Süddeutsche Zeitung

Kritik an berühmten Extrem-Bergsteigern:Geteert und gefedert

Bohrhaken, Flaschensauerstoff, vielleicht sogar Träger? Da hört im Alpinismus der Spaß auf. Immer öfter wird darüber diskutiert, ob berühmte Bergsteiger wie Hans Kammerlander oder Oh Eun-sun tatsächlich den Gipfel erreicht haben - und wie sie dorthin kamen. Manche Kritiker schießen dabei über das Ziel hinaus

Dominik Prantl

Vor kurzem war der Extrembergsteiger Hans Kammerlander wieder einmal ausführlich in den Medien. Dabei ist er nicht etwa den Mount Everest mit Skiern abgefahren oder hat die vier Grate des Matterhorns in 24 Stunden erklettert - so etwas macht der 55 Jahre alte Südtiroler nicht mehr. Stattdessen ging es um ein zwei Jahre altes Foto vom Gipfel des Mount Logan, den mit 5959 Metern zweithöchsten Berg Nordamerikas.

Auf dem Bild ist Kammerlander zu sehen, wie er auf einem Gipfel posiert. Der Hauptgipfel - davon ging man bislang aus. Doch in Internet-Foren wird das Foto heftig diskutiert und der Verdacht geäußert, dass Kammerlander auf dem 34 Meter niedriger gelegenen Westgipfel zu sehen ist. Dann wäre seine Behauptung, er habe als Erster die Seven Second Summits, die zweithöchsten Berge aller Kontinente, bestiegen, Betrug.

Der Streit um das Kammerlander-Foto ist kein Einzelfall. Immer häufiger produziert der Alpinismus Schlagzeilen weniger durch herausragende Leistungen als durch Debatten darüber, wie und ob diese Leistung erbracht wurde. Christian Stangl manövrierte sich 2010 ins Abseits, nachdem er die Fälschung eines Gipfelbildes am 8611 Meter hohen K2 einräumen musste.

Der Status der Südkoreanerin Oh Eun-sun als Erstbesteigerin aller Achttausender wird wegen eines widersprüchlichen Beweisfotos nicht nur in der Fachwelt angezweifelt. Zudem erinnert die Art, wie sie Gipfelerfolge erringen will - mit Hilfe von Trägern, Fixseilen und Flaschensauerstoff - sehr an den als überholt geltenden Expeditionsstil.

Kletterer sehen sich häufig mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie das Prinzip "by fair means" nicht beachten, also den Verzicht auf möglichst alle technischen Hilfsmittel. Selbst Gerlinde Kaltenbrunner, die den Ruf einer so exzellenten wie ehrenhaften Bergsteigerin genießt, wurde im vergangenen Jahr von Reinhold Messner via Spiegel aufgeklärt, dass sie ihre Achttausender nicht im astreinen Alpinstil bestiegen habe.

Alpinstil, Bohrhaken, Flaschensauerstoff, by fair means - diese Vokabeln sind der rhetorische Baukasten für das, was im Alpinismus als Ethik bezeichnet wird. Bei diesen Vokabeln hört der Spaß auf.

Man sollte als Außenstehender keinesfalls unterschätzen, mit welcher Verve manche Bergsteiger über Normen und Werte ihres Milieus diskutieren. Von "einer Art Ehrenkodex, der sämtliche Spielformen des Alpinismus umfasst", spricht der Kletterer und Expeditionsbergsteiger Stefan Glowacz. Seine Kollegin Ines Papert versteht unter Ethik im weiteren Sinne "möglichst wenig Material und das Nutzen natürlicher Strukturen am Fels".

Für den Höhenbergsteiger Ralf Dujmovits, Kaltenbrunners Ehemann, ist entscheidend, "die Fakten einer Besteigung ganz klar herauszustellen und nichts zu beschönigen". Kurz: Ethik heißt größtmöglicher Verzicht und absolute Transparenz. Es geht um Glaubwürdigkeit und die Frage nach der Wahl der Mittel.

Dabei haben sich mit den Jahrzehnten auch die Ansprüche geändert, oder wie der 50-jährige Dujmovits sagt: "Der ethische Aspekt ist immer im Fluss." Reichte es Edmund Hillary 1953, einfach nur nachweislich den Gipfel des Mount Everest zu erreichen, egal wie, schrieben Reinhold Messner und Peter Habeler 25 Jahre später Alpingeschichte, indem sie dies ohne künstlichen Sauerstoff schafften. Heute reicht das Hochkommen allein nicht mehr aus.

