird.

Morandis protestantisch-sinnenfeindlich anmutendes Werk steht überdies in einem eklatanten Gegensatz zur prallen Sinnlichkeit, die nicht nur die ältere Bologneser Kunst auszeichnet, sondern die das Merkmal der Stadt schlechthin ist, von der der Schriftsteller Guido Piovene mit Recht sagen konnte, im Gegensatz zur Erzrivalin Florenz, wo alles "mager" sei, ließen in Bologna "Bögen, Laubengänge, Kuppeln und alles an fleischige Rundungen denken".

Wem dieser Vergleich nicht spontan einleuchtet, der muss nur mit offenen Augen durch die Via Caprarie oder die Via delle Tofane gehen. In den Geschäften rechts und links finden sich Parmaschinken, Parmesankäse oder die Bologneser Köstlichkeit schlechthin, mächtige Mortadella-Würste, zu wahren Gebirgen derart verlockend aufgetürmt, dass selbst ein überzeugter Vegetarier oder Magersüchtiger sofort anderen Sinnes oder von seinem Leiden erlöst werden würde.

Zehren von der Substanz

Aus dem Stadtbild indes verschwunden ist die Hunderasse der Bologneser. In Alfred Kerrs Tagebuch, der 1921 hier weilte, findet sich dazu ein Eintrag, der Schlimmes ahnen läßt: "Gestern sah ich hier das berühmte bolognesische Hündchen, aus dem die Mortadella gemacht wird. Es war ein gewaltiger Eindruck. "

Die Wahl Bolognas zur "Europäischen Kulturstadt 2000" wird, das kann man schon jetzt getrost prognostizieren, in dieser Stadt keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Das ist auch gut so, denn diese Stadt zehrt von einer kulturellen Substanz, die so fett und nahrhaft ist wie die Mortadella, die im übrigen, empörten Gemütern sei es vorsichtshalber verraten, aus Schweinefleisch hergestellt wird.

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