Kulturgeschichte:Touristen sind immer die anderen

Selfie takers at the Garganta del Diablo Devil s Throat Iguazu Falls UNESCO World Heritage Site

"Uns ist die Neugier vergangen", klagt Marco d'Eramo. Wirklich? Auch diesen Touristen an den Iguazú-Wasserfällen?

(Foto: Robert Harding/imago)

Wir möchten nicht allein sein, wenn wir reisen. Wir möchten, dass alle erfahren, wo wir waren. Der italienische Historiker Marco d'Eramo besichtigt das touristische Zeitalter.

Von Valentin Groebner

Das elegante Hotel in Portugal war frisch eröffnet, ganz in Weiß mit Palmen, Pool und idyllischer Lage am Rand der Altstadt." Aber "Travelline-1" aus Stuttgart ließ sich nicht täuschen. "Wir wurden freundlich und professionell empfangen", schrieb sie auf Tripadvisor. "Alles sehr stylisch, sauber und neu." Die Kellner seien nett und pfiffig und das Essen sehr gut, aber nach einigen Tagen habe sie bemerkt, wie oberflächlich es in diesem Hotel zugehe. "Jede echte Herzlichkeit fehlt." Schlimmer noch, weiß die Schwäbin: "Im Endeffekt geht es nur ums Geld."

Der Tourist ist schockiert. Keine echten Gefühle, nur Kommerz? Der Tourist ist gierig. Wie, kein Zutritt für Besucher? Der Tourist will alles sehen und alles anfassen, vor allem das Authentische von früher, deswegen ist er ja gekommen; aber wehe, Klimaanlage und Wlan machen Mucken. Tourismus, die drittgrößte Dienstleistungsindustrie des Planeten, beruht darauf, dass sie jedem einzelnen ihrer Kunden verspricht, dass sie keine sei. Und Portugal wird - wie Frankreich, Griechenland und viele andere Länder - jährlich von mehr Menschen bereist, als es selbst Einwohner hat.

Der Betrieb ist verlogen, zerstörerisch und oberflächlich, aber fast alle wollen mehr davon

Es sind diese Paradoxa, denen der italienische Journalist und Historiker Marco d'Eramo seine "Welt im Selfie" widmet. Stadtviertel und pittoreske Dörfer, die sich - samt Bewohnern - in Menschenzoos für zahlungskräftige Besucher verwandeln; uralte Kulturstätten, die zu fotogenen Sehenswürdigkeiten umgebaut werden; einzigartige Wahrzeichen, die sich als ihre eigenen Kopien endlos vervielfältigen: Klingt alles sehr modern, gehört aber seit gut 150 Jahren zur Ausstattung des "touristischen Zeitalters", das d'Eramo besichtigt.

Mark Twain hat sich schon 1867 in "Innocents Abroad", dem Bericht seiner Europareise - Paris, Venedig, Athen, plus Abstecher ins Heilige Land und zu den Pyramiden - über die Verwandlung der Welt in Sehenswürdigkeiten lustig gemacht. Ein Jahr später schrieb ein anderer Publizist, die "Reisemanie" habe so weit um sich gegriffen, dass die Hälfte der Erdbevölkerung - "oder zumindest des zivilisierten Teils derselben" - ständig auf Reisen sei.

Ebenso alt ist das intensive Mitteilungsbedürfnis derjenigen, die als Touristen unterwegs sind. Wir möchten nicht nur nicht allein sein, wenn wir reisen; wir möchten auch, dass alle erfahren, wo wir waren - früher per Ansichtskarte, jetzt via Smartphone.

Der Tourismus, hat Enzensberger 1958 geschrieben, sei jene Industrie, deren Produkte mit ihrer Reklame identisch seien. Ihre Konsumenten seien zugleich ihre Angestellten. Und ihre Kritiker - denn zusammen mit dem Tourismus kam auch der Überdruss und Selbsthass der Reisenden in die Welt, wie Marco d'Eramo eindrucksvoll zeigt. John Ruskin hatte schon 1857 über die Zerstörung der Städte und Landschaften durch ihre enthusiastischen Besucher geklagt; Stendhal noch einmal vierzig Jahre früher über die Engländer und Russen in Florenz, die die Stadt zu einem "Museum voller Ausländer" machten.

Seither gehört zum Touristen die feste Überzeugung, dass er selbst weniger Tourist sei als jene anderen im Freizeitoutfit, denen er am Ziel seiner Wünsche begegnet.

Gleichzeitig ist nichts so anziehend für Besucher wie andere Besucher. Die Kleinstadt Lijiang in der chinesischen Provinz Yunnan wurde 1997 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt. Im Jahr zuvor war sie von einem Erdbeben zerstört worden, und gleichzeitig mit dem Wiederaufbau setzte eine rasante touristische Entwicklung ein. Bereits 1998 wurde die komplett wiederaufgebaute Altstadt von 1,7 Millionen Menschen besucht; 2013 waren es 20,8 Millionen. Die Altstadt von Lijiang sei so populär, schreibt ein aktueller Reiseführer dazu todernst, dass sie von Jahr zu Jahr größer werde, um noch mehr Besucher aufnehmen zu können.