Es wird darauf geachtet, wer in welchem Stil an welcher Route mit wie vielen Begleitern wie schnell unterwegs ist. Tatsächlich macht es ja auch einen Unterschied, ob man einen Marathon mit fünf Versorgungsstationen und auf Rollschuhen läuft oder in Turnschuhen und mit der Verpflegung im Rucksack.

Und während die Suche nach neuen Berg-Abenteuern immer mehr Kreativität erfordert, registriert Dujmovits noch eine andere Entwicklung: "Der Wettstreit ist in den vergangenen 20 Jahren durch die Kommerzialisierung stärker geworden. Jeder versucht, sich als Marke zu positionieren." Kammerlander verkauft seine Besteigungen in Büchern und Vorträgen - genauso wie Christian Stangl, der ebenfalls alle Seven Second Summits im Visier hat und damit gewissermaßen als Konkurrent auftritt.

Glowacz glaubt, dass vor allem jene, die sich auf dem Sprung zum Profidasein befinden, es mit den ethischen Ansprüchen teilweise nicht mehr zu genau nehmen. "Da geht es darum, einen Kracher zu bringen", sagt Glowacz.

Nur: Schiedsrichter oder Punktrichter gibt es im Bergsteigen ebenso wenig wie Regelwerk oder Ethikkommission. Stattdessen urteilen und kontrollieren sich die Akteure selbst, was auch ohne rote Karten und Elfmeter meist erstaunlich gut funktioniert. Einer, der so eindeutig gegen die einfachsten Grundsätze verstößt wie Stangl, wird vom Kollektiv geächtet; "geteert und gefedert", wie Glowacz sagt. Manche schießen dabei über das Ziel hinaus.

Erst im Januar gerierten sich der US-Amerikaner Hayden Kennedy und der Kanadier Jason Kruk, beide Anfang 20, als Scharfrichter des Alpinismus. Am Cerro Torre, einem gewaltigen, 3128 Meter hohen Granitberg in Patagonien, schlugen Kruk und Kennedy beim Abstieg etwa 125 Bohrhaken aus der Kompressorroute. Diese geht noch auf den Erstbegeher Cesare Maestri zurück, der bei seiner Besteigung 1970 mit Hilfe einer kompressorbetriebenen Bohrmaschine 350 Bohrhaken als Aufstiegshilfe in den teils senkrechten Fels getrieben hatte.

Obwohl die Route deshalb als einer der größten Sündenfälle des Alpinismus gilt, nutzten Generationen von Bergsteigern diesen relativ sicheren Weg auf den Cerro Torre. Kruk und Kennedy, die Maestris Werk in einem Schreiben auf der Internetplattform alpinist.com mit Worten wie "Gewalttat" und "Vergewaltigung" geißeln, als handele es sich um ein Schwerverbrechen, waren der Meinung, dass eine neue Ära beginnen müsse.

Nach der Bohrhaken-Aktion wurden sie mehrere Stunden lang von der Provinzpolizei festgehalten. Viel länger dauerte der Nachhall in den internationalen Bergsteigerforen an, wo sich ein wahrer Glaubenskrieg entzündete. Für einen kleinen Zirkel von Puristen waren Kruk und Kennedy Helden.

Die Mehrheit vertrat eine andere Auffassung: Die Seilschaft hätte selbst gegen das Prinzip verstoßen, dass der Charakter einer Route nach der Erstbegehung nicht mehr verändert werden soll. Durch den Hochmut der beiden sei ein Stück Alpingeschichte zerstört worden. Besonders kritische Beobachter weisen ferner darauf hin, dass Kruk und Kennedy von einigen der Bohrhaken profitierten, indem sie daran Stand machten und viele weitere bei einen Notfall wohl verwendet hätten. Diese Sicherheits-Reserve an Haken bedeutet eine psychologische Stütze - und fehlt anderen nun.

