Ghetto von Venedig:Die Gassen des Kaufmanns

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  • Das erste Ghetto entstand vor 500 Jahren in Venedig.
  • Im "Ghetto Nuovo" fanden Juden von der Iberischen Halbinsel und aus dem Osmanischen Reich Zuflucht.
  • Auch heute noch lässt sich in dem Viertel die jüdische Vergangenheit erkennen.

Von Thomas Steinfeld

Vor 500 Jahren, im März 1516, beschloss der Senat der Republik Venedig, die zuvor in kleinen Gemeinden und an verstreuten Stellen innerhalb der Stadt lebenden Juden in nur einer Siedlung leben zu lassen, getrennt vom Rest der Bevölkerung, geschützt und beaufsichtigt zugleich. Zum Ort dieser Siedlung wurde eine Insel an der Peripherie des Gemeinwesens gewählt, eine ärmliche Gegend dort, wo es hinausging in die nordöstliche Lagune.

"Ghetto Nuovo" war der Name dieser Insel, deren Fläche nicht mehr als einen Hektar umfasst, wobei die Herkunft des Wortes unklar ist - vielleicht leitet es sich von einer Eisengießerei ab, die dort, der Brandgefahr wegen, angesiedelt war, vielleicht auch von einem Dialektwort für "Gasse". Mit der Ortsbezeichnung indessen wurden eine Institution und ein Begriff geschaffen: für eine nicht nach geografischen, sondern nach religiösen Kriterien isolierte Gemeinschaft, die in einem eingegrenzten, bewachten Areal innerhalb einer Stadt leben muss - und sich darin in gewissem Maße selbst organisiert.

Etwa 700 Juden sollen 1516 ins Ghetto gezogen sein. Zwanzig Jahre später waren es schon doppelt, hundert Jahre später fünfmal so viele. Deswegen wurden bald zwei Nachbarinseln dem Ghetto zugeschlagen, "Ghetto Vecchio" und "Ghetto Nuovissimo" genannt.

Heute noch sind die jüdische Geschichte und Tradition gegenwärtig

Das Ghetto in Venedig ist erhalten, in großen Teilen zumindest. Es hat seinen Ort nicht verlassen und befindet sich trotzdem, weil jetzt in der Nähe des Bahnhofs gelegen, in der Mitte der Stadt. Zwar leben hier nicht mehr viele Juden, seit Napoleon nach der Besetzung Venedigs im Jahr 1797 die Tore des Ghettos hatte niederreißen und verbrennen lassen. Doch sind die jüdische Geschichte und Tradition gegenwärtig: in den hohen, schmalen Wohnhäusern, den höchsten in Venedig, die auf verschachtelte Weise in den Himmel getrieben wurden, weil zu viele Menschen im Ghetto leben mussten, in den fünf großen Synagogen, die, von außen kaum sichtbar, den einzelnen "Nationen" (der "deutschen", der "italienischen", der "levantinischen") als Kultstätten dienten, in einem neu hergerichteten Museum, das anschaulich werden lässt, was jüdisches Leben im Venedig des 16. Jahrhunderts - und später - bedeutete.

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Es gibt koschere Restaurants, eine ebensolche Bäckerei, ein Informationszentrum und einige orthodoxe Juden, die eine Variante ihrer Religionsgemeinschaft vertreten, die erst in den Achtzigern aus den Vereinigten Staaten hierherkam. Aber weil sie für viele Besucher die Erwartungen an diesen Ort verkörpern, werden sie oft für Repräsentanten des Ghettos gehalten. Als kulturelles Zentrum des venezianischen Judentums hat das ehemalige Ghetto jedoch nie aufgehört zu bestehen.

Das Wort "Ghetto" wiegt schwer. Der Holocaust lastet auf ihm und auch das amerikanische "Ghetto" - das sich indes vom jüdischen Ghetto dadurch unterscheidet, dass es nicht durch politischen Zwang entsteht, sondern aus dem wirtschaftlichen Elend einer Bevölkerungsgruppe, für die es keine Verwendung zu geben scheint.

Das venezianische Ghetto war etwas anderes: Asyl für Juden von der Iberischen Halbinsel, nachdem Spanien im Jahr 1492 begonnen hatte, Juden auszuweisen, die nicht zum Christentum konvertieren wollten; Rückzugsort für Juden vom venezianischen Festland, die vor den Armeen der Franzosen, des Kaisers und des Papstes flohen, die sich im Dezember 1508 gegen Venedig zusammengeschlossen hatten; neue Heimstatt für Glaubensgenossen, die aus dem Osmanischen Reich kamen (die Osmanen hatten den Venezianern wohl das Modell für einen liberaleren Umgang mit jüdischen Händlern geliefert).