Reisen ist der Traum vom Entkommen

Tourismus ist eine selbstverstärkende Rückkopplungsschleife. Viele Touristen ziehen noch mehr Touristen an, und das authentisch Historische wird dadurch, dass es touristisch genutzt wird, nicht weniger, sondern mehr. Die von der Unesco ausgewählten Stätten des Weltkulturerbes verwandeln sich so rasant in Touristenattraktionen, dass die Unesco 2008 von der World Tourism Organisation den Preis zur Förderung des Tourismus erhielt. Dass das echte Alte auszuzeichnen, in der Praxis bedeutet, ihm endgültig den Garaus zu machen - oder genauer, es durch ein touristisch genutztes Remake seiner selbst zu ersetzen - gehört ebenfalls dazu.

Um die Paradoxa dieser künstlichen Welten zu beschreiben, faltet Marco d'Eramo in seinem Buch ein ganzes Panorama der verschiedenen Theorien des Tourismus auf. Sie lassen ihn aber im Stich, wenn es um die unaufhörlich weiter wachsenden Zuwachsraten der "Fremdenindustrie" geht, wie sie im 19. Jahrhundert so treffend geheißen hat. Wenn der Betrieb so verlogen, zerstörerisch und oberflächlich ist, wieso wünschen sich alle immer noch mehr davon, und zwar gleich in den nächsten Ferien?

Der Flüchtling ist der angsteinflößende Doppelgänger jedes Urlaubers

Bevor Mark Twain sich 1867 auf seine Reise nach Europa und ins Heilige Land begeben hatte, war er kreuz und quer durch Amerika gereist. Zehn Jahre später brach er erneut auf, diesmal nach Deutschland und in die Schweiz. Gegen Enttäuschungen im Urlaub helfen nur noch weitere, exotischere, intensivere Reisen. Wie kann man diesen unkaputtbaren Wunsch nach mehr vom Künstlichen im Namen der Sehnsucht nach dem Echten beschreiben?

Da hilft nur Dialektik, hoch dosiert. Entfremdung, schreibt Marco d'Eramo, sei offensichtlich etwas, was wir uns wünschen. "Wenn wir sie uns aussuchen können, soll uns die Entfremdung recht sein."

Blick ins Buch

Sein Buch ist dort am beeindruckendsten, wo es historische Parallelen zu jenen Phänomenen präsentiert, die uns im 21. Jahrhundert besonders brandaktuell und typisch für unsere Epoche vorkommen. In den späteren Kapiteln mischen sich darin allerdings zunehmend kulturpessimistische Töne. "Uns ist die Neugier vergangen", klagt er und diagnostiziert unwiederbringliche Zerstörung und Verlust, ganz wie John Ruskin: "Berühren, ohne zusammenzukommen; sehen, ohne wahrzunehmen."

Sind die Selfies vor Sehenswürdigkeiten und die vielen Millionen Einträge auf Tripadvisor wirklich Zeichen moderner "Selbstunsicherheit", wie er traurig konstatiert? Oder ironisches Genießen der eigenen Entfremdung?

Tourismus inszeniert imaginäre Autonomie und geträumte Zugehörigkeit zur Oberschicht - bis man dann feststellt, dass man sich diese Art von Eleganz und Fassade doch nicht gewünscht hat, wie die enttäuschte Schwäbin im schicken Hotel in Portugal. An der Sehnsucht danach, auf Reisen das Authentische und Ursprüngliche zu finden, aber bitte mit echter deutscher Herzlichkeit serviert, ändert das natürlich nichts.

Reisen ist offensichtlich unser Traum vom Entkommen. Weil wir uns aus dem, was uns festhält, selbst nicht herauslösen können, soll die Urlaubsreise uns verwandeln. Tut sie aber nicht.

Deswegen geistert durch alle gelehrten Texte über Tourismus ein Gespenst, wie Marco d'Eramo am Schluss bemerkt. Es ist der Migrant. Denn der Flüchtling bekommt gezwungenermaßen das, was die Touristen sich so sehnsüchtig wie erfolglos wünschen, nämlich ein anderes Leben. Er ist deswegen der angsteinflößende Doppelgänger jedes Urlaubers. Damit Ortswechsel etwas verändern, müssen sie unfreiwillig sein. Alles andere ist Selbsttäuschung, Maulen unter Palmen oder Pose für die anderen daheim - per Ansichtskarte, Fotoapparat und Smartphone.

Marco d'Eramo: Die Welt im Selfie. Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters. Aus dem Italienischen von Martina Kempter. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 362 Seiten, 26 Euro.

Valentin Groebner lehrt Geschichte an der Universität Luzern. Im Herbst erscheint sein Buch "Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen".

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