Andererseits wurde noch niemand gezwungen, die Haken in der Wand zu verwenden. Der 21-jährige Österreicher David Lama beispielsweise durchstieg die Kompressorroute mitsamt der lange als unmöglich geltenden "Headwall" unmittelbar nach der Aktion von Kruk und Kennedy komplett frei. Das heißt, er benutzte alleine den Felsen zur Fortbewegung. Technische Hilfsmittel dienten ihm nur zur Absicherung vor einem tödlichen Sturz; Bohrhaken setzte er keinen einzigen.

Wie schnell die Stimmung kippen kann, hat aber auch Lama vor zwei Jahren zu spüren bekommen. Als er sich damals erstmals an den Cerro Torre wagte, ebenfalls mit dem Ziel, ohne technische Hilfsmittel zu klettern, aber unterstützt von einen namhaften Sponsor, der gleich noch ein Kamerateam finanzierte, wetterte die Szene: So geht das doch nicht! Lama sagt heute: "Die Kritik war berechtigt. Aber ich habe lange gebraucht, um die Grundwerte für mich neu zu definieren."

Dass da ein junger Aufsteiger eine Sache probierte, für die vielen Arrivierten Geldgeber wie Fähigkeiten fehlen, war nicht ganz nebensächlich. Nachdem Lama sein Projekt im Sinne der Ankläger und ohne mediales Brimborium verwirklicht hatte, raunte die Szene anerkennend: Das ist historisch!

Was den Fall Kammerlander betrifft, geht es hier weniger um Ethik, Betrug oder Stilfragen, sondern wohl eher um Schlamperei. Er gilt als altmodischer, unbekümmerter, aber korrekter Bergsteiger. Ines Papert nennt die Vorwürfe "an den Haaren herbeigezogen". Kammerlander sagt, er kenne die Richtung, aus der die Zweifel gestreut wurden.

In einer Stellungnahme kündigte der Südtiroler außerdem an, demnächst noch einmal den Mount Logan zu besuchen. Er will prüfen, ob er und sein Kollege Konrad Auer einen Fehler begangen haben.

Den höchsten Punkt am 8,5 Kilometer langen und mehrgipfligen Hochplateau des Mount Logan zu verpassen, ist für Profis ihres Formats zwar etwas peinlich. Dass Hans Kammerlander dafür jedoch so viel Aufmerksamkeit erhält, hat er eigentlich nicht verdient.

Stile beim Bergsteigen

Alpinstil: Gilt derzeit als Königsdisziplin und steht für die möglichst schnelle Besteigung eines Berges "wie in den Alpen": in kleinen Seilschaften, ohne Fixseile, vorbereite Lager, künstlichen Sauerstoff oder Trägerhilfe. Dies bedingt automatisch einen geringen Materialeinsatz. An manchen Achttausendern ist eine Besteigung über die eingetretenen und präparierten Normalrouten im Alpinstil nur noch schwer möglich.

Bohrhaken: Anders als mobile Sicherungsgeräte wie Klemmkeile und Felshaken werden Bohrhaken in dafür gebohrten Löchern im Fels fixiert. Dadurch lassen sich gute Absicherungen auch dort einrichten, wo dies sonst nicht oder kaum möglich wäre, zum Beispiel an glatten Felswänden. Sie machen das Klettern oft einfacher, da der psychische Anspruch einer Route sinkt. Eine maßvolle Verwendung wird häufig akzeptiert.

By fair means: Bedeutet den weitestmöglichen Verzicht auf technische Hilfsmittel wie Fixseile und Flaschensauerstoff.

Expeditionsstil: Eine Art Belagerungstaktik im Höhenbergsteigen mit gewaltigem materiellen und personellen Aufwand. Kennzeichnend sind Lastenträger, Hochlager, eingerichtete Fixseile, tonnenweise Ausrüstung und langsames Vortasten in Richtung Gipfel. Er wurde in den 1970ern langsam vom Alpinstil abgelöst und gilt heute als nicht mehr zeitgemäß.

Flaschensauerstoff: Bis Peter Habeler und Reinhold Messner den Mount Everest 1978 ohne Flaschensauerstoff bestiegen, waren viele Mediziner der Ansicht, dies sei wegen der dünnen Luft nicht ohne bleibende Schäden möglich. Heute gilt die Verwendung von Flaschensauerstoff unter professionellen Höhenbergsteigern als Doping.

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Quelle:
SZ vom 03.05.2012/kaeb
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