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Der Handelsstaat Venedig nahm sie auf und schützte sie vor Verfolgungen, weil er Pfandleiher und Ärzte, Geldverleiher, Trödler und Kesselflicker ebenso brauchen konnte wie ihre weitreichenden Handelsnetze, und weil sie Kapital, aber auch Gelehrsamkeit mitbrachten. Sie trieben die humanistischen Wissenschaften voran, und mit ihnen wurde Venedig zu einem europäischen Zentrum des Druckwesens.

Selbstverwaltung - aber unter Aufsicht

So betrachtet, ist ein Ghetto eine stets prekäre Verbindung von innen und außen, von Trennung und Gemeinschaft, von Gefängnis und "gated community". Die Republik gestattete dem Ghetto dabei ein erhebliches Maß an Selbstverwaltung, an eigenen Lebens- und Rechtsformen und ging mit ihnen nicht sehr viel anders um als mit den Kaufleuten aus dem Norden (den "Deutschen", die vor allem aus Augsburg, Nürnberg und Regensburg kamen), aus Griechenland oder dem Osmanischen Reich (den "Türken"), die alle an ihre Niederlassungen gebunden waren und diese zumindest nachts nicht verlassen durften.

Darüber hinaus aber wurden die Juden beaufsichtigt, auch in ihren täglichen Verrichtungen, sie musste eigene, hohe Steuern und immer wieder Zwangsabgaben zahlen. Und zumindest in den ersten zwei Jahrhunderten kann das Ghetto den dort Lebenden nie als sichere Heimstatt erschienen sein - um dann, in den letzten Jahren des Faschismus, wieder zu einem Ort der Gefahr zu werden: Pogrome der Venezianer gegen die jüdische Bevölkerung gab es zwar nie, aber gegen Ende des Krieges wurden zweihundert venezianische Juden nach Auschwitz deportiert. Nur eine Handvoll von ihnen kehrte zurück.

Die bekannteste Figur dieses Ghettos ist eine Erfindung: Shylock, der Geldverleiher aus William Shakespeares Drama "Der Kaufmann von Venedig". Das Drama, in den letzten Jahren des 16. Jahrhunderts entstanden, spiegelt nicht nur die Bedeutung, die das Ghetto dieser Stadt in den Jahrzehnten zuvor für ganz Europa angenommen hatte. Es stellt nicht nur eine Reflexion auf die europäische Großmacht Venedig und ihre berühmte Enklave dar, sondern ist auch ein Gedankenexperiment zur Rolle des Geldes in einer der damals modernsten Gesellschaften der Welt.

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Shylock will Menschenfleisch in ein Zahlungsmittel verwandeln, aber er ist damit nicht allein: Den drei Kandidaten für eine Ehe mit der schönen Portia erscheint die junge Frau als "Goldenes Vlies", die Bewerbung Bassanios um Portias Hand ist mit Antonios risikoreichen Handelsgeschäften auf den Weltmeeren verknüpft. Und das durch Shylock verkörperte Kreditwesen lässt sich ebenso wenig aus Venedig entfernen, wie man ein Pfund Fleisch aus einem Menschen schneiden kann, ohne ihn dabei zu töten. Shylock hat nie gelebt, schon gar nicht in Venedig. Aber das Drama ist eine Parabel auf den frühen Finanzkapitalismus, in dem der Geldverleiher und seine Stadt als Pioniere einer neuen Weltordnung auftreten.

Bald spielen sie Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig"

Das Ghetto ist, an venezianischen Verhältnissen gemessen, ein ruhiges Viertel. Ihm gilt in der einheimischen Bevölkerung, zumal unter den Gebildeten, mittlerweile eine sentimentale Affinität. Wäre es nicht gut, hieß es vor Kurzem bei einer Veranstaltung zur Zukunft eines der beliebtesten Reiseziele der Welt, wenn ganz Venedig etwas von einem Ghetto bekäme: Wenn darin wieder eine kosmopolitische Gemeinschaft lebte, die zuallererst für ihr Fortleben arbeitete und nicht beeinträchtigt würde von Millionen Touristen, die dieses Gemeinwesen von allen Seiten durchlöchern?

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Der Gedanke hat etwas Frivoles, aber man versteht, aus welcher Not er kommt. Doch kaum ausgesprochen, kehrt er sich schon wieder um: Von Mitte Juni bis November wird im Dogenpalast eine Ausstellung zum Judentum in Venedig zu sehen sein, für die Besucher aus aller Welt. Und im Juli wird Shylock in seine imaginäre Heimat einziehen, in Gestalt einer Inszenierung des "Kaufmanns von Venedig" auf dem Campo des "Ghetto Nuovo", in englischer Sprache.

Das Judentum hat zwar keine theatralische Tradition. Aber die Stadt Venedig lebt von ihrer Geschichte, und dafür bürgen zwei Instanzen: die Bauten und die Rezeption. Um beides gewinnbringend miteinander zu verknüpfen, wird der "Kaufmann von Venedig" nun an dem Ort aufgeführt, an dem die Geschichte sich hätte zutragen sollen.

© SZ vom 08.